1. Allgemeine Hinweise zur Überlieferungsgeschichte der Korrespondenz mit Spalatin
Der Forschung ist eine beachtliche Anzahl von Briefen Karlstadts an Spalatin erhalten geblieben, dank der 1671 von Johann Gottfried Olearius (1635–1711)1 in Halle gedruckten Edition von Schriftstücken diverser Autoren des 16. Jahrhunderts.2 Darin stehen an erster Stelle 49, wahrscheinlich von Spalatin selbst aufbewahrte Briefe Karlstadts an ihn (plus einem Brief von Eck an Karlstadt und dessen Antwort darauf). Diese Briefe an Spalatin umfassen nur zum Teil die von Karlstadt an jenen gerichteten Schreiben, wie es der von Johann Fr. Hekel edierte Brief (KGK 014) und zwei weitere in Erfurt (KGK 104) und Zwickau (KGK 121) erhaltene Briefautographen Karlstadts an ihn belegen.
Die seinerzeit Olearius in Halle vorliegenden 51 Originalhandschriften dieser Briefe gelten seitdem als verschollen.3 Im Vorwort zur ersten Ausgabe seiner Edition (20. Mai 1671) gibt Olearius an, Carolstatinas epistolas von seinem früheren Leipziger Dozenten und jetzigen Förderer und Freund Jakob Thomasius (1622–1684)4 erhalten zu haben.5 Aus einem Brief von Thomasius an ihn zitiert er diesen wie folgt: »Als du [scil. Olearius] neulich von mir abgereist bist, habe ich noch einen Zusatz von Briefen Karlstadts an Spalatin gefunden, der meiner Aufmerksamkeit […] entgangen war. Jetzt schicke ich dir dieselben, damit du sie zusammen mit den anderen veröffentlichst. […] Ich bitte dich, […] dass du dieses Vorhaben beschleunigst […]. Du wirst unserm Herrn Spizel einen Anstoß geben, damit er die Briefe von Philipp [Melanchthon] an Spalatin, die er besitzt, nach so vielen Jahren aus dem Kerker holt und in Freiheit entlässt. […].«6
Im Brief, den Olearius am 18. August 1669 dem ehemals auch in Leipzig bei Thomasius studierenden Gottlieb Spizel (1639–1691)7 nach Augsburg sandte, hatte er bereits eine Inhaltsübersicht der von ihm geplanten Edition skizziert. Ursprünglich wollte er im Briefteil seiner Ausgabe an erster Stelle »15. literae Carlstadii ad G. Spalatinum«, an zweiter »28. probatissimi theologi D'omini'H'ieronymi' Welleri«8 edieren.9 Das würde die Angabe in der Vorrede zur Edition bestätigen, dass die Karlstadtbriefe an Spalatin in zwei aufeinanderfolgenden Lieferungen in seine Hände gelangten. Zugleich werden direkte Verbindungen zwischen Thomasius10, Olearius und Spizel im Zusammenhang mit Editionen von damals zum Vorschein gekommenen Spalatiniana greifbar.11 In den fast dreieinhalb Jahrhunderten, die seit jener Edition der Briefe durch Johann Gottfried Olearius verstrichen sind, ließ sich bisher kein Hinweis zu diesen Karlstadthandschriften finden.
Dem Briefwechsel zwischen Johann G. Olearius und Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707)12 ist zu entnehmen, dass der Arnstädter Superintendent Olearius mit Zimelien respektvoll umging. Er legte Wert darauf, dass sie ihrem Besitzer zurückgegeben wurden.13 Die Annahme, Olearius hätte dieses aus dem Besitz seines Lehrers Thomasius stammende Autographenkonvolut nach Drucklegung der Texte entsorgt haben können, ist kaum plausibel zu machen. Für den schonenden Umgang mit alten Handschriften spricht bei Olearius außerdem, dass sich 14 der anderen in seinen Scrinium Antiquarium edierten Schriftstücke im Original erhalten haben; so z. B. Briefe des Hieronymus Weller.14 Es ist also eher davon auszugehen, dass er dieses ca. 70 Blatt umfassende Konvolut mit Karlstadtbriefen wieder an seinen Förderer und Freund Jakob Thomasius (in Leipzig) zurückgab.15
Dessen ältester Sohn Christian Thomasius (1655–1728)16, der einige Schriften aus dem Nachlass seines Vaters edierte17, veröffentlichte 1705 auch einen ausführlichen Beitrag zu Andreas Bodenstein von Karlstadt, dem er ein Verzeichnis der Schriften Karlstadts beigab.18 Sein jüngerer Bruder, der Arzt und Polyhistor Gottfried Thomasius (1660–1746)19, ein bibliophiler Sammler, war im Besitz des Briefnachlasses seines Vaters.20 Bei keinem der beiden Söhne lassen sich Hinweise finden, die auf ein aus dem Besitz ihres Vaters stammendes Konvolut mit Karlstadtbriefen hindeuten.
