Nr. 7
Christoph Scheurl an Andreas Karlstadt und Otto Beckmann
Wittenberg, 1510, 1. Juli

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Scheurl, Christoph
Philoſophie doctoꝛibus ‖ ac Canonicis bmeritis Andꝛee Bodenſtaino ‖ Carlſtadino Theologo: ⁊ Ottoni Beckman ‖ no Vuartbergio Juriſ‌perito / amicis perinde ‖ ac f‌ratribus ſuauiſſimis iucūdiſſimiſ: Chri⸗‖ſtopherus Scheurlus Juriū Doctor ac Legū ‖ Ordinarius Salutem.
in:
Baptista (Mantuanus)Scheurl, Christoph
Fratris Baptiste Man=‖tuani Carmelite Theo=‖logi Carmen de Fortuna illustris Francisci ‖ Gonzage marchionis Mantue.
Leipzig: Martin Landsberg, 1510, fol. A1v.
4°, 10 Bl., ungez., Titelseite, A–A6, B–B4.
Editionsvorlage:
SBB-PK Berlin, an: Inc. 953a.
Weitere Exemplare: Universitätsbibliothek Erlangen, INC 1001/4.
Bibliographische Nachweise:

2. Inhalt und Entstehung

Christoph Scheurl widmet den beiden Wittenberger Kollegen Karlstadt und Otto Beckmann ein Werk des italienischen religiösen Dichters und Karmeliters Baptista Mantuanus. Unter Humanisten galt Mantuanus, der christliche Motivik mit einer klassisch-humanistischen Stilistik vereinte,1 als neuer Vergil, seine geistlichen Dichtungen erfreuten sich – zumal in Deutschland – großer Beliebtheit.2 In einem Exemplar seines Carmen in agona divae Margaritae konnten Lesespuren von der Hand Luthers nachgewiesen werden.3

Das Gedicht über das Lebensglück Carmen de fortuna hatte Baptista Mantuanus als Trostschrift für den 1509 in venezianische Gefangenschaft geratenen Markgrafen von Mantua, Francesco Gonzaga, angelegt, in dessen Herrschaftsbereich er als Studiendirektor am reformierten Karmeliter-Kloster wirkte.4 Der undatierte Erstdruck wurde vermutlich Ende 1509 oder Anfang 1510 in Bologna ausgeführt.5Scheurl hatte das Werk auf seiner zweiten Italienfahrt kennengelernt, für die er am 16. Februar 1510 Wittenberg verlassen hatte und Ostern Bologna erreichte, um zurückgelassene Bücher abzuholen und neue zu kaufen – unter ihnen auch das Carmen de fortuna. Am 18. Mai traf er wieder in Wittenberg ein.6 Laut vorliegender Widmung hatte er das Gedicht in Deutschland verbreitet (»invulgandum«), doch liegen noch zwei nahezu gleichzeitige Drucke im deutschen Publikationsraum vor.7 Gemäß Impressum folgte der Leipziger Druck genau dem Erstdruck aus Bologna.8 Er ist in Fraktur statt in Antiqua wie die Vorlage ausgeführt und setzt das unklassisch legierte »e« für »ae« sowie zahlreiche Abkürzungen und Ligaturen, die auf die spätscholastische Tradition verweisen. Dennoch ist ihm eine genaue Ausführung gemäß dem Original zu attestieren. Der Druck ist mit interlinearen Spatien ausgestattet, was auf einen Einsatz in der Lehre deutet. Das Exemplar aus Erlangen weist auf jeder Seite eingehende Erklärungen von erwähnten Figuren und Dingen, Kommentare sowie Wortexplikationen und Synonymnotizen auf, höchstwahrscheinlich von studentischer Hand.9Scheurl besetzte in Wittenberg nicht nur die Stelle des Ordinarius für Zivilrecht, sondern war von Kurfürst Friedrich III. zudem für humanistische Studien freigestellt. Das Lehrverzeichnis von 1507 (der sogenannte Rotulus) gibt an, dass er Übungen zu Sueton abhielt.10 Von Auslegungen der Dichtung Baptistas ist nicht die Rede.

Scheurl schmückte seine Ausgabe des Werkes mit einem Widmungsbrief an die berühmten Freunde, damit das Gedicht eine schnellere und nachhaltigere Verbreitung finde. Mittels dieser Werbung sollte das Carmen Stoff humanistischer Studien in Wittenberg werden.11Beckmann, der an seinem ersten Studienort Leipzig den Humanisten Hermann Buschius kennengelernt hatte und in Wittenberg zum Dichterkreis um Richardus Sbrulius gehörte, besetzte die Grammatiklektur, die er zweifellos humanistisch-rhetorisch auslegte.12 Zugleich bedankte sich Scheurl mit der Widmung bei Karlstadt und Beckmann für die Freundlichkeit, mit der sie ihn nach der erneuten Ankunft aus Italien in Wittenberg aufgenommen hatten. In dieser Funktion übernimmt die Dedikation die Aufgabe eines Gegengeschenks für die geleistete amicitia, die der Welt publik gemacht wird.13 Besonders zu Beckmann pflegte Scheurl auch in der Folge enge persönliche Kontakte.14


