1. Überlieferung
Handschrift:
Autograph.
Dieses der Karlstadtforschung zuvor unbekannte Stück wurde von Dr. Hans-Peter Hasse, Dresden, entdeckt. Auf einem kleinformatigen Stück Papier hat Karlstadt einen sehr kurzen Brief eilig niedergeschrieben. Die Rückseite des Blattes ist leer. Das Stück trägt keine Adresse und war nicht gesiegelt. Im heutigen Aktenband ist das Blatt (fol. 43) vor dem längeren Brief Karlstadts an den Kurfürsten vom gleichen Tag (fol. 44–45, KGK 049) eingebunden. Vermutlich war der vorliegende kurze Brief dem von Karlstadt zuvor geschriebenen längeren Brief gleichen Datums als Nachtrag beigelegt gewesen. Das erklärt auch, warum Karlstadt in vorliegendem Stück auf die üblichen Höflichkeitsformeln des Briefstils größtenteils verzichtet hat.
2. Inhalt und Entstehung
Karlstadt entschuldigt sich in dem an einem Donnerstag abgefassten Brieflein dafür, dass er (im Schreiben an den Kurfürsten vom selben Tag) nicht besser geschrieben habe. Daran habe ihn die Vorbereitung einer ganztägigen Disputation gehindert, die er am folgenden Tag durchführen müsse.
Nach Abfassung des längeren Briefes vom 5. März (KGK 049), in dem Karlstadt seine Position zur umstrittenen Frage darlegte, ob ihm als Archidiakon oder dem Kurfürsten das Präsentationsrecht für die Pfarrei Uhlstädt zustehe, wurde Karlstadt die Unzulänglichkeit seines eilig abgefassten Briefes bewusst. In vorliegendem Nachtrag entschuldigt er die Mängel jenes Briefes mit Verpflichtungen an der Universität. Implizit deutet er damit an, dass er seine Position noch besser begründen könne, was er später, am 16. März 1517, in einem ausführlichen Rechtsgutachten (KGK 052) getan hat.
Karlstadt erwähnt in seinem Brief, dass er am folgenden Tag, nämlich am Freitag, 6. März 1517, den ganzen Tag Disputation »halten« müsse. Nach den Statuten der theologischen Fakultät aus dem Jahr 1508 war der Freitag der Disputationstag der Fakultät. In wöchentlichem Rhythmus fanden an diesem Tag die Zirkulardisputationen statt, allerdings nur von 1 bis 3 Uhr nachmittags. Ganztägige Disputationen hingegen, ebenfalls am Freitag, waren nur vorgeschrieben für den Erwerb des Grades eines Lizentiaten der Theologie, während die übrigen Prüfungsdisputationen auf 3 Stunden beschränkt waren1. Es ist daher zu klären, ob Karlstadt am 6. März 1517 den Vorsitz bei einer Lizentiatendisputation geführt haben kann.
Im Dekanatsbuch, in dem die Prüfungsvorgänge von den Dekanen in der Regel einzutragen waren, fehlt für den 6. März 1517 ein entsprechender Eintrag. Zum Dekan des Wintersemesters 1516/17 war der Augustiner Johann Hergot gewählt worden, dessen letztes Lebenszeichen ein Eintrag ins Dekanatsbuch vom 19. November 1516 ist2. Später wurde er zunächst von seinem Amtsvorgänger Petrus Lupinus vertreten, dann von Karlstadt3. Dieser bezeichnete sich ausdrücklich als Vizedekan, als er die am Montag, 23. März 1517 öffentlich vollzogene Promotion des Dominikaners Johannes Henrici alias Mensing4 zum Lizentiaten eintrug5. Dieser feierliche Vorgang beinhaltete allerdings nicht die ganztägige Prüfungsdisputation, die schon davor an einem Freitag stattgefunden haben musste6.
Stellt man die im Dekanatsbuch enthaltenen Daten zur akademischen Laufbahn Henricis in Wittenberg zusammen7, dann stellt sich heraus, dass das Dekanatsbuch eine offenkundige Lücke aufweist: Die Prüfungsdisputation Henricis für die Graduierung zum Lizentiaten ist nicht eingetragen worden8. Da im Zeitraum nach dem 6. März 1517 kein anderer Theologe zum Lizentiaten promoviert wurde9, kann erschlossen werden, dass Karlstadt am 5. März 1517 die am Freitag, 6. März bevorstehende ganztägige Lizentiatendisputation Henricis vorbereitete.
Die Thesen Karlstadts für diese Disputation sind nicht überliefert. Nach den Statuten war die Prüfungsdisputation der angehenden Lizentiaten auf die vier Bücher der Sentenzen des Petrus Lombardus zu beziehen10.