Einleitung in die Kritische Karlstadt-Gesamtausgabe (KGK), Teil I, Bd. 1 und 2

von Thomas Kaufmann

Der hier in zwei Teilbänden vorgelegte erste Teil (I) der Karlstadt-Gesamtausgabe (KGK) enthält 99 Editionseinheiten, die einen Zeitraum von zwölf Jahren (1507–1518) umspannen und die frühe Wittenberger Zeit des seit 1505 an der neu gegründeten Universität studierenden und lehrenden Andreas Rudolff Bodenstein, genannt Karlstadt, abdecken. Sie dokumentieren seine Lehrtätigkeit als philosophischer Dozent an der Artes-Fakultät, die Anfänge seines Wirkens an der Theologischen Fakultät und in seinen Stellungen als Archidiakon am Allerheiligenstift und Professor der Theologischen Fakultät zu Wittenberg, die dem Erwerb eines juristischen Doktorgrades dienende Romreise, die Hinwendung zum Humanismus und seine in der Auseinandersetzung mit Martin Luther vollzogene Öffnung gegenüber der antipelagianischen Gnadenlehre Augustins, die in einen Bruch mit seiner bisherigen theologischen Orientierung an der Scholastik einmünden sollte. Aufgrund dieser Überlieferungslage ist Karlstadt derjenige unter den Reformatoren, dessen intellektueller Werdeprozess innerhalb seiner Biographie am Weitesten zurückverfolgt und insbesondere hinsichtlich seiner scholastischen Prägungen differenziert analysiert werden kann.

Das hier zugänglich gemachte Material wird erstmals in einer kritischen Edition vorgelegt. Karlstadts Oeuvre unterlag spezifischen Überlieferungsbedingungen. Von zeitgenössischen Bemühungen um eine Sammlung seiner literarischen Hinterlassenschaft ist nichts bekannt. Dass keine der in der Reformationszeit entstandenen Kirchen und religiösen Gruppierungen den ehemaligen Kollegen Luthers als einen ihrer »Väter« empfand, hat zweifellos dazu beigetragen, dass alle seit dem 18. Jahrhundert unternommenen Versuche, sein Werk editorisch zu erschließen, gescheitert sind1. Eine gewisse Ausnahme stellt die mit 52 Stücken reichhaltigste Quellengruppe der Frühzeit, Karlstadts Briefwechsel mit dem kursächsischen Sekretär Georg Spalatin, dar (vgl. zur Überlieferungsgeschichte KGK 014). Ihr Erhalt dürfte im Kern auf eine Sammlung Spalatins selbst zurückgehen. Ansonsten ist Karlstadts Korrespondenz auch aus einigen seiner Schriften zu erschließen. Dass er ein deutlich umfänglicheres literarisches Oeuvre abgefasst hat und in vielfältigeren Korrespondenzbezügen vernetzt war, als wir heute wissen und zu dokumentieren imstande sind, ist evident. Der fragmentarische Charakter dieses Werkes spiegelt die einzigartige Lebensgeschichte eines Mannes, der früher als jeder andere öffentlich für Martin Luther Partei nahm, die »Wittenberger Theologie« gemeinsam mit diesem prominent nach außen wie nach innen vertrat und schließlich als Luthers »höchster feynd […] der lere halben«2 zum ersten Dissidenten und Glaubensexulanten der Wittenberger Reformation avancierte.

Die literarische Bühne seiner Zeit betrat Karlstadt als Wittenberger Dozent in der Philosophischen Fakultät im Jahre 1507, im Alter von 21 Jahren. Sein erstes Werk (KGK 001) zeigt ihn als engagierten thomistischen Lehrer, der darum bemüht ist, in der Intentionenlehre (der Lehre von den Begriffsbildungen) die »wahre« Stimme des großen Dominikanertheologen gegenüber seinen spätscholastischen Interpreten vernehmbar zu machen. Karlstadt baute Brücken zur scotistischen Tradition; Thomismus und Scotismus koexistierten in Wittenberg. Den Nominalismus aber lehnte er ab. Karlstadts Erstlingswerk lässt überdies Affinitäten zu dem sich bildenden Milieu der Humanisten erkennen. Nur vier Monate später folgte eine zweite, für die Lehre bestimmte scholastische Abhandlung (KGK 002). Ihr Thema war die logische Lehre von den Unterscheidungen. Karlstadt verbindet hier die scotistische Begriffskategorie der formalitas mit der thomistischen der distinctio und verfolgt somit seine Synthetisierungsstrategie der größeren Traditionen der via antiqua weiter. Die lateinischen Widmungsgedichte in beiden Werken dokumentieren, dass er in das mitteldeutsche Humanistenmilieu eingebunden ist.

