1. Überlieferung
Handschrift:
Der mit einem späteren Einband restaurierte Hybridband enthält1 am Anfang ungezählte, darauf sieben von I bis VII durchgezählte Blätter, wobei sich die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der gezählten und ungezählten Blätter durch dasselbe Ochsenkopf-Wasserzeichen ergibt. Auf Blatt Iv–IIIv findet sich ein von der Hand des aus Nürnberg stammenden Humanisten und späteren Breslauer Reformators Johannes Hess2 vorbereitetes alphabetisches Register, wobei für jeden Buchstaben eine Spalte vorgesehen ist. Ähnliche Register findet man wiederholt auch in Bänden anderer Zeitgenossen. Sie dienten dem Zweck, aus den eingebundenen Texten Belegstellen, sogenannte Loci, zu bestimmten Stichwörtern zu sammeln. Ein derartiges Register hat z. B. auch Karlstadt am Anfang seines Exemplars der Predigten Johannes Taulers angelegt.3Hess hat allerdings den Plan, in den Spalten Belegstellen aus dem folgenden Druck und der beigebundenen Handschrift zu sammeln, nicht ausgeführt. Die Spalten sind leer geblieben.
Es folgt dann die zweite in Basel gedruckte Sammlung Wittenberger
Thesenreihen mit dem Druckdatum 1522.4 Auf dem Titelblatt5 finden sich
zwei Notizen von Hess’ Hand: Oben der Besitzvermerk »Joannis HessiNurmbergensis.«, unten »Donante Hanero«.
Der hier von Hess
festgehaltene Schenker des Druckes ist der Nürnberger Theologe und Humanist Johann Haner6, der auf die
unbedruckte Rückseite des Titelblatts handschriftlich folgenden
undatierten Widmungsbrief an Hess eingetragen hat:
Haner, der später nach vorübergehender Zuneigung zur Reformation in irenischem Geist Glied der römischen Kirche blieb, forderte in diesem Brief Hess auf, die Wittenberger Thesen kritisch an der Heiligen Schrift zu prüfen und so das Gold vom Schmutz zu trennen, denn viele Thesen böten einen schönen Schein, jedoch nicht die Wahrheit. Haner hat ansonsten nur noch am Schluss der Thesensammlung notiert, dass die Thesensammlung insgesamt 1084 Thesen enthält.9 Diese Zahl bezieht sich nur auf die im Druck enthaltenen Thesen, nicht auf die im Anschluss an den Druck folgende handschriftliche Sammlung Wittenberger Thesenreihen, die die gedruckte Sammlung um weitere Thesenreihen ergänzt. Diese Sammlung ist von einem unbekannten Schreiber geschrieben, der auch in dem Baseler Thesendruck einen Druckfehler korrigiert hat.10
Wahrscheinlich hat Hess die gedruckte Thesensammlung zusammen mit zusätzlichen Papierlagen vor und hinter dem Druck binden lassen. Ob die handschriftliche Thesensammlung vor oder nach dem Binden niedergeschrieben wurde, ist unklar.11Hess stand seit seiner Wittenberger Studienzeit und Lehrtätigkeit (1510–1513) von Schlesien aus durch Briefwechsel und gelegentliche Reisen nach Wittenberg12 mit den dortigen Freunden in Kontakt und konnte auf diesem Weg die jeweils aktuellen Wittenberger Thesen bezogen und gesammelt haben. Ein anderer Schreiber hat sie in der vorliegenden Handschrift zusammengestellt.13 Dass Hess die Handschrift als Ergänzung der vorgebundenen gedruckten Thesensammlung benutzt hat, zeigen Notizen von Hess auf dem Titelblatt des Druckes: Er hat das auf dem Titelblatt des Thesendrucks abgedruckte Inhaltsverzeichnis durch Titel aus der handschriftlichen Thesensammlung erweitert. Ferner hat er zwei Thesenreihen in der handschriftlichen Sammlung durchgestrichen, da diese bereits im Thesendruck enthalten waren.14 Zur Datierung der Niederschrift der handschriftlichen Sammlung lassen sich folgende Gesichtspunkte anführen: Die handschriftliche Sammlung enthält Thesenreihen, deren Entstehungszeiten bis etwa Ende 1522 gehen.15Hess hielt sich im Mai 1523 in seiner Heimatstadt Nürnberg auf.16 Vermutlich hat ihm sein Freund Haner damals die gedruckte Basler Thesensammlung verehrt. Am 21. Oktober 1523 wurde Hess als Prediger in Breslau eingesetzt.17 Da das für die Thesenhandschrift verwendete Papier ein Wasserzeichen enthält, das 1524 in Breslau18 belegt ist, dürfte die Sammlung 1523/24 in Breslau geschrieben worden sein.
