1. Überlieferung
Handschrift:
Abschrift.
Die auf zwei Blättern überlieferten zwei Teile dieses Briefes sind von der Hand eines geübten Kanzleischreibers in einer sehr gut leserlichen Schrift geschrieben. Nur im ersten Wort findet sich ein Schreibfehler. Adresse und Datierung fehlen. Möglicherweise hat sie der Schreiber weggelassen. Jedoch könnte auch Karlstadt auf diese Formalien verzichtet haben, falls er die Schriftsätze während seines Aufenthaltes in der kursächsischen Kanzlei in Torgau (dazu s. u.) verfasst haben sollte.
Edition:
- Hase, Orlamünda, 85–87 Nr. 1 und Nr. 2.
Literatur:
- Hase, Orlamünda, 52f.
- Barge, Karlstadt 1, 54 Anm. 59.
- Bubenheimer, Consonantia, 33 Anm. 95; 50 Anm. 173; 58 Anm. 209.
2. Inhalt und Entstehung
Die vorliegende Editionseinheit besteht aus zwei an den Kurfürsten gerichteten Schreiben Karlstadts, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken können, es handele sich um zwei gesonderte Briefe. Entsprechend hat der Altenburger Jurist Eduard Hase die undatierten Schreiben in seiner Erstedition als zwei voneinander getrennte Stücke ediert. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass beide Schreiben zusammengehören und das zweite formal eine Anlage oder Ergänzung zum ersten Schreiben ist.
In den beiden Schreiben, die Karlstadt nach seiner Rückkehr aus Rom an den Kurfürsten richtete, unterwirft sich Karlstadt der Jurisdiktion des Kurfürsten, um die ihm von Propst und Kapitel angekündigte Bestrafung wegen Überschreitung des ihm vor der Abreise gewährten viermonatigen Urlaubs und der dadurch gegebenen Verletzung der Residenzpflicht zu verhindern.
»In Kraft dieser Schrift«, schreibt Karlstadt in dem ersten Stück, stellt er dem Kurfürsten anheim, mit ihm »nach Gefallen zu handeln, machen und lassen«. Er stellt dem Kurfürsten seine mögliche Entlassung frei, obwohl er lieber dem Kurfürsten lebenslänglich »mit emsiger Arbeit« dienen würde. Für den Fall seiner Entlassung bittet er darum, noch das laufende Jahr unter Belassung seiner Einkünfte an Stift und Universität bleiben zu dürfen, um den durch seine Abwesenheit entstandenen Schaden auszugleichen. Er bietet an, [zusätzlich] auch in beiden Rechten, in denen er jetzt promoviert sei, zu lesen. Er wisse noch nicht, wohin er [im Falle der Entlassung] ziehen solle, zumal er gegenwärtig auf die Reichung des väterlichen Erbes verzichtet habe. Sollte der Kurfürst jedoch ihn, der sich Zorn und Neid des Propstes zugezogen habe, behalten wollen, so werde er jeden, der »einen Zorn« gegen ihn habe, gemäß dem Willen des Kurfürsten »befrieden«, wie er »im Folgenden« angezeigt habe.
Das von Karlstadt angekündigte »Folgende« ist das zweite hier edierte Schreiben an den Kurfürsten, das er dem ersten beilegte. So erklärt sich auch, dass Karlstadt die für ein Schreiben an einen Kurfürsten in jener Zeit vorgesehenen Anrede- und Begrüßungsformeln in vollem Umfang nur im ersten Schreiben bietet, während er im zweiten Schreiben sofort mit der kurzen Anrede beginnt, die – wie auch im ersten Schreiben –, die Darstellung des Sachverhalts eröffnet: »Gnädigster Kurfürst und Herr«. Die Zusammengehörigkeit der beiden Stücke wird auch dadurch erhärtet, dass sie zusammen in einer Abschrift derselben Hand überliefert sind, und zwar in der hier wiedergegebenen Reihenfolge.
Im zweiten Schreiben schildert Karlstadt die strittige Angelegenheit konkreter. Propst und das von diesem »abgünstig gemachte«Kapitel hätten seine Einkünfte aus [der Pfarrei]Orlamünde1 beschlagnahmt. Der Propst habe verlauten lassen, ihn ins Gefängnis setzen zu wollen. Zum Schutz seines guten Rufes, den er sich in Rom und andernorts erworben habe, würde Karlstadt unter diesen Umständen seine Stellung aufgeben, betont aber im Blick auf seine Romreise: »Ich habe gehandelt, dass ich zu loben, nicht zu strafen bin.« Er bittet den Kurfürsten, dem Kapitel zu schreiben, dass er, der Kurfürst, sich das Urteil in dieser Sache vorbehalte und das Kapitel ihn, Karlstadt, bis dahin unbeschwert lassen und ihm seine Einkünfte aushändigen solle. Er, Karlstadt, wolle in Anwesenheit eines kurfürstlichen Dieners, dessen Unkosten in Wittenberg er übernehmen werde, seinen Gegnern entgegen kommen. Einer kleinen Einbuße an seinen Einkünften könne er des Friedens wegen zustimmen. Beide Schreiben sind unterzeichnet mit »Andreas Bodenstein, der Schrift und beider Rechte Doktor«.
