Nr. 61
Conclusiones decem et sex de divinae gratiae cooperatione
[zwischen 1517, 26. April und 1518, 9. Mai]

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer
unter Mitarbeit von Antje Marx

1. Überlieferung

Frühdrucke:

[A:]Andreas Bodenstein von Karlstadt
Conclusiones decem et sex de diuine ‖ gratie comparatione.D.M. L.1
in:
Martin Luther, Andreas Karlstadt, Philipp Melanchthon u. a.
Inſ‌ignium theologoꝛū ‖ Domini Martini Luthe⸗‖ri/domini Andꝛee Caroloſtadij/ ‖ Philippi Melanthonis et ‖ aliorū/cōcluōes ‖ varie/ꝓ diui‖ne gratie ‖ defenone ac cōmendatione: contra ſcola‖ſticos  pelagianos:diſ‌putate ‖ in preclara academia ‖ Vvittenbergen. ‖ ✠ ‖ ⁌Lege lector  aff‌icieris/verſa facie ‖ catalogum inuenies. ‖ [TE]
[Leiden]: [Jan Seversz], [1521], 20–21 (= fol. C2v–C3r).
4˚, 12 paginierte Bl., A4, B4, C6.
Editionsvorlage:
Biblioteca valdese, Torre Pellice, A.III.12.64.

[B:]Andreas Bodenstein von Karlstadt
Conclusiones decem & sex de diuinæ gra‖tiæ comparatione.D.Martini Lutheri3
in:
Martin Luther, Andreas Karlstadt, Philipp Melanchthon u. a.
INSIGNIVM THEOLOGORVM ‖ Domini MartiniLutheri,dominiAndree ‖ Baroloſtadij , Philippi melan ‖ thonis & aliorum ‖ conclu⸗‖ſ‌iones varię, pro diuinæ gratiæ defenſ‌ione ‖ ac commendatione,contra ſco‖laſticos & pelagianos ‖ diſ‌putate in præ⸗‖clara academia. ‖ Vvittembergenſ‌i. ‖ Lege leor & aff‌icieris verſafacie catalogum ‖ inuenies.
[Paris]: [Pierre Vidouè], [1521?], fol. D3r–3v.
4˚, 18 Bl., A–C4, D6.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, M: Li 5530 Slg. Hardt (38, 662).

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Die vorliegende Thesenreihe besteht aus vier Thesenblöcken, die jeweils gesondert von 1 bis 4 durchgezählt sind. Der erste Block bietet vier als Fragen formulierte quaestiones zum Verhältnis des inneren und des äußeren Menschen (Th. 1–4). Diese Fragen sind aus einem Kapitel von Augustins De diversis quaestionibus octoginta tribus entwickelt. Die augustinischen Aussagen hat Karlstadt mit den paulinischen Aussagen über homo interior und homo carnalis in Röm 7 verbunden. In den drei weiteren Thesenblöcken (Th. 5–16) haben die Thesen die Form von conclusiones. Das Kapitel Röm 7, und zwar der Satz: »Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich« (Röm 7,19), bot Karlstadt eine Brücke, im zweiten Thesenblock (Th. 5–8) die Unfähigkeit des Menschen, ohne die rechtfertigende Gnade Gottes etwas Gutes zu denken oder zu tun, zu postulieren. Diese Sicht veranlasste Karlstadt, im dritten Thesenblock (Th. 8–12) eine weitere Formulierung des Apostels Paulus (1. Kor 15,10: »non ego autem [scil. laboravi], sed gratia Dei mecum«) zur Diskussion zu stellen, deren Auslegung zwischen ihm und seinen scholastischen Kontrahenten strittig war. Hier stellte sich ihm die Frage, wie das mit dem Wort »mecum« angesprochene Zusammenwirken Gottes mit dem Menschen zu bestimmen sei. Karlstadts Antwort war, der Mensch sei Gottes passives Werkzeug, mit dem Gott handle und wirke (Th. 9f.). Für die Auslegung der Bibelstelle zog Karlstadt den griechischen Text nach der 1516 erschienenen Ausgabe des Neuen Testaments des Erasmus heran. Im letzten Thesenblock (Th. 13–16) wies Karlstadt das scholastische Konzept der gratia habitualis, einer dem Menschen von Gott in die Seele eingegossenen Gnade, die ihn zu verdienstlichem Handeln befähige5, als eine nicht schriftgemäße Erfindung zurück (Th. 13).