Frühe verschollene Stücke (KGK 003 und KGK 004) aus den Jahren 1508/9 verdeutlichen, dass sich Karlstadt als junger scholastischer Lehrer frühzeitig hohe Reputation erworben hatte und auch deutlich über Wittenberg hinaus Kontakte zu gelehrten Humanisten unterhielt. Ein Lobgedicht auf Scheurl und Cranach (KGK 005) und ein mit diesem zusammenhängender Brief (KGK 006) führen vor Augen, dass Karlstadt engste Bindungen zu führenden Persönlichkeiten in kurfürstlichen Diensten und in der Universität Wittenberg unterhielt. Zugleich wird deutlich, dass der junge Kanoniker und Professor der Philosophie aufgrund seiner scholastischen Lehrwerke hohe Anerkennung erlangte. Karlstadts Lob der künstlerischen Fertigkeiten Lucas Cranachs, die humanistischer Topik entsprechend im Spiegel antiker Meisterschaft gesehen werden, dokumentiert seine Vertrautheit mit klassischen Stoffen, aber auch seine Beschäftigung mit hebräischer Literatur. Ein Widmungsbrief Christoph Scheurls, des zeitweilig führenden Exponenten des Humanismus in Wittenberg, führt Karlstadt und den Juristen Otto Beckmann einer breiteren »Öffentlichkeit« als wichtige Repräsentanten humanistischer Bildungsambitionen vor (KGK 007). In den frühen Jahren seiner akademischen Etablierung an der kursächsischen Universität galt Karlstadt als profund gelehrter, aufstrebender scholastischer Theologe und Philosoph, der dem Geist des Humanismus gegenüber aufgeschlossen war.

Der einige Jahre als Dozent der Humaniora in Wittenberg tätige Poet Georg Sibutus, den Karlstadt seit seiner Kölner Studienzeit kannte, bat ihn um ein Widmungsgedicht zu seinem umfangreichen Versepos über ein Turnier (KGK 008). Zu diesem Zeitpunkt (1511) gehörte Karlstadt unstrittig zu den wichtigsten Persönlichkeiten der Universität Wittenberg. Die enge, freundschaftliche Verbindung zu Scheurl setzte sich nach dessen Wechsel in seine Heimatstadt Nürnberg in brieflicher Form fort (KGK 009f.), so dass eine feste kommunikative Achse zwischen der fränkischen Metropole und der sächsischen Provinzuniversität und ihrem Theologieprofessor Karlstadt entstand (KGK 011), in die mittelbar auch Spalatin und Willibald Pirckheimer involviert waren.

Aufgrund einer sekundären Nachricht (KGK 012) kann als gesichert gelten, dass Karlstadt ein weitaus engagierterer Briefschreiber gewesen sein muss, als es aufgrund des faktischen Überlieferungsstandes dokumentiert ist. Die seit 1514 (KGK 013f.) in Bezug auf Karlstadts Anteil weitgehend erhaltene Korrespondenz mit Spalatin lässt deutlich erkennen, dass der Wittenberger Archidiakon für den kursächsischen Sekretär ein wichtiger Ratgeber in zahlreichen theologisch-religionspolitischen Fragen – etwa der Causa Reuchlini (KGK 014) – wurde. Karlstadts Korrespondenz mit Spalatin hat eine Parallele in dessen Kontakten zu Luther.

Interessante Einblicke in den Alltag des Allerheiligenstiftes vermittelt ein Konfliktfall des Jahres 1514/15, als Karlstadt wegen nicht geleisteter Mietzahlungen vom Kapitel verurteilt wurde und daraufhin unter Wahrnehmung dem Stift geltender spezifischer Privilegien an den Papst zu appellieren drohte (KGK 015KGK 018). Das Kapitel, das eine Appellation für nicht Rechtens hielt, bat daraufhin den Kurfürsten zu intervenieren. Seitens des Kapitels bestand die Befürchtung, Karlstadt könne sein Anliegen auch während einer Romreise weiterverfolgen. Die Akten lassen einen selbstbewussten, unbeugsamen Charakter erkennen. In dem Konflikt zwischen dem Kapitel und Karlstadt stellte sich der Kurfürst auf die Seite des Ersteren. Die von Karlstadt unternommene Romreise war mit dem vorherigen Konflikt verquickt; offenbar hatte er die Frage seiner Vertretung in den amtlichen Aufgaben nicht hinreichend geklärt. Das Kapitel sah in der Romreise eine Art Flucht Karlstadts.