Die insgesamt 23 Thesenreihen enthaltende Sammlung lässt sich in drei Teile untergliedern. Sie beginnt in einem ersten Teil mit drei chronologisch geordneten, gegen die scholastische Theologie und Philosophie gerichtete Thesenreihen der Jahre 1517/1819: Karlstadts vorliegende Thesen vom 26. April 1517, Luthers Thesen Contra scholasticam theologiam vom 4. September 1517 sowie Luthers Thesen zur Heidelberger Disputation vom 25. und 26. April 1518.20 Der zweite Teil besteht aus neun Thesenreihen, über die zwischen September 1519 und November 1522 aus Anlass von akademischen Promotionen disputiert wurde.21 Schließlich folgen in einem dritten Teil elf Thesenreihen, die für die wöchentlich stattfindenden Zirkulardisputationen aufgestellt worden waren.22 In den letzten beiden Teilen lässt die Reihenfolge, in der die Thesenreihen angeordnet sind, keine systematischen Gliederungsgesichtspunkte erkennen.
9 + 56 (Druck) + 94 Bl
zeitgenössische Abschrift unbekannter Hand23
Frühdrucke:
Centum quinquagintavnū concluones de ‖ natura/lege gr̄a/cōtra ſcolaſticos et vſum cōeȝ.D.A. Carolostadij.
in:
Martin Luther, Andreas Karlstadt, Philipp Melanchthon u.a.
Inſignium theologoꝛū ‖ Domini Martini Luthe⸗‖ri/domini Andꝛee Caroloſtadij/ ‖ Philippi Melanthonis et ‖ aliorū/cōcluōes ‖ varie/ꝓ diui‖ne gratie ‖ defenone ac cōmendatione: contra ſcola‖ſticos pelagianos:diſputate ‖ in preclara academia ‖ Vvittenbergen. ‖ ✠ ‖ ⁌Lege lector afficieris/verſa facie ‖ catalogum inuenies. ‖ [TE]
[Leiden]: [Jan Seversz], [1521], pag. 12–18 (= B2v–C1v).
4˚, 12 paginierte Bl., A4–C4.24
Editionsvorlage:
Biblioteca valdese, Torre Pellice, A.III.12.64.Weitere Exemplare: Bodleian Library, Oxford, Tr. Luth. 39 (195). — Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen, 24,35.
Bibliographische Nachweise:
- Benzing/Claus, Lutherbibliographie, Nr. 85.
- Nijhoff/Kronenberg, Bibliographie, Nr. 4516.
Diese erste gedruckte Sammlung Wittenberger Thesen enthält insgesamt 17 nach Verfassern geordnete Thesenreihen aus den Jahren 1517 bis 1520. Nach sieben Luther zugeschriebenen Thesenreihen25 folgen drei von Karlstadt, eine von Melanchthon sowie sechs von »gewissen anderen Doktoren«26, von denen eine den Namen des Johannes Dölsch27 trägt. Da über die späteste datierbare Thesenreihe um Oktober 152028 disputiert wurde, wird der Druck im Jahr 1521 erschienen sein. Eine Spur der Wittenberger Disputationsthemen und Ereignisse des Jahres 1521 findet sich in dem Druck nicht.
Der ungenannte Herausgeber der Thesensammlung hat allen Thesenreihen neue Überschriften gegeben: Neben dem Verfassernamen und der Anzahl der Thesen hat er thematische Überschriften formuliert, die wesentliche Inhalte der Thesenreihen stichwortartig zusammenfassen. Diese Überschriften stellte er in einem der Ausgabe vorangestellten Inhaltsverzeichnis (S. 2) so zusammen, dass man die Thesensammlung als Handbüchlein reformatorischer Loci verwenden konnte. Die gegen die scholastischen Theologen der via moderna gerichtete Thesenreihe Luthers vom 4. September 1517 betitelte er: De gratia et natura/ contra scholasticos et pelagianos. Die Thesen Karlstadts erhielten die inhaltlich ähnliche Überschrift: De natura/ lege et gratia/ contra scolasticos et usum communem. Der Herausgeber bringt zutreffend zum Ausdruck, dass Karlstadt sich expliziter als Luther gegen die theologische Scholastik insgesamt wandte. Richtig hat er auch wahrgenommen, dass die Erfüllung und das Verstehen der lex dei bei Karlstadt breiten Raum einnehmen. Andere Themen wiederum hat der Herausgeber mit seinen Stichworten nicht erfasst. Die Überschriften, in denen der Herausgeber seine eigenen Akzente setzte, sind als eine Quelle der Rezeption der Wittenberger Theologie der Frühreformation zu lesen.
Centum quinquaginta vnum concluſ iones de na ‖ tura,lege & gratia:contra ſcholaſticos & vſum cō ‖ munem.D.A.Caroloſtadij.
in:
Andreas Bodenstein von Karlstadt
INSIGNIVM THEOLOGORVM ‖ Domini MartiniLutheri,dominiAndree ‖ Baroloſtadij , Philippi melan ‖ thonis & aliorum ‖ conclu⸗‖ſiones varię, pro diuinæ gratiæ defenſione ‖ ac commendatione,contra ſco‖laſticos & pelagianos ‖ diſputate in præ⸗‖clara academia. ‖ Vvittembergenſi. ‖ Lege leor & afficieris verſafacie catalogum ‖ inuenies.
