2. Inhalt und Entstehung
Wie versprochen, schickt Karlstadt ein Exemplar seiner hier so bezeichneten »Einhundertzweiundfünfzig Thesen« (KGK 058) an Spalatin, die er am Sonntag Misericordias Domini [= 26. April] und Tag der Reliquienschau öffentlich angebracht habe. Spalatin soll dem Kurfürsten berichten, dass diese Thesen zu dessen Ehre verfasst worden sind und an einigen Tagen zu festgesetzter Zeit disputiert werden sollen. Er hätte Gefallen daran, wenn der Kurfürst aus seinen kursächsischen Landen Personen zu einem »theologischen Wettkampf« über diese Thesen bestimmen würde. Karlstadt sehnt sich nach Spalatins Antwort.
Der Brief bestätigt die akademische Praxis öffentlicher Anbringung von Disputationsthesen im Rahmen der Ausstellungstage der kurfürstlichen Reliquiensammlung in Wittenberg.1 Da Spalatin von Karlstadt ein Exemplar der Thesenreihe zugeschickt bekam, lässt sich ein Wittenberger Erstdruck derselben vermuten.2 Als Centumquinquagintaunum [sic] conclusiones de natura, lege et gratia: contra scholasticos et usum communem sind sie in einem späteren Leidener bzw. Pariser Sammeldruck Wittenberger Thesenreihen (1520/1521) erhalten geblieben.3 Dass Karlstadt schreibt, es missfalle ihm nicht, sondern käme ihm entgegen, wenn Kurfürst Friedrich III. kursächsische Theologen zu einer öffentlichen Disputation darüber bestimmen würde, macht deutlich, welchen theologisch-innovativen Wert er ihnen beimisst. Eine Reaktion Spalatins auf diesen, dem Kurfürsten vorzutragenden Vorschlag, erwartet er mit Spannung. Weitere Informationen darüber sind nicht bekannt, weil der Briefwechsel zwischen Karlstadt und Spalatin von Ende April 1517 bis Mitte Januar 1518 eine achtmonatige Korrespondenzlücke aufweist. Sie fällt zusammen mit Karlstadts Vorlesungstätigkeit über die ersten acht Kapitel von Augustins De spiritu et litera.4