In einem Lobgedicht auf den gelehrten Würzburger Arzt und Kanoniker von Horneck (1515; KGK 019) wird das für Karlstadt lange Zeit prägende Milieu seiner fränkischen Heimatdiözese, auf die er wohl auch Karriere- und Pfründenhoffnungen setzte, greifbar. Im Juni 1515 reichte Karlstadt bei der Universität Wittenberg ein Urlaubsgesuch ein (KGK 020); als Begründung führte er an, dass er mit seiner Romreise ein Gelübde einlösen wolle; über den Rektor war das Gesuch an den Kurfürsten gerichtet. Schwierigkeiten ergaben sich aufgrund der Befristung des Gesuches und des Argwohns des Akademischen Senats, Karlstadt könne die Romreise auch noch zu anderen Zwecken nutzen.

Wohl noch kurz vor der Abreise stellte Karlstadt in seiner Funktion als Archidiakon und Pfarrherr von Orlamünde einer nahe der Saalestadt gelegenen Pfarrei eine Urkunde über einen Vergleich bzgl. des Wiesenzehnten aus (KGK 021). In einem im November 1515 in Rom abgefassten Schreiben an den Kurfürsten (KGK 022) legte er dann seine Absicht dar, an der Sapienza ein Jurastudium zu absolvieren; er erbat die Fortzahlung seines Archidiakonengehalts und der Präsenzgelder in absentia, die wohl seitens des Kapitels des Allerheiligenstiftes bereits storniert worden waren. Von Rom aus leitete Karlstadt eine Vertretungsregelung ein. Doch der Augustinereremit Johann Hergot (KGK 023) scheint dies abgewiesen zu haben. Vor seiner Antwort an Karlstadt hatte Kurfürst Friedrich III. eine Stellungnahme des Kapitels des Allerheiligenstiftes eingeholt (KGK 024), die ihn zu einer Ablehnung des Gesuchs veranlasste. Wegen fehlender Vertretungsregelungen forderte der Kurfürst Karlstadt deshalb auf, umgehend nach Wittenberg zurück zu kehren. In einem weiteren Schreiben (KGK 025) verschärfte sich der Ton der kurfürstlichen Kanzlei; Karlstadt wurde nun, wohl nach Rücksprache mit dem Kapitel des Allerheiligenstiftes, ein Termin seiner Rückkehr gesetzt; andernfalls sei die Neubesetzung seiner Stelle vorgesehen.

Noch vor Beginn des Sommersemesters 1516 kehrte der inzwischen an der Kurie zum Doktor utriusque iuris promovierte Karlstadt nach Wittenberg zurück und traktierte, wie es scheint als erstes, vermutlich in einem Privatkolleg, die 13 verurteilten Thesen des Giovanni Pico della Mirandola (KGK 026). Dies verdeutlicht, dass Karlstadt entsprechende Anregungen aus Rom mitbrachte. Bald nach seiner Rückkehr wurde er in der kurfürstlichen Kanzlei in Torgau vorstellig und unterwarf sich der Jurisdiktion des Kurfürsten (KGK 027), um der seitens des Stiftskapitels angedrohten Bestrafung wegen der Überschreitung der Urlaubsfrist und des Versäumnisses seiner Residenzpflicht zu entgehen. Offenkundig standen bei dem Konflikt auch sehr konkrete finanzielle und Karlstadts zukünftige Karriere betreffende Fragen auf der Tagesordnung. Der Kurfürst stellte sich faktisch auf Karlstadt Seite; erst 1517/18 war der Konflikt definitiv ausgeräumt.