[Paris]: [Pierre Vidoué], [1521?], C1r–D1v.
4°, 18 Bl., A–C4, D6.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, M: Li 5530 Slg. Hardt (38, 662).Bibliographische Nachweise:
- Benzing/Claus, Lutherbibliographie, Nr. 86.
- Brieger, Thesen, 480.
- Hammer, Militia Franciscana 1, 55.
- Moreau, Inventaire 2, Nr. 2406.
Die Pariser Ausgabe stellt einen Nachdruck des Druckes A dar. Es wird daher angenommen, dass er im Jahr 1521 erschienen ist. Der Text wurde insofern bearbeitet, als einige erkennbare Druckfehler des Druckes A in B behoben wurden. Andererseits sind in B wiederum neue Druckfehler in den Text geraten. Die in dem Wolfenbütteler Exemplar des Druckes B enthaltenen Notizen des Abtes Heino Gottschalk, der über mehr als zwei Jahrzehnte Wittenberger Thesenreihen gesammelt30 und abgeschrieben hat31, bringen für die Edition insofern einen Gewinn, als Gottschalk nicht nur Druckfehler korrigiert, sondern an einer Stelle einen in allen drei Überlieferungen fehlerhaften Text korrigiert hat32.
Edition:
- Kolde, Disputationsthesen, 450–456 (textkritische Integration von a und B).
Literatur:
- Riederer, Disputationen, 63–66.
- Kolde, Disputationsthesen, 448–456.
- Barge, Karlstadt 1, 75–87, 463f.
- Kähler, Karlstadt, 8*–37* (Abdruck der Thesen nach Kolde, mit Kommentar).
- Kruse, Universitätstheologie, 89–94.
- Leppin, Reformation, 31f. (Übersetzung ausgewählter Thesen).
Riederer, Disputationen, 63–66: Identifizierung der bis dahin als verloren geltenden Thesen nach dem heute in Torre Pellice befindlichen Exemplar von Druck A.
2. Inhalt und Entstehung
Nach den Statuten der Universität Wittenberg aus dem Jahr 1508 war der Heilige Augustin der Schutzpatron der Universität.33 Dieser wird auch im Eingang der Statuten der theologischen Fakultät34, die deren Dekanatsbuch vorgebunden sind und vor der Dekanwahl vorgelesen wurden35, genannt36. Karlstadt hat, als er im Sommersemester 1512 erstmals Dekan der theologischen Fakultät war37, Augustin als Universitätspatron ausdrücklich gewürdigt. Als er im Dekanatsbuch die Promotion des Johann Dölsch zum Baccalaureus formatus eintrug, die am Vortag des Festes des Heiligen Augustin (27. 8. 1512) stattfand, fügte er zum Namen Augustins – über das übliche Formular der Promotionseinträge hinausgehend – hinzu: »der besondere Patron dieser nährenden Universität«38. Hier spiegelt sich ein Element der Augustinverehrung Karlstadts in seiner scholastischen Phase wieder. Augustinzitate waren ihm in dieser Zeit aus der Literatur bekannt, mindestens aus den Sentenzen des Petrus Lombardus und aus dem Decretum Gratiani. In seinen beiden scholastischen Schriften De intentionibus und Distinctiones zitiert Karlstadt viermal Augustin, entnommen aus Thomas von Aquin.39 In den im Sommer 1516 von Karlstadt aus Giovanni PicosApologia übernommenen 13 Thesen wird Augustin einmal zitiert, wobei dieses Zitat von Pico aus Heinrich von Gent übernommen wurde.40
In diesem Licht kann man davon ausgehen, dass bei Karlstadt schon eine gewisse Offenheit und ein Interesse für Augustin vorhanden war, als Luther in seiner Disputation vom 25. September 1516 »de viribus et voluntate hominis sine gratia«41 insbesondere Gabriel Biel und dessen Vorläufern (Duns Scotus, Pierre d’Ailly) widersprach und sich hierfür durchgehend auf Bibelstellen sowie auf antipelagianische Schriften Augustins bezog. Luther erfuhr in dieser Disputation Widerspruch von Fakultätsmitgliedern, darunter auch von Karlstadt42, den Luther nach Karlstadts Bericht aufforderte, selbst die Kirchenväter zu lesen und dann zu urteilen43. Karlstadt beschloss daraufhin, Kirchenväterausgaben zu kaufen, da er bis dahin keine einzige besaß.44 Am 13. Januar 1517 erwarb Karlstadt in Leipzig die Werke Augustins.45 Die Wirkung der nun folgenden intensiven Lektüre Augustins beschreibt Karlstadt in der an Staupitz gerichteten Widmungsvorrede zu seinem Augustinkommentar nach Art eines Bekehrungserlebnisses, das ihn zum Bruch mit seiner eigenen scholastischen Vergangenheit führte. Die noch vor Beginn der Vorlesung über AugustinsDe spiritu et littera publizierten 151 Thesen, die zum größeren Teil aus Augustinzitaten bestehen oder aus solchen entwickelt sind, stellen den ersten literarischen Ertrag von Karlstadts Augustinlektüre dar.
