Nr. 57
Andreas Karlstadt an das Kapitel des Wittenberger Allerheiligenstifts
[Wittenberg], 1517, 19. April

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer und Martin Keßler

1. Überlieferung

Handschrift:

ThHStA Weimar, EGA, Reg. O 209, fol. 69r–70v (gestempelte Zählung)

Ausfertigung von Schreiberhand.

Der gesiegelte Brief ist nicht von Karlstadt, sondern einschließlich der Unterschrift von einem unbekannten Schreiber geschrieben worden. Diesem dürfte Karlstadts Konzept vorgelegen haben. Auf fol. 69r und fol. 70v ist mit 19. April 1517 das Datum korrekt aufgelöst. Auf fol. 70v findet sich eine nicht entzifferte ältere Archivsignatur.

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Nachdem die Umsetzung der kurfürstlichen Anweisung an Karlstadt nach abermaligem Reskript (KGK 056) wiederum im Verantwortungsbereich des Kapitels lag, setzte Karlstadt am 19. April 1517 abermals ein Schreiben an dieses auf. Er bittet es darum, sein Anliegen weiterhin dem Herzog gegenüber zu vertreten. Er hebt die jüngere und ältere Besetzungspraxis hervor. Ausführlich referiert er die Inkorporationszusammenhänge und betont, dass er das Archidiakonat nach seiner alten Rechtsverfassung übernommen habe. Zusätzlich zu den rechtlichen Implikationen berührt er den Aspekt eines persönlichen Verdienstes seiner akademischen Karriere in Wittenberg; in diesem Zusammenhang lässt er auch die angefallenen Promotionsgebühren nicht unerwähnt. Karlstadts Bitte an das Kapitel gilt einerseits einer Bewahrung der alten Rechte. Andererseits möge das Kapitel nochmals Karlstadts Ansprüche gegenüber dem Kurfürsten vertreten.

Am 29. April 1517 trug er sein Anliegen zunächst mündlich dem Kapitel vor, bevor er diesem sein Schreiben übergab. Dies geht aus einem Brief des Kapitels an den Kurfürsten vom 2. Mai 1517 hervor. Das Dokument berührt die Statutenrevision im Ganzen und geht eingangs auf Karlstadt und die betreffenden Passagen der Statuten ein. Es benennt als Datum der Kapitelversammlung den Mittwoch »noch zceigung des heilthumbs«1. Der Bericht des Kapitels zu dem Austausch mit Karlstadt gibt zu erkennen, dass sich die Pfründeninhaber von Lehen mit inkorporierten Pfarreien der Position Karlstadts uneingeschränkt anschlossen: »Wyr […] haben so selbst euer Churf'urstlichen' g'naden' meynung und schriffte Doctor Carolstadt unßeren Archidiacon belangendte horen leßen und im dem Archidiacon furgehalden, der uns darauff dan widerumb schrifftlich anthwort ubirreicht/ wie euer Churf'urstlich' g'nad' auf seinem hirinne gelegtem brieff vornehmen werden[.] Darneben ehr/ auch die andern ßo wer Incorporation halben lehen zu leihen haben unßerer mit Capitels bruder munthlich geredt/ das wie wol sie/ in ewerer Churf'urstlichen' g'naden' begriffen und ubir gesandten statuten Wie der buchstab des selbigen statuts lautet der massen vorstanden das itzlicher vom Capitel/ zu seinen lehn/ ßo ehr bebstlicher Incorporation halben zu leyhen/ ewer Churf'urstlichen' g'naden' einen nominiren solle bewilliget haben. Idoch die weil solich alienation des Ius patronatus von in und iren kirchen unbedechtig ungnad zuvormeiden bewilligt/ Nu aber mit besser betrachtung gefunden/ das sollich alienation mit recht und an beswerung irer gewissen und kirchen/ nit hat sein noch sie zu thun haben bewilligen mogen zu ewigem abbruch irer nachkommen und kirchen/ nach vorbot und ordenung geistlicher recht/ das ein itzlicher bei seinem ende nichts von seinenn dignitet und Lehn kommen lassen das geringeren und swechen/ sunder was dovon unbillich entzogen Wider do zu bringen sal[.] Derhalben sein gnanthe Archidiacon und sie des vorheffens mit undertheniger bitt/ das ewer Churf'urstlich' g'nad' auß hochem furstlichem vorstandt sie derhalben das sie bei iren eingeleibten kirchen gerechtikeiten als in zuthun geburt halten/ inen nichts verargen Noch uns in dem mit ungnad nicht vormerken das wir sie daran nit weißen/ das uns unßers vornehmens in Rechten nit erleubt ist zuvor die weil der Archidiacon und die anderen sich des stucks halben zcum rechten zcihen und erbottung sein«2