Dass Spalatin unter den Korrespondenzpartnern Karlstadts am weitaus besten dokumentiert ist, entspricht zum einen der engen Verbundenheit, zum anderen kontingenten überlieferungsgeschichtlichen Sachverhalten (s. Einleitung KGK 028). In der Korrespondenz mit Spalatin wird verschiedentlich (KGK 032, KGK 034, KGK 037) deutlich, dass Karlstadt auf unterschiedlichen Ebenen bemüht war, das Engagement der kursächsischen Administration zugunsten Reuchlins unter Einsatz von Kompetenzen, die er in Rom gesammelt hatte, zu unterstützen. Auch als Vermittler zwischen dem Hof und der städtischen Ökonomie, als Informant im Falle bedrohlich nahe kommender Einbrüche (KGK 047) oder als Gutachter fungierte er (KGK 044) aufgrund landesherrlicher Vermittlung (KGK 052, KGK 054) und wurde im Gegenzug mit Privilegien bedacht (KGK 046).

Alles spricht dafür, dass sich Karlstadt als heimlicher Parteigänger der hinter den Dunkelmännerbriefen stehenden Gruppe jüngerer Humanisten empfand. Offenbar lag ihm aber weiterhin daran, seine Beziehungen nach Rom zu intensivieren, für ihm dort widerfahrene Unterstützung zu danken und neue Verbindungen zu knüpfen (KGK 029KGK 031, KGK 033, KGK 034, KGK 038, KGK 045), was nicht zuletzt für den Versuch wichtig wurde, den römischen Reuchlin-Prozess zu beeinflussen. Nach Überlieferungslage war Spalatin Karlstadts engster Kommunikationspartner in allen intellektuellen, wissenschaftlichen und akademischen Fragen (KGK 035).

Spätestens in Rom entstand auch ein engerer Kontakt Karlstadts zu Ulrich von Hutten (KGK 036), dessen historische Tragweite angesichts der lückenhaften Quellen allerdings nicht angemessen einzuschätzen ist. En passant werden auf diesem Wege auch interessante Hinweise zur Postzustellung an Deutsche, die in der ewigen Stadt lebten, mitgeteilt (KGK 037). Karlstadts Korrespondenz mit Rom (KGK 038, KGK 041) dürfte in der ersten Zeit nach seiner Rückkehr außerordentlich lebhaft gewesen sein.

Gegenüber der kurfürstlichen Administration fungierte Karlstadt seit seiner juristischen Promotion offenbar auch als Rechtsberater (KGK 039, KGK 040, KGK 042, KGK 043), etwa bezüglich des vornehmsten Stiftskanonikats: der Propstei. Auch in der Frage päpstlicher Besetzungsrechte im Verhältnis zu älteren Rechtstatbeständen, im Zusammenhang mit Aspekten der Statutenreform, der Jurisdiktion am Allerheiligenstift und des Präsentationsrechts der in das Stift inkorporierten Pfarreien wurde Karlstadt um Rat gefragt. Dass er selbst bereits vor einer Revision der Statuten eine Pfarrei vergab, führte zu kritischen Rückfragen des Kurfürsten (KGK 049, KGK 050, KGK 051, KGK 052, KGK 059).

Die Auseinandersetzungen um das Präsentationsrecht der den Benefizien der Stiftskanoniker inkorporierten Pfründen blieb vital, berührte die Rechte des Stifts im Kern und wurde erst – und zwar mit Karlstadts Zustimmung – durch eine Revision der Statuten dem Landesherrn übertragen. Insbesondere war strittig, ob Karlstadt aus der inkorporierten Pfarrei Orlamünde mehr Rechte als die Einkünfte zustünden. Der Kurfürst rügte Karlstadt in dieser Angelegenheit (KGK 051) und baute erheblichen Druck auf, um seine eigenen Besetzungsansprüche durchzusetzen. Einzelne Aspekte des vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiments präludierten Konstellationen, wie sie wenig später unter reformatorischen Vorzeichen wiederkehrten.