Karlstadts Wende ist innerhalb der auf den Kauf der Augustinausgabe folgendenen beiden Monate erfolgt. Luther schreibt in einem fragmentarisch erhaltenen Brief am 28. März [1517] an einen unbekannten Ordensbruder: »Karlstadt ist bereit, auch als einzelner mit Freude allen derartigen Sophisten und Juristen entgegenzutreten. Er wird es ausführen und damit Erfolg haben. Gepriesen sei Gott. Amen.«46Luther hatte zu jenem Zeitpunkt schon Kenntnis von Karlstadts Plan eines Frontalangriffs auf »alle, die man scholastische Doktoren nennt«47. Einen Monat später nutzte Karlstadt das Ablassfest des Allerheiligenstifts als Gelegenheit für eine medienwirksame Verbreitung seiner Thesen: Am Sonntag Misericordia Domini (26. April) sowie am darauf folgenden Tag der Reliquienweisung in der Schlosskirche (27. April) hängte Karlstadt seine Thesen öffentlich in Wittenberg aus und übersandte sie am 28. April an Georg Spalatin in der Annahme, dass dieser sie auch Kurfürst Friedrich zur Kenntnis bringen werde.48 Das Fest der Reliquienweisung49 war mit einem Jahrmarkt, der auf dem Markt in der Nähe der Stadtkirche stattfand, verknüpft, auf dem auch auswärtige Buchführer vertreten waren. Am 26. April hat Karlstadt bei einem der Buchhändler die Augsburger Ausgabe der Predigten Taulers von 1508 gekauft.50Karlstadt hatte also einen Publikationstermin gewählt, der für die rasche Verbreitung seiner Thesen besonders günstig war.
Nach den Statuten der theologischen Fakultät in Wittenberg aus dem Jahr 1508 hatte der Dekan die Aufgabe, die Disputationen mit Namen des Präses und des Respondenten sowie gegebenenfalls weiteren Daten an den Türen der Wittenberger Kirchen bekannt zu machen. Dies erfolgte durch den vom Pedell der Fakultät auszuführenden Aushang der Thesenblätter, die im Kopf die entsprechenden Daten aufwiesen.51 Als Anschlagsort kamen die Schlosskirche, die Stadtkirche St. Marien sowie die Kirchen des Augustiner- und des Franziskanerklosters in Frage. Als Dekan für das Wintersemester 1516/17 war zwar der Augustiner Johann Hergot gewählt worden, dessen letztes Lebenszeichen jedoch vom 19. November 1516 stammt; an diesem Tag führte er den Vorsitz bei der Promotion des Dominikaners Johannes Heinrici zum Baccalaureus formatus.52 Am 23. März 1517 vermerkte Karlstadt anlässlich des Eintrags der Promotion Heinricis zum Lizentiaten im Dekanatsbuch, dass er als Vizedekan amtierte53, wozu statutengemäß bei Verhinderung des Dekans der Dekan des vorhergehenden Semesters (Prodekan), verpflichtet war54. Als Karlstadt seine Thesenreihe anschlug, tat er dies zumindest auch in seiner Rolle als Vizedekan.
Wir können davon ausgehen, dass Karlstadt seine Thesenreihe in Form eines Einblattdrucks veröffentlichte. Dafür sprechen die vorliegenden Daten über deren Verbreitung. Neben dem am 28. April von Karlstadt an Spalatin geschickten Exemplar, wissen wir von mindestens fünf Exemplaren, die Luther am 6. Mai an Christoph Scheurl in Nürnberg geschickt hat. Eines dieser Exemplare sollte Scheurl an Wenzeslaus Linck weitergeben.55 Weitere Exemplare leitete Scheurl an Johannes Eck, Erhard Truchsess, Dekan des Domstifts in Eichstätt, sowie an Kilian Leib, Prior des Augustinchorherrenstifts in Rebdorf weiter.56
Karlstadt publizierte ursprünglich insgesamt 152 Thesen (»conclusiones centum quinquaginta duas«), wie er am 28. April 1517 an Spalatin schrieb.57 Während in den Drucken A und B nur 151 Thesen abgedruckt sind, bietet die Berliner Handschrift a eine in den Drucken fehlende These, nämlich die 109. These der Handschrift: »Lex evangelii scripta est vetus«. Damit sind zwar bei genauer Zählung insgesamt 152 Thesen überliefert. Da in der Handschrift jedoch nach der 111. These58 eine These ungezählt geblieben ist59, sind in der Handschrift im Endergebnis auch nur 151 Thesen gezählt worden.