Zu den Befürwortern der von Karlstadt vertretenen Position gehörte der zeitgleich um seine Jurisdiktion am Allerheiligenstift kämpfende Propst Hennig Göde. Dieser wurde vom Kurfürsten am 6. Mai 1517 auf seinen neuerlichen Einsatz für Karlstadt angesprochen, wobei Erinnerungen an die Umstände der Romreise und eine damals gütliche Vermittlung durch den Kurfürsten anklingen: »So wist ir auch. welcher gestalt ir hievor doctor Karlstat widerwertig gewest und ir denselben uf unser furbit wider angenomen/ dem ir euch nu uns zu wider anhongig macht«3. Göde wies am 16. Mai 1517 zurück, »Das ich mich auch Doctor Karlstaten dem ich vormals widerwertig gewesn. von ersten E'wer' churf'urstlichen' g'naden' zcu widder anhengig gemacht«4, unter Hinweis auf seine persönliche und amtliche Integrität: »Wolte mich auch ungerne derhalben Doctor Karllsteten dem ich von wegen meyner person nit widerwertig byn geweßen/ Anders dan auß ursachen e'wer' g'naden'Stifft und universitet alhie belangt Ader ymandts anders zcuwidder E'wer' churf'urstlichen' g'naden' Die ich alczeit und noch fur andernn allen fursten und Churfursten geliebt/ anhengig machen/«5

Gegenüber dem Kapitel wählte der Kurfürst einen vergleichbaren Kurs, indem er es am 5. Mai 1517 an dessen Konflikte mit Karlstadt aus den Vorjahren erinnerte.6 Abermals verwahrte sich der Kurfürst gegen den erhobenen Rechtsanspruch und nahm das Kapitel in die Verantwortung, Karlstadt anzuweisen, zugunsten einer Vermeidung anderweitiger Konsequenzen von seinem Anliegen abzusehen. »Als ir unns yzo. doctor Andreas Karlstat Archidiaconn auch der Statuta halben geschriben/ haben wir alles inhalts vern'omme'n und nach dem uns dann/ doctor Karl'stat' von wegen dißer sachen hievor etlich malh selbs geschriben und sich in den selben schreyben understand'en' seinemm furnemenn/ vermeynte ursachen zu schapff'en'. die ime aber durch uns abgewendt und wir ime letzlich geschriben/ So hett'en' wir uns versehenn. wu ime daruber nod gewest/ weyter ann uns zugelang'en'/ dafur wir es doch nit achten mog'en'/ er wurd solchs durch sich. und nit durch euch getann haben/ Nach dem ir dann auch wist welcher gestalt/ Ir in gemeyn. auch ewer etlich besonder. euch hievor gegen uns beclagt/ daz sich derselb doctor Karlstat ungehorsamlich geg'en' euch gehalt'en'. und ir den uf unser furschrifft widerumb habt einkomenn lassen/ So hett'en' wir uns noch vil weniger versehen/ daz ir euch seyn in dem daz er selbs von eins Capittels wegen neben andernn gehandelt und sich nu darinnen widersetzig macht des er doch gar kein fug7 oder glympf8 hat wie ir verstet/ und er selbs nit hat verantwort'en' mog'en' solt angeno'mmen' und zubeschonenn understand'en' haben/ Aber wie demm so lassen. wir es bey dem/ wie wir euch und gedach'em' d'octor' Karlstat hievor in diser sachen geschribenn Und Begern nachmals wievor doctor Karlhstat zu weysen vonn seinen furnemenn abzusteenn/ domit wir zu ander handlung nit verursacht werdenn«9

Am 13. Mai 1517 trat das Kapitel in Wittenberg zusammen und nahm die Statuten in der letzten kurfürstlich überarbeiteten Textfassung an. Unter Beiziehung des Universitätsnotars Nikolaus Sybeth ließ es jedoch Vorbehalte notariell beglaubigen.10 Nach der Jurisdiktionsgewalt am Allerheiligenstift, für die ein Erhalt der alten Strukturen erreicht werden sollte11, folgte in dem Notariatsinstrument an zweiter Stelle das Präsentationsrecht, das der Kurfürst in der abschließenden Fassung nun generell für alle direkt oder indirekt dem Stift inkorporierten Pfarreien in Anspruch nahm. »Probst Archidiacon und Scholasticus«12, also Göde, Karlstadt und Matthäus Beskau13, unterwarfen sich nun zwar dem von der bisherigen Praxis abweichenden Machtspruch des Kurfürsten, machten aber in Form einer öffentlichen »Protestacion«14 den Vorbehalt, dass sie als bisherige Inhaber des Präsentationsrechts nun wenigstens das zuvor von der Universität ausgeübte Nominationsrecht für sich beanspruchen.15 Auch die anderen Stiftsherren wollten sich jenem Vorbehalt durch Annahme der Statuten nicht in den Weg stellen: »Auch dovon die anderen das sie inen disfahls durch diße annehmung des statuts nicht preiudiciren wollen/ offentlich protestirt haben«.16