Im weiteren Fortgang des Besetzungskonflikts betrieb Karlstadt eine Lösung, die dem Orlamünder Pfarrer als seinem Vikar und ihm selbst die Besetzungsrechte einräumte, den Kurfürsten allerdings erneut überging (KGK 052). Der Konflikt verdeutlicht, wie Karlstadt seine profunden juristischen Kenntnisse gutachterlich zugunsten ständisch-klerikaler Interessen einzusetzen wusste, die Zustimmung des Stiftskapitels erlangte und der Ausweitung landesherrlicher Zugriffsrechte auf das Kirchenwesen Paroli zu bieten versuchte. Der Kurfürst beschied Karlstadts Position in der Frage des Präsentationsrechts freilich abschlägig und setzte eine Revision der Stiftsstatuten durch (KGK 056). Karlstadt gelang es allerdings, das Kapitel davon zu überzeugen, dass es seine Rechtsauffassung gegenüber dem Kurfürsten aufrechtzuerhalten habe. Auch Henning Göde teilte sein Anliegen, die angestammten Rechte gegenüber den landesherrlichen Zugriffen zu verteidigen. In Bezug auf die Legitimität der vollzogenen Uhlstädter Besetzung konnte sich Karlstadt im Prinzip behaupten.

Ein weiteres rechtsgutachterliches Dokument Karlstadts (1516/17), in dem er die Frage ventilierte, welcher Rechtsaufsicht die Mitglieder des in der Stiftskirche eingerichteten kleineren Chores unterstünden, verdeutlicht, dass er wohl auf eigenen Antrieb hin seine juristische Expertise in Anwendung brachte. Im Ergebnis votierte er im Sinne einer Restitution der ursprünglichen Ordnung, die die Zentralisierung der Kompetenzen in der Hand des Dekans des großen Chores vorsah. Karlstadts Bedenken gehörte in den Kontext der Diskussion um die Revision der Stiftsordnung und zielte gegen die kurfürstlichen Interessen auf eine Fortgeltung der päpstlichen Privilegien der Stiftungsbulle von 1507 ab.

Seit Beginn des Jahres 1517 geriet Karlstadts bisheriges theologisches Denken in Bewegung. Zunächst in kritischer Auseinandersetzung mit der antipelagianischen Augustinrezeption Luthers, dann, infolge eines intensiven selbstständigen Studiums des nordafrikanischen Kirchenvaters, revidierte er seine bisherigen Auffassungen grundlegend. In diesem intellektuellen Umbruchprozess könnte auch Luthers Lehrer Staupitz eine gewisse Rolle gespielt haben (KGK 048, KGK 064). Mit seinen 151 Thesen (KGK 058) vom 26. April 1517 trat erstmals Karlstadts an Augustin neu gewonnenes Gnadenverständnis zutage, das ihn zu einem Parteigänger Luthers und zum zweiten maßgeblichen Repräsentanten der umgehend auch außerhalb Wittenbergs wahrgenommenen »neuen« Theologie der »Wittenberger Schule« werden ließ. In Bezug auf Karlstadt markiert dieses dem Hof umgehend bekannt gemachte (KGK 059) Dokument, das in mancher Hinsicht deutliche Parallelen zu Luthers Thesen gegen die scholastische Theologie vom September 1517 und zu seinen berühmten 95 Thesen aufweist, den Beginn einer spezifischen Ausarbeitung seiner reformatorisch-theologischen Position. Vor dem Frühjahr 1517 ist Karlstadt als Humanist, Jurist und Philosoph vielfach greifbar; als Theologe gewinnt er nach Lage der Quellen aber erst von nun an eine zusehends deutlichere Kontur. Ähnlich wie Luther es später mit seinen 95 Thesen tat, verfasste Karlstadt eine Auslegung der 151 Thesen (KGK 062), die er in Lehrveranstaltungen traktierte bzw. diktierte. Zeitgenössisch verbreitet wurden sie wohl in Gestalt studentischer Mitschriften, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erhalten haben.

Sechzehn weitere Thesen (1517/8) über die Mitwirkung der göttlichen Gnade beim Heil (KGK 061) wurden in der weiteren Drucküberlieferung Luther zugeschrieben – ein Indiz dafür, wie eng die »Wittenberger Theologie«, zumal in der Außenwahrnehmung, ihre prominentesten Protagonisten zusammen sah. In engem Anschluss an Augustin wird hier das Verhältnis von innerem und äußerem Menschen, die Unfähigkeit des Menschen, ohne Gottes Gnade etwas Gutes zu denken und zu tun und die Frage des Zusammenwirkens von Gott und Mensch erörtert.