Der anzunehmende Einblattdruck der Thesen ist verschollen. Wie er formal gestaltet war, lässt sich rekonstruieren mit Hilfe des Einblattdrucks von Luthers später unter dem Titel Contra scholasticam theologiam tradierten Thesen, über die am 4. September 1517 Franz Günther unter dem Vorsitz Luthers für die Promotion zum Baccalaureus biblicus respondierte.60 Ein Exemplar dieses Einblattdrucks ist in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel erhalten.61 Die Überschrift bietet die formalen Daten: Respondens, Disputationsanlass und Präses. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung stand der Termin noch nicht fest, weshalb ersatzweise gesagt wird: »loco et tempore statuendis«.62 Der Disputationstermin konnte also gegebenenfalls nach der Veröffentlichung der Thesen zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben werden. Die Thesen sind in vier Blöcke zu je 25 Thesen eingeteilt, wobei jeder Block gesondert von »i« bis »xxv« durchgezählt ist.63 Der Grund für die auch anderweitig begegnende Einteilung von Thesenreihen in mehrere jeweils gesondert durchgezählte Blöcke, ist nicht erforscht. Sie dürfte mit dem Disputationsverfahren zusammenhängen. Neben dem Thesentext enthält ein Teil der Thesen Luthers eine jeweils mit »Contra« beginnende Abgrenzung gegen die Scholastiker allgemein oder auch gegen namentlich genannte Lehrer, zum Beispiel: »Contra communem«, »Co'ntra' Sco'lasticos'. Gab'rielem'« usw. Diese Contra-Bemerkungen stehen nicht am Blattrand, sondern noch in der letzten Zeile der jeweiligen These, allerdings räumlich vom Thesentext dadurch abgehoben, dass sie vom Thesentext mit einem großen Spatium zum rechten Rand hin abgerückt sind.
Ein Blick auf die Wiedergabe der Thesenreihe Karlstadts im Leidener Druck A zeigt, dass der verlorene Einblattdruck dieser Thesenreihe eine dem beschriebenen Thesenblatt Luthers vergleichbare formale Gestaltung aufgewiesen haben dürfte. Auch hier sind die zahlreichen Contra-Bemerkungen vom Thesentext nach rechts augenfällig abgerückt, stehen aber nicht am Rand. Ferner sind hier die Thesen in Blöcke von sieben mal 20 Thesen und einen Block zu 10 Thesen untergliedert, der eine abschließende ungezählte Schlussthese folgt.64 Angesichts der formalen Parallele zu dem Lutherschen Thesenblatt legt sich der Schluss nahe, dass der Herausgeber des Drucks A der Thesensammlung die Zählung und Gliederung der Thesenreihe Karlstadts aus dem angenommenen Einblattdruck übernommen hat. Die Handschrift a allerdings bietet abweichend von den Drucken eine fortlaufende Durchzählung der Thesenreihe.65 Auch diese Art der fortlaufenden Zählung geht auf Karlstadt selbst zurück. Denn in seinem Augustinkommentar (KGK 064), in dem er häufig auf einzelne Thesen bzw. die von ihm dazu verfassten Explicationes (KGK 062) verweist66, hat er eine fortlaufende Zählung verwendet, und seine Zählung stimmt mit der Zählung der Berliner Handschrift weitgehend überein67. Dieser Befund lässt sich folgendermaßen erklären: Karlstadt hat für die ursprünglich geplante große Disputation über die 151 Thesen zunächst eine Fassung veröffentlicht, in der die Thesenreihe in Blöcke untergliedert war, jedoch für die Kommentierung der Thesen und deren weitere Verwendung im akademischen Lehrbetrieb eine leichter zitierbare Fassung mit fortlaufender Zählung erstellt oder erstellen lassen.
Der unbekannte Kompilator und Herausgeber der Leidener Thesensammlung hat seinerseits bei allen Thesenreihen im Kopf die formalen Daten (Respondens, Praeses, Termin etc.) gestrichen und durch die oben beschriebenen Überschriften ersetzt. Den ursprünglichen Kopftext der Thesenreihe bietet in unserer Thesenreihe die Berliner handschriftliche Thesensammlung a: »Bartholome'us' BernhartFeltkyrchen'sis' theologie baccalau'reus' sub d'omino'Andree Carolstaten'si' theologie docto're'«, vermutlich in einer stilistisch gekürzten Form. In anderer Hinsicht hat jedoch der Schreiber der Handschrift in die Textgestalt verändernd eingegriffen, insofern er alle Contra-Bemerkungen in seiner Abschrift weggelassen hat. Doch waren diese Contra-Bemerkungen in der von ihm verwendeten Vorlage erkennbar noch vorhanden: An einer Stelle hatte der Schreiber nämlich begonnen, eine Contra-Bemerkung seiner Vorlage abzuschreiben, diese jedoch wieder getilgt, als ihm sein Versehen bewusst wurde.68
Die Handschrift a bietet gegenüber den Drucken A und B eine Reihe besserer Lesarten, enthält aber andererseits auch einige Abschreibfehler, die durch die Drucke korrigiert werden können. Die Drucke wiederum enthalten Druckfehler, die in unserer Edition nach der Handschrift korrigiert werden. Die beschriebenen Befunde zeigen, dass weder die Drucküberlieferung noch die handschriftliche Überlieferung den originalen Text des verschollenen Einblattdrucks bieten. Jedoch ist es möglich, aus beiden Überlieferungssträngen den usprünglichen Text des Einblattdrucks annähernd zu rekonstruieren. Die nicht in den rekonstruierten Text aufgenommenen Lesarten werden im textkritischen Apparat mitgeteilt.