1Seine Parthenice, ein 1488 zuerst erschienenes Lobgedicht auf die Heiligen Maria, Katharina von Alexandria, Agatha und Apollonia, wiesen neben stilistischer Modernisierung in epischer Form inhaltlich gewagte Veränderungen und Einfügungen auf. Demnach habe Maria eine humanistische Bildung genossen und Ovid gelesen, vgl. Ludwig, Bildung, passim.
2Bubenheimer, Humanismus, 105 hat 18 Wittenberger Drucke Baptistas zwischen 1504 und 1516 nachgewiesen, der damit der beliebteste Autor dieser Zeit war. Grossmann, Wittenberger Drucke, 53, führt 17 Drucke auf. Allein die Parthenice wurden in 15 Inkunabelausgaben gedruckt und sind in 17 Einzelausgaben im VD  16 nachweisbar. Vgl. Wiener, Marienlob, 101f. Dort auch zum Vergil-Attribut, das bereits Jakob Wimpfeling verwendete, siehe Wimpfeling, Briefwechsel 1, 43f. Der hier bewidmete Otto Beckmann griff in seiner Universitätsrede auf die Patronin der artistischen Fakultät in Wittenberg, Katharina von Alexandria, aus dem Jahr 1510 auf die Parthenice zurück und stellte die »eloquentia divina« der heiligen Maria in den Mittelpunkt. Vgl. VerLex (Hum) 1, 166f.; Kipf, Elisabeth, 314f. Ähnliche Bezüge weist vermutlich schon die im Vorjahr gehaltene Oratio in vigilia diuae Catherinae von Kilian Reuter auf, vgl. VerLex (Hum) 2, 636.
3Bubenheimer, Humanismus, 106f. Das Exemplar: HAB Wolfenbüttel, A: 72.5 Quod. (5), aus dem Besitz des Erfurters Johannes Lang. Luther hatte in den Tischreden selbst geäußert, dass der Mantuanus einer seiner früh rezipierten geistlichen Dichter gewesen sei. WA 1, 107, 31–33, Nr. 256; vgl. auch Schwarz, Martin Luther, 171f.
41493 wurde er zum Studiendirektor ernannt, 1513 zum General des Ordens erhoben. Vgl. LMA 1, 1424f.
7Ein Deventer Druck und ein Straßburger von Lazarus Schürer: Baptista Mantuanus, Fortuna (1510b) und Baptista Mantuanus, Fortuna (1510c). Der Schürer-Druck wurde von Beatus Rhenanus ediert und zehn Tage vor der Scheurl-Ausgabe am 20. Juni 1510 fertiggestellt. Vgl. Proctor, German Prints, 41, Nr. 10178.
8Fol. b4r: »Martinus herbipolensis librarius/ summa diligentia adhibita/ ne ab archetypo Bononiensi aberraret/ Lipsi imprimebat/ mense Septembrio Anno a partu virgineo Decimo.«
9Gleich die erste Textseite fol. A2r setzt mit einer Erklärung von fortuna nach Plinius ein. Das Exemplar besitzt sowohl einen Kaufpreisvermerk (fol. A1r: »constat 1/2 gr'ossos'«) als auch eine Erbnotiz.
10Vgl. UUW 1, 15f.; Kathe, Fakultät, 17f.
11Bereits Ende des 15. Jahrhunderts hatte Jakob Wimpfeling dafür plädiert, Mantuanus-Werke zur Lektüre an Schulen einzuführen, da sie die »amor poeticae« und das »studium sacrae paginae et philosophiae« zusammenführten. Wimpfeling, Briefwechsel 1, 422, ep. 139. Zu seinen Bemühungen, die Parthenice neu herauszugeben, vgl. Amerbachkorrespondenz 1, 44f., Nr. 34; 50f., Nr. 39; Wimpfeling, Briefwechsel 1, 229, ep. 45; 237, ep. 52a und b.
12In seiner Rede zur Bakkalaureatspromotion im Wintersemester 1509/10 lobte Beckmann das Zurückdrängen der Dialektik durch humanistische Rhetorik und Poesie bei gleichzeitiger Koexistenz mit den scholastischen Lehren. VerLex (Hum) 1, 166. Zu Beckmanns Werdegang ebd., 163f.
13Briefe dieser Art, die Erasmus von Rotterdam dem genus familiare zuordnete, waren nicht an ein bestimmtes Individuum gerichtet, sondern an einen Kreis Gleichgesinnter aus der respublica litteraria. Erasmus hatte um 1520 in seiner Schrift De conscribendis epistolis den antiken Redegattungen das genus familiare als vierte hinzugefügt, das er wiederum nach Brieftypen aufgliederte. Auch zur Öffentlichkeit der Gattung gab es zeitgenössische Überlegungen. Bereits Petrarca meinte, dass Cicero seine Briefe für die Veröffentlichung bestimmt habe. Vgl. Enenkel, Grundlegung, passim; Enenkel, Brief, 3; 8f.
14Scheurl versuchte, Beckmann 1512 als Ratssyndikus in Nürnberg zu gewinnen. Zwischen 1512 und 1536 richtete er etwa 49 Briefe an ihn. Vgl. VerLex (Hum) 1, 163.

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