Durch Scheurl wurden Karlstadts 151 Thesen auch zu Eck gesandt; der Nürnberger Jurist spielte eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des akademischen Nachwuchses von Franken nach Wittenberg. Den theologischen Höhepunkt in Karlstadts Beschäftigung mit Augustins Gnadenlehre stellte der etwa ein Drittel des Textes von dessen Schrift De spiritu et littera umfassende Kommentar (KGK 064) dar, an dem Karlstadt zwischen Frühjahr 1517 und Dezember 1518 arbeitete. Die im Rahmen einer Vorlesung vorgetragene Augustinauslegung spiegelt Karlstadts Aneignung der antipelagianischen Gnadentheologie des nordafrikanischen Kirchenvaters und jene weitgehende Übereinstimmung mit Luther, die rasch zum Markenzeichen Wittenbergs aufstieg.

Von Augustins De spiritu et littera her entwarf Karlstadt auf Bitten Spalatins auch hermeneutische Reflektionen zum Verständnis der Bibel (KGK 065, KGK 066, KGK 068, KGK 069). Seine nach Maßgabe der amtlichen Verpflichtungen reichhaltige Predigttätigkeit ist in einem frühesten Beispiel aus dem Jahr 1518 dokumentiert (KGK 067). Die Häufung biblischer Belege in seinen Texten fällt nun auf. Seit Beginn des Jahres 1518 erarbeitet er sich in Bezug auf das Verständnis der Buße und des Ablasses eine eigenständige reformatorische Position.

Aus der Korrespondenz mit Spalatin werden auch seine finanziellen Verhältnisse, z. B. Geldnot in Folge aufwändiger Zuschüsse für Druckvorhaben und Bücherkäufe (KGK 069, KGK 070, KGK 075, KGK 087, KGK 097) und seine Bemühungen, die Situation zu verbessern, anschaulich deutlich. Der kurfürstliche Hof half seinem Professor auch im Falle von Krankheit (KGK 071, KGK 077). Als Protektor Wittenberger Studenten bemühte sich Karlstadt darum, diese mit Hilfe des Hofes auf Pfründen unterzubringen (KGK 072KGK 074). Seit Frühjahr 1518 versuchte er, sekundiert von studentischen Supplikanten (KGK 085), einzelne seiner geistlichen Pflichten, die ihm Präsenzgelder eintrugen, abzulegen – freilich ohne finanzielle Einbußen (KGK 075, KGK 076, KGK 082). Er hoffte dabei auf Spalatins Unterstützung, die ihm auch tatsächlich zuteil wurde. Dass Karlstadt auch mit Egranus in Kontakt stand, wird ebenfalls über die Spalatin-Verbindungen deutlich (KGK 076).

Nach und nach zeichneten sich auch Veränderungen des Wittenberger Lehrplans ab, in die Karlstadt in brieflichem Gespräch mit Spalatin involviert war (KGK 078). Der kursächsische Geheimsekretär war auch der wichtigste Kommunikationspartner in der Vorbereitung und Abstimmung der Kontroverse mit Eck (KGK 080, KGK 081). Auch die Konkurrenzsituation gegenüber der Leipziger Universität zeichnete sich in Karlstadts Korrespondenz mit Spalatin frühzeitig ab; interessant sind hier bereits die diplomatischen Rücksichten auf die wettinischen Nachbarn, die Karlstadt nicht gleichgültig waren.

Im Zusammenhang mit Karlstadts amtlicher Tätigkeit als Archidiakon steht ein päpstliches Mandat (KGK 083, 1518), das Wittenberger Kanoniker, vor allem den Archidiakon Karlstadt, in Zuständigkeitskonflikten bei Visitationsaufgaben innerhalb des Domkapitels von Brandenburg als Vermittler einschaltete. Freilich kam die Schlichtung dann ohne Karlstadts Beteiligung zustande.

Die Auseinandersetzung mit Eck ergab sich nicht zuletzt deshalb, weil Karlstadt sich entschieden auf die Seite seines Wittenberger Kollegen Luther stellte und seit seiner ersten Kenntnis der Angriffe Ecks auf Luther ihr gemeinsames Anliegen betonte. Mit Karlstadts über 400 vor allem gegen Eck gerichteten Apologeticae conclusiones (KGK 085), die möglicherweise in der Tradition Pico della Mirandolas zu sehen sind, setzten jene Kämpfe mit den Kritikern der Wittenberger Universität ein, die die kommenden Jahre prägen sollten. In den Thesen werden die Autoritätenfrage, die Normen- und die Bibelhermeneutik, Ecks Obelisken gegen Luthers 95 Thesen, Karlstadts in Differenz zu Eck profiliertes Gnaden- und Prädestinationsverständnis, Fragen von Ablass und Buße – gegen Tetzel und Wimpina – sowie das Ketzerrecht und die Exkommunikation behandelt. Der Verbindung von Philosophie, Theologie und Jurisprudenz räumte Karlstadt dabei eine besondere Bedeutung ein. Seine Thesen erscheinen als eine Art Stimulus und Regulatorium der innerwittenbergischen Verständigung und der Repräsentation nach außen. Wie »offen« freilich die theologische Diskussionslage war, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass Karlstadt im Juni 1518 Eck gegenüber die Hoffnung äußern konnte, dass er sich den Wittenbergern anschließen werde (KGK 086).