Am Anfang jeder These bieten wir zunächst die fortlaufende Zählung nach der Berliner Handschrift69, nach der die Forschung seit Theodor Koldes Edition (1890)70 zitiert, daneben die Zählung nach dem Druck A, die in Druck B übernommen wurde. Obwohl Karlstadt ursprünglich 152 Thesen zählte, verzichten wir darauf, unsererseits eine weitere Zählung von 1 bis 152 hinzuzufügen, sondern drucken die Befunde der Überlieferung unverändert ab.
In Verbindung mit der Übersendung der Thesen an Spalatin teilte Karlstadt am 28. April sein Vorhaben mit, über diese Thesen mehrere Tage disputieren zu wollen. Er regt an, der Kurfürst möge Theologen aus seinem Herrschaftsbereich zur Teilnahme an diesem »theologischen Wettstreit« abordnen.71Karlstadt plante also angesichts der Grundsätzlichlichkeit der in den Thesen formulierten Verwerfung der hergebrachten theologischen Scholastik und deren Ersatz durch eine neue Theologie ohne Aristoteles, gegründet auf die Schrift und die Kirchenväter, eine große Disputation unter Teilnahme auswärtiger Gäste. Dafür hatte er die Fakultätsstatuten hinter sich, die den Professoren neben den Promotionsdisputationen und den wöchentlichen Zirkulardisputationen je eine öffentliche und feierliche Disputation jährlich nahelegten.72 Diese Regelung scheint im vorgesehenen Umfang nicht praktiziert worden zu sein, da die Quellen über derartige Disputationsakte in vorreformatorischer Zeit schweigen. Karlstadt hatte allerdings schon 1509, damals Baccalaureus theologiae formatus73, in einer außerordentlichen Disputation, die er in Halberstadt unter Beteiligung des dortigen Klerus abhielt, nach einer am 12. Februar 1510 von seinem Kollegen Otto Beckmann in Wittenberg gehaltenen Rede Anerkennung gefunden. Dort habe er »in sacris litteris«, also über theologische Fragen, scharfsinnig disputiert, obwohl er dort keine Bücher habe konsultieren können.74
Wenn Luther mit der Veröffentlichung seiner 95 Thesen gegen den Ablass eine Disputation in Wittenberg ohne Nennung eines Termins ankündigte, so geschah auch dies in der Absicht, auswärtigen Gästen die Beteiligung an dieser außerhalb des laufenden Lehr- und Prüfungsbetriebs liegenden Disputation zu ermöglichen. Im Kopftext bittet Luther, »dass die, die nicht in Anwesenheit mündlich mit uns debattieren können, dies in Abwesenheit schriftlich tun«75. Ebenso wie es in den Quellen keinen Hinweis gibt, dass die von Luther angestrebte große Disputation über Ablassfragen stattgefunden hätte, so scheint sich auch Karlstadts Hoffnung auf eine mehrtägige Disputation der 151 Thesen mit auswärtigen Gästen nicht erfüllt zu haben. Als Respondenten hatte er im Kopftext Bartholomäus Bernhardi genannt. Damit wurde in diesem Fall keine Prüfungsdisputation angekündigt, denn Bernhardi hat im Sommersemester 1517 keinen akademischen Grad erworben. Jedoch hatte am 25. September 1516 unter Luthers Vorsitz Bartholomäus Bernhardi für die Promotion zum Sententiar über die Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputiert, in der Bernhardi und Luther antipelagianische Positionen Augustins thematisierten76. Daher dürfte sich Bernhardi für die Diskussion von Karlstadts ähnlich ausgerichteten Thesen als ein einschlägig erfahrener Disputationspartner angeboten haben. Auch könnte Bernhardi vielleicht derjenige Anonymus gewesen sein, der bei Thomas von Aquin Zitate aus AugustinsDe spiritu et littera fand, diese bei Augustin nicht verifizieren konnte und sich deswegen um Hilfe an Karlstadt wandte: »Er bat, ich möge die Lektüre jenes Büchleins vorziehen, damit wir in der Disputation nicht überwunden würden.«77
Karlstadt scheint die Thesen im Rahmen der wöchentlichen Zirkulardisputationen mit Studenten disputiert und/oder im Rahmen eines diesen Thesen gewidmeten Kollegs kommentiert zu haben. Denn er hat zu diesen Thesen Explicationes bzw. Probationes78 verfasst. Am 5. Februar 1518 schreibt er an Spalatin, er wolle die Explicationes gerne drucken lassen und sie dem Kurfürsten widmen, wenn dieser ihm eine Beihilfe von 30 Gulden für die Papierkosten gewähren könnte. Dabei hebt Karlstadt hervor, dass er in den Erklärungen der Thesen zugleich Regeln zur Interpretation der Heiligen Schrift erläutert habe.79 Zur Drucklegung der Explicationes ist es offenbar nicht gekommen, jedoch hat Karlstadt diese, wie er im Augustinkommentar mehrfach sagt, den Studenten diktiert.80 Daher kann er in der Vorlesung die Hörer häufig auf jene Explicationes verweisen.