Während die damals vom Thomasius-Schüler und Olearius-Freund Spizel21 nicht edierten Briefe Melanchthons an Spalatin über zwischenzeitliche Besitzer 1806 in die Universitätsbibliothek Basel gelangten22, fehlen weiterführende Angaben zu Karlstadts Briefen an Spalatin. Spizel hätte ein solches Autographenkonvolut zu den anderen sich in seinem Besitz befindlichen Spalatiniana hinzufügen können. In der 187 Namen umfassenden Liste, die Johann Georg Schelhorn (1694–1773)23 von ca. 1.500 Briefautographen aufstellte24, die aus Spizels Bibliothek in die des Raymund Krafft von Delmensingen (in Ulm) übergegangen waren25, findet sich auch der Name »Carlstad«.26 Aber es lässt sich – außer für die Autographen Melanchthons27 – bei keinem der anderen in dieser Liste aufgeführten Autoren mehr feststellen, wie viele Handschriften sich von ihm in dieser Manuskriptsammlung befanden.
Die fehlenden Hinweise auf den Verbleib des von Jakob Thomasius an Olearius vermittelten Konvoluts mit Karlstadtbriefen an Spalatin (und Eck) ließen sich am Naheliegendsten durch Verlust bald nach ihrer ersten Veröffentlichung im Druck erklären.28 Eine andere Möglichkeit wäre die Annahme eines Übergangs dieses Briefkonvoluts in Privatbesitz. Ein Beispiel dieser Variante ist die über zwei Jahrhunderte verschollen gewesene »Brücknersche Sammlung«29, aus der seinerzeit auch Johann G. Olearius Abschriften hatte machen lassen.30 Auch hätte ein solches Handschriftenkonvolut, das durch seine Edition an Wert verloren hatte, an Sammler im Ausland verkauft werden können.31
Editionen:
- Olearius, Scrinium (1671), 1f.
- Olearius, Scrinium (1698), 1–3.
- Gerdes, Scrinium, 292f.
2. Inhalt und Entstehung
Karlstadt bittet Spalatin, an Garganus von Siena32[in Rom] einen empfehlenden Brief zu schreiben; als Anlass dazu könne er dessen von Karlstadt verdientermaßen hervorgehobenen Ruf als entschiedenen Liebhaber der Wissenschaft anführen und ihm andeuten, dass Karlstadt, »der Teutone«, sehr bald ein Büchlein zu seinen Ehren veröffentlichen und übersenden wolle. Spalatin solle auch schreiben, wie Karlstadt nach Ostern, in Anwesenheit des Garganus, von dessen ehrenwerten Herrn33 geprüft worden sei; das würde Garganus Karlstadt in Erinnerung bringen. Schließlich solle SpalatinGarganus bitten, »in üblicher Weise« für Johannes Reuchlin und dessen Ehre einzutreten. Wenn es passe, wolle Karlstadt gleichfalls einen Brief [an Garganus] schreiben, der mit Spalatins[Empfehlungsbrief] oder dem des Kurfürsten direkt nach Rom gelangen soll. Nach dem Briefdatum weist ein Zusatz darauf hin, dass Kardinal Grimani auf Reuchlins Seite stehe.
Sowohl dieser wie auch die zwei nächsten an Spalatin gerichteten Briefe (KGK 034 und KGK 037) bieten Einblick in Karlstadts Beteiligung an der kurfürstlich-sächsischen Unterstützung für Johannes Reuchlin im damals in Rom seinem Ende zulaufenden Prozess gegen ihn.34 Karlstadt stellte sich mit der während seines Romaufenthaltes (Ende September 1515 bis April 1516) gewonnenen Erfahrung nach seiner Rückkehr nach Kursachsen35 seinem Freund Spalatin diesbezüglich zur Verfügung. Er scheint ihm die Kontaktaufnahme mit Garganus von Siena vorgeschlagen zu haben, dem Kaplan und Vertrauten des Kardinals Domenico Grimani, einem der beiden im römischen Prozess agierenden Richter. Dieses bei Spalatin erbetene, Karlstadt dem Garganus empfehlende Schreiben deutet darauf hin, dass bis dahin ein engerer Kontakt zwischen Karlstadt und Garganus nicht bestanden zu haben scheint. Karlstadt wusste jedoch von dessen Sympathien für Reuchlin; Garganus hatte für den Pforzheimer eine Verteidigungsschrift verfasst.36