Ecks Angriff auf Luther, den Karlstadt in heilsgeschichtlicher Perspektive sah, erscheint als wesentliches Handlungsmotiv seines Widerspruchs gegen den Ingolstädter Kollegen. Die separate Verbreitung der explizit gegen Eck gerichteten Thesen der Apologeticae conclusiones (KGK 088) setzten eine interessante, stärker auf laikale Rezeption abzielende Wirkungsgeschichte in Gang. Die Argumentation mittels der liturgischen Tradition der Kirche, die Karlstadt anhand der Texte aus seiner Würzburger Heimatdiözese führte, legt wichtige Wurzeln seines theologischen Denkens offen. Karlstadt war bemüht, den während des Reichstags in Augsburg weilenden Spalatin rasch mit seiner Defensio gegen Eck zu versorgen, was angesichts der Umtriebigkeit des Ingolstädter Kollegen geboten schien; bereits im Herbst 1518 zeichnete sich ab, dass der Geschwindigkeit eine zentral wichtige Bedeutung im Fortgang der reformatorischen Auseinandersetzungen zukommen sollte.

Mit seiner Anfang Oktober 1518 erschienenen Defensio gegen Eck (KGK 090) trat Karlstadt zügig und definitiv in eine Zeit und Kraft beanspruchende kontroverstheologische Auseinandersetzung ein, deren Mobilisierungsfunktion in Bezug auf die Entstehung der reformatorischen Bewegung unter den Lateinkundigen kaum zu überschätzen ist. In Karlstadts literarischem Agieren wird nun der Appell an die Urteilsfähigkeit der gebildeten Laien wichtig. In der Replik auf Eck werden die Konturen seiner an Augustin und Bernhard von Clairvaux orientierten Kreuzestheologie wohl erstmals deutlich sichtbar. Auch in Bezug auf Karlstadts theologische Entwicklung zeigt sich, dass den Auseinandersetzungen der Jahre 1517/8 und den in diesem Zusammenhang einsetzenden Bildungsschüben eine eminent dynamisierende Wirkung zukam.

Als Luther im Herbst 1518 auf der Reise vom Augsburger Reichstag an seine Wittenberger Kollegen schrieb, war Karlstadt offenkundig sein erster und vielleicht wichtigster Ansprechpartner, dem er im Falle einer Verbannung oder eines Ketzertodes wohl am ehesten seine »Nachfolge« zutraute. Luther informierte seine Wittenberger Vertrauten über den Verlauf der Verhandlungen mit Cajetan (KGK 091, KGK 092, KGK 094). Der Augustinermönch und seine Wittenberger Kollegen beobachteten Eck in seinem kirchenpolitischen Treiben nun auf Schritt und Tritt. Karlstadt war in die entsprechenden Informationsflüsse involviert.

Seit dem Herbst 1518 geriet der schwelende Konflikt mit den Leipziger Theologen in ein akutes Stadium (KGK 095); Spalatin blieb für alle diese Fragen Karlstadts konstantester Gesprächspartner (KGK 096, KGK 097, KGK 098). Ihrer beider freundschaftliches Verhältnis überstand auch Konflikte (KGK 099). Eine mit der Karlstadts vergleichbar intensive Kommunikation führte der kursächsische Sekretär nur noch mit Luther. In Bezug auf personelle Optionen bei der Neubesetzung der Kemberger Propstei zeichneten sich Dissonanzen zwischen Luther und Karlstadt ab (KGK 098).


1Eine umfassende Sicht auf alle wissenschaftlichen Bemühungen um Karlstadt hat unlängst vorgelegt: Keßler, Karlstadt-Bild.
2WA 18, 436,18.

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