Inhaltlich ist Karlstadts Thesenreihe von hermeneutischen Regeln gerahmt. In den Thesen 1 bis 7 formuliert er Grundsätze, die insbesondere das Problem reflektieren, wie bei Widersprüchen innerhalb der Schriften eines Kirchenvaters oder zwischen den Kirchenvätern zu verfahren sei. Dabei steht allerdings letztlich die Autorität der Schrift über der der Kirchenväter. Denn bei Widersprüchen zwischen dicta der Kirchenväter gelten diejenigen, die sich auf die eindeutigeren Schriftbeweise stützen.81 In Fragen der Ethik (»in moralibus«) stehe allerdings die Autorität Augustins an erster Stelle vor anderen Kirchenvätern (Th. 7). Karlstadt zeigt das Bewusstsein, mit seinen Regeln Neuland zu betreten, indem er sich sowohl gegen viele Scholastiker als auch gegen die Kanonisten abgrenzt. Die letzte These (151) bietet eine Metareflexion über die Funktion des Disputierens in der Theologie: »Die unerschöpfliche Autorität der Wahrheit82 wird besser verstanden, wenn sie häufiger diskutiert wird, und führt so zu einem übereinstimmenden Verständnis, das sie hinter den sichtbaren Reden83 verbirgt.« Dieses in Anlehnung an einen pseudoaugustinischen Text84 formulierte Schlusswort impliziert zugleich eine Einladung des Lesers zur Disputation.
Die folgenden anthropologischen Thesen über das Verhältnis des inneren und des äußeren Menschen (Th. 8–12) werden in einer Paradoxie zugespitzt: »Um den Scharfsinn zu üben wird behauptet werden, dass der innere Mensch der äußere ist, jedoch nicht umgekehrt« (Th. 12). Karlstadt hat das hier aufgestellte Paradox zum Gegenstand in einer anderen undatierten kurzen Thesenreihe gemacht85, die chronologisch zwischen die 151 Thesen und die Apologeticae Conclusiones gehört86.
In Th. 13–20 wird die bleibende Neigung des Menschen zur Sünde trotz der Tilgung der Erbsündenschuld (Th. 13f.) und der »vollkommenen Vergebung der Sünden« im Taufsakrament (Th. 15) betont. Geschickt wählt Karlstadt als Beispiel für die wieder auflebende Sünde das »vermeintlich gute Werk«, an dem sich der Mensch selbstsicher erfreut (Th. 20). Dieses Beispiel ist insofern eine Zuspitzung, als es implizit auch Aspekte der herrschenden Ablassfrömmigkeit in Frage stellt und Karlstadt als Kanoniker des Allerheiligenstifts diesen Sitz im Leben seiner Thesen, die er am Vortag und am Tag des mit Reliquienzeigung verbundenen Wittenberger Ablassfestes aushängte, nicht übersehen haben kann. Denn an diesen Tagen waren in Wittenberg die Beichtväter aktiv, die den Beichtkindern die volle Vergebung ihrer Sünden zusprachen als Voraussetzung dafür, dass sie anschließend durch das gute Werk ihrer andächtigen Betrachtung der Reliquien, der vorgeschriebenen Gebete und ihrer Almosen nun auch auf den Erlass von Fegfeuerstrafen für ihre Sünden vertrauen konnten. Wir müssen uns vor Augen führen, dass Karlstadts an den Kirchentüren ausgehängte Thesenblätter zumindest an der Allerheiligenkirche in räumlicher Nähe zu den in jener Zeit üblichen Werbeplakaten für die Ablässe des Allerheiligenstiftes hingen.87
Die Thesen 21–59 behandeln das Thema, das Karlstadt bis zur Leipziger Disputation und dem sich anschließenden literarischen Schlagabtausch mit Eck am meisten beschäftigt hat, das Verhältnis von göttlicher Gnade und dem natürlichen Willen des Menschen, von der Unfähigeit des Menschen zu sittlich gutem Handeln, das nicht von Gott selbst gewirkt ist. In These 39f. erhebt Karlstadt erstmals explizit den Häresievorwurf gegen eine herrschende scholastische Meinung: »39. Bei keinem guten Werk beginnen wir. Gegen dieselbe [näml. herrschende Meinung]. 40. Es ist häretisch, zu behaupten, dass Gott bei seinen Gaben der spätere und wir die früheren sind.« Die Scholastik hat die letztere Behauptung zwar in dieser Form nicht aufgestellt. Nach Karlstadt ist jedoch das gute Werk allein dem Wirken Gottes zu verdanken; wer dem Menschen einen Anfangsbeitrag zum guten Werk zugestehe, müsse logischerweise die als häretisch bezeichnete Schlussfolgerung ziehen.88 Durch die Einführung des Häresie-Begriffs macht Karlstadt deutlich, dass für ihn die erwartete Disputation mehr als ein intellektuelles akademisches Turnier ist, sondern dass er ihr auch eine kirchenrechtlich relevante Verbindlichkeit zuschreiben möchte.