Am 16. Mai, an dem Tag, an dem sich auch der Propst an den Kurfürsten wandte, schrieb das Kapitel an den Landesherren.17 Zur Präsentationsfrage heißt es: »mit der Presentation der eingeleibten pfarren halben/ den Probst Archidiacon Cantor und Scholasticum belangendt wolln sie sich in massen es von in und uns vorstanden vorwilligt und angenommen E'wer' Churf'urstlichen' g'naden' zu undertheinigem gefallen willig und gerne halden/ Alzo das ein itzlicher der ein lehen seiner eingeleibten Probestei ader pfarhalben zcuvorleihen hat/ die presentacion euer Churf'urstlichen' g'naden'/ szo viel es zurecht sein mag/ wird abtreten und volgen lassen/ allein/ das ehr unverhindert an alle einred/ einen von der Kirch ader Universitet do zu nominiren moge/ dan euer churf'urstlich' g'nad' wol weiß abzunehmen/ die weil vorhyn in den alden Statuten die nomination der selbigen lehen der Universitet gegeben was/ und die selbigen herren bei iren Presentacion bleiben solten wellichs sie sich doch beswerthen das itzt in neuen statuten als beides die presentacion und nominacion von iren eingeleibten kirchen zuvorgeben/ ist unßers vorstehens nicht gewest/ sie dovon/ durch unßer statuirung zu weisen/ wan wyr nicht vorsehen mugen das wyr das in recht zuthun macht haben«18 Weiter ergibt sich, dass Karlstadt bei seiner früheren Position bleiben wollte, den veränderten Statuten zwar zu folgen, für den umstrittenen Fall jedoch es bei der vorgenommenen Besetzung belassen zu wollen: »Was aber Doctor Carolstadt gethan/ lehst ehr in seinem werd/ und wiel es furder lauts des statuts halden«.19

Die weitere Korrespondenz zwischen dem Kurfürst und dem Kapitel zur Statutenrevision beschränkt sich auf drei Schreiben, die der Übersendung der rechtlich relevanten Texte vom 13. Mai 1517 gelten.20 Wie schon Barge vermutete21, ist davon auszugehen, dass der Kurfürst Karlstadts Verhalten in jenem Punkt tolerierte.


1ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 81v.
2Ebd.
3ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 86v (gestempelte Zählung); zur Datierung s. ebd., fol. 87r: »am Mittwoch nach dem sontag Jubilate. Anno etc. xvio In der Einleitung zu KGK 027 wird auf eine vergleichbare Passage in einem Brief des Kurfürsten an das Kapitel verwiesen; s. dazu Bubenheimer, Consonantia, 32 Anm. 91, unter Hinweis auf Barge, Karlstadt 1, 63 Anm. 87.
4ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 90r (gestempelte Zählung); Datumsangabe fol. 90v: »Sonnabendt nach Cantate Anno etc xvii«. Das Schreiben und der Passus werden erwähnt bei Barge, Karlstadt 1, 64 Anm. 88.
5Ebd. Auf dieses Schreiben und diesen Abschnitt bezieht sich Barge, Karlstadt 1, 64 mit Anm. 88.
6Diese Beobachtung machte bereits Barge, Karlstadt 1, 63 mit Anm. 87 unter Bezug auf das betreffende Schreiben. Barges Hinweis, das Schreiben sei undatiert, legt nahe, dass Barge das Dokument ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 83r–84v (gestempelte Zählung) nicht in seinem Zusammenhang erkannte, sondern mit dem ersten Blatt als abgeschlossen ansah.
7Recht; Götze, Glossar, 91.
8Billigkeit; Götze, Glossar, 109.
9ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 83r (gestempelte Zählung).
10S. dazu ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 88r–89r (gestempelte Zählung).
11So die Zusammenfassung des Kapitels vom 16. Mai 1517 in einem Schreiben an den Kurfürsten ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 91v (gestempelte Zählung); Datumsangabe: »Sonnabendt nach Cantate Anno etc xvio«.
12S. dazu ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 88v (gestempelte Zählung).
14ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 88r (gestempelte Zählung).
15Ebd., fol. 88v.
16Ebd.
17Ebd., fol. 91v (gestempelte Zählung); Datumsangabe: »Sonnabendt nach Cantate Anno etc. xvii«.
18Ebd. In einem kürzeren Auszug zitiert bei Barge, Karlstadt 1, 64 mit Anm. 89.
19ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 91v (gestempelte Zählung).
20Kurfürst an das Kapitel, undatiert, ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 97r (gestempelte Zählung). Kapitel an den Kurfürsten, 12. Juli 1517, ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 97v (gestempelte Zählung). Kurfürst an das Kapitel, 13. Juli 1517, ThHStA, EGA, Reg. O 209, fol. 98r (gestempelte Zählung).

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