Die Datierung der beiden Stücke ergibt sich aus folgendem, als
Kanzleikonzept überlieferten Reskript Kurfürst Friedrichs an das Kapitel des
Allerheiligenstiftes in Wittenberg, geschrieben in Torgau am 4. Juni 1516:
Nach diesem Schreiben war Karlstadt spätestens am 4. Juni 1516 in der kurfürstlichen Kanzlei in Torgau persönlich vorstellig geworden. Das kurfürstliche Reskript an das Kapitel ist eine unmittelbare Reaktion auf die hier edierten beiden Schreiben Karlstadts. Demnach hat Karlstadt beide Stücke am 4. Juni 1516 oder kurz davor entweder in Torgau oder schon zuvor in Wittenberg verfasst. Wann genau Karlstadt aus Rom nach Wittenberg zurückgekehrt war, ist nicht belegt. In der Woche nach Ostern (23. März) war er noch in Rom.4 Gegen Ende des Wintersemesters 1515/16 (nach dem 9. April) las Nikolaus von Amsdorf noch anstelle Karlstadts über Gabriel Biel.5 Zu Beginn des Sommersemesters 1516, am 1. Mai, dürfte Karlstadt bereits in Wittenberg gewesen sein,6 da er in diesem Semester das Amt des Dekans der theologischen Fakultät bekleidete7. In der Zeit zwischen der Rückkehr und dem 4. Juni entwickelte sich in Wittenberg die in Karlstadts Schreiben referierte Auseinandersetzung zwischen ihm einerseits und Propst sowie Kapitel andererseits, die bis zur Androhung einer Gefängnisstrafe durch den Propst Henning Göde eskalierte.
In seinem Reskript hat der Kurfürst Karlstadts Wünsche in erstaunlichem Umfang aufgenommen, ja, er verteidigt ihn in gewisser Weise gegenüber dem Kapitel. Er weist darauf hin, dass er Karlstadt auf Ansuchen des Kapitels eine Frist für die Rückkehr nach Wittenberg bis zum Johannistag (24. Juni) gesetzt hatte und Karlstadt diese Frist gehorsam eingehalten habe. Er behält sich im Sinne Karlstadts die weitere Entscheidung vor und weist das Kapitel an, Karlstadt nicht weiter in dieser Sache zu beschweren. Dessen Angebot, eine kleine finanzielle Einbuße hinnehmen zu wollen, erwähnt der Kurfürst gegenüber dem Kapitel nicht einmal. Dem Propst und dem Kapitel hat der Kurfürst damit signalisiert, dass er in dieser Sache de facto auf Karlstadts Seite stand.
Man kann zum einen annehmen, dass Karlstadts Gönner, die er unter den kurfürstlichen Räten hatte,8 für ihn eingetreten waren und dass dies das eigentliche Ziel seiner Vorsprache in der kurfürstlichen Kanzlei war. Zum anderen scheint der Kurfürst Karlstadts Promotion zum Doktor beider Rechte nachträglich zu würdigen gewusst haben. Dass Karlstadt auferlegt worden war, an keiner auswärtigen Universität zu studieren,9 übergeht der Kurfürst. Auch Karlstadts Eintreten für Reuchlin im Rahmen von dessen römischem Prozess dürfte im Sinne des Humanistenmäzens Friedrich gewesen sein. Schließlich konnten Karlstadts in Rom geknüpfte Kontakte und die an der Kurie erworbenen Insider-Kenntnisse10 am Hof von Interesse sein.
Karlstadt scheint im Umkreis des geschilderten Konflikts vorsorglich seine Fühler nach einer anderen möglichen Wirkungsstätte ausgestreckt zu haben. Im Juli 1517 hat das Würzburger Domkapitel Karlstadts Berufung zum Domprediger befürwortet.11 Doch damals war Karlstadts Konflikt mit Propst und Kapitel bereits ausgestanden. Aus Andeutungen in der Korrespondenz zwischen dem Kurfürsten und dem Kapitel vom Mai 1517 ist zu entnehmen, dass die strittige Angelegenheit auf die Intervention des Kurfürsten hin im Interesse Karlstadts beigelegt worden war12. Propst Henning Göde wies seinerseits den Vorwurf zurück, er sei Karlstadt persönlich Feind gewesen.13 Im August 1518 widmete Karlstadt seine Defensio gegen Johann Eck dem Propst Henning Göde und dem Dekan Lorenz Schlamau.