Mit dem Satz »Es stürzt zusammen, dass Augustin gegen die Häretiker übertrieben (›excessive‹) geredet habe« (Th. 60) grenzt sich Karlstadt von nominalistischen Theologen wie Gabriel Biel ab, denen bestimmte Aussagen Augustins in dessen antipelagianischen Schriften zu extrem erschienen. Karlstadt spielt auf das in diesem Zusammenhang geläufige Beispiel der ungetauft verstorbenen Säuglinge an, die weder Gutes noch Böses getan haben und dennoch auf Grund der Erbsünde verdammt werden (Th. 61–64). Luther hat die in Th. 60 von Karlstadt formulierte Zurückweisung der Augustinkritik der via moderna in der 1. These der Disputatio contra scholasticam theologiam am 4. September 1517 als Einstieg gewählt, und Karlstadt ging in Th. 264–287 der Apologeticae Conclusiones ausführlicher auf die angeblich »exzessive« Redeweise Augustins und das Schicksal der ungetauft verstorbenen Kinder ein.
Das Thema »Gesetz und Gnade« nimmt in der Thesenreihe breiten Raum ein (Th. 65–110). Das biblische Gesetz führt zur Sündenerkenntnis (Th. 68f.) und ermahnt durch das äußere Wort, Gott zu suchen (Th. 70–72); letzteres aber wirklich zu wollen, ist ein Werk der inneren »verborgenen Inspiration« Gottes. Die Rechtfertigung folgt nicht der Erfüllung des Gesetzes, sondern geht ihr voraus (Th. 83). Derselbe Gedankengang wird mit Hilfe der Dialektik von littera (Gesetz ohne die Gnade) und spiritus (Gesetz in der Gnade) ausgeführt (Th. 84), worin sich die Lektüre von Augustins Schrift De spiritu et littera wiederspiegelt, über die Karlstadt im Anschluss an die Thesenreihe bis etwa Ende 1518 seine Vorlesung hielt. Der Geist ermöglicht die Erfüllung des Gesetzes, die das Gesetz fordert (Th. 85–90). Nachdem Karlstadt sowohl die Distinktionen des Duns Scotus als auch die des Thomisten Johannes Capreolus, mit denen diese die Fähigkeit des Menschen zu einer wenigstens unvollkommenen Gesetzeserfüllung auch ohne die göttliche Gnade begründen, zurückgewiesen hat (Th. 91–100), legt er die Grundlage für seine Bibelhermeneutik (Th. 101–110). Mit den Begriffen »Gesetz« und »Evangelium« bezeichnet er nicht das Alte bzw. Neue Testament, vielmehr sind sowohl das Alte als auch das Neue Testament »alt« bzw. »Buchstabe«, wenn sie ohne den von Gott geschenkten Glauben gelesen werden: »Das geschriebene Gesetz des Evangeliums ist alt.« (Th. 109) Und umgekehrt ist im Alten Testament, mit dem ins Herz gegossenen Geist als lex fidei gelesen, das Evangelium enthalten: »Dieselbe Gnade, die im Evangelium Christi mitgeteilt ist, lag auch im Alten Testament verborgen« (Th. 107). Eben diese Hermeneutik wird Karlstadt 1521 in seiner Schrift De legis littera weiter entfalten und differenzieren.
Das im Rahmen der Augustinrezeption bedeutsame Thema der Prädestination wird in den Thesen 111–133 erörtert, wobei auffällt, dass in diesem Teil relativ viele eigene Formulierungen Karlstadts neben den aus Augustin geschöpften stehen. Karlstadt übernimmt von Augustin die Lehre von der doppelten Prädestination (Th. 111, 121). Der detaillierte Vergleich mit dem zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der 151 Thesen in Wittenberg bekannten Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis des Johannes von Staupitz bleibt eine Aufgabe der Forschung. Im Herbst 1520 wird Karlstadt das Thema Prädestination in einer weiteren Thesenreihe De tribulationis et praedestinationis materia89 erneut aufgreifen und mit einem 1517 noch nicht vorhandenen Aspekt verbinden, nämlich mit der Bewährung des Auserwählten im Leiden. Damit reagiert er auf das in der veränderten kirchenpolitischen Situation aufkommende Bedürfnis nach einer Märtyrererziehung.
Die bleibende Sünde im Gerechtfertigten (Th. 134–150) bringt Karlstadt in freier Anlehnung an Augustin auf die Formel: »Iustus ergo simul est bonus et malus: filius dei et filius seculi« (Th. 138). Im Rahmen von Reflexionen über das Wesen der Sünde stellt Karlstadt die Verwendung der aristotelischen Philosophie in der Theologie erstmals grundsätzlich in Frage: »Die Lehre des Aristoteles führt in den Schulen der Theologen zu einer üblen Mischung« (Th. 143). Damit weist er auch auf die Notwendigkeit einer Studienreform hin, die die Wittenbergertheologische Fakultät in den kommenden Semestern beschäftigen sollte und für die die Disputationen an der Fakultät die Funktion eines Schrittmachers hatten.