Eine ungefähre chronologische Einordnung der undatierten Thesenreihe ermöglichen inhaltliche Bezüge zu anderen Karlstadttexten der Jahre 1517/1518. Das Verhältnis von innerem und äußerem Menschen hatte Karlstadt in entsprechender Weise schon in den Thesen 8–12 der 151 Conclusiones vom 26. April 1517 (Nr. 58) unter Heranziehung anderer Augustintexte erörtert6 und damit dort wie hier die anthropologisch-soteriologische Gesamtthematik eröffnet. Die von Karlstadt gewünschte mehrtägige Disputation über die 151 Thesen unter Beteiligung auswärtiger Theologen hat in dieser Form offenbar nicht stattgefunden7. Karlstadt verfasste jedoch dazu nicht erhaltene Explicationes8, in denen er seine Thesen begründete, und diktierte diese, wie er im Augustinkommentar sagte, seinen Hörern9. Daraus kann man schließen, dass er die Studenten mit Argumenten für etwaige Disputationen versorgen wollte. Unsere Thesenreihe könnte für eine der Übung der Studierenden dienende Zirkulardisputation erstellt worden sein, in der Inhalte der 151 Thesen als auch des Augustinkommentars diskutiert wurden. In der Vorlesung über AugustinsDe spiritu et littera behandelte Karlstadt die Thematik des inneren/äußeren Menschen im Kommentar zum 6. Kapitel, zitierte wie in unseren Conclusiones decem et sex den einschlägigen Text aus Augustins Quaestiones octaginta tribus und verwies dazu auf seine Ausführungen zur elften der 151 Thesen (»Homo interior in ipso animo consistit«).10

Die Erörterung der Bedeutung des Wortes »mecum« in 1. Kor 10,15, die in Th. 9–12 unserer Thesenreihe erfolgt, hat eine dichte Parallele zu Karlstadts Apologeticae conclusiones11, die von Karlstadt mit 9. Mai 1518 datiert wurden12. Wir ordnen daher unsere Thesenreihe zwischen seine zwei großen Thesenreihen, 151 Conclusiones sowie Apologeticae conclusiones, d. h. zwischen 26. April 1517 und 9. Mai 1518 ein.13

Die formale Gestaltung der Thesenreihe – einführende Fragen mit anschließenden conclusiones, die die Funktion von argumenta zu den Fragen haben – findet sich ähnlich am Ende der gedruckten Thesensammlung, in der unsere Thesenreihe überliefert ist, in zwei kurzen Thesenreihen. Davon ist eine von Karlstadts Kollegen Johannes Dölsch verfasst14, während der Verfasser der anderen unbekannt ist15. Dölsch formulierte eine Frage und fügte zwei conclusiones sowie zwei corollaria an, die zusammen von 1 bis 4 durchgezählt sind16. Die anonyme Thesenreihe formuliert eine Frage und fügt nur eine conclusio und ein corollarium hinzu17. Da zu Karlstadts Thesenreihe kein Disputationsanlass überliefert ist, möchte man bei dieser an eine Zirkulardisputation der Professoren denken, die wöchentlich jeweils freitags von 1 bis 3 Uhr nachmittags abzuhalten war außer in den Vakanzen und an bestimmten Feiertagen18. Die Gliederung in 4 quaestiones und anschließende drei mal vier conclusiones dürfte damit zusammenhängen, dass in den Zirkulardisputationen die studentischen Respondenten auf künftige Prüfungsdisputationen vorbereitet wurden. Vermutlich waren die Thesenblöcke auf mehrere Respondenten zur Bearbeitung verteilt19.


1Diese fehlerhafte Überschrift lautet im Inhaltsverzeichnis (fol. A1v) korrekt: »xvi De diuine gratie cooperatione«. Aufgeführt ist sie hier nicht unter den Thesenreihen Luthers, sondern unter »Domini Andree Carolostadii conclusiones.«
2Weitere bibliographische Daten s. in der Einleitung zu den 151 Conclusiones (KGK 058).
3Auch hier lautet die Überschrift im Inhaltsverzeichnis (fol. A1v) übereinstimmend mit Druck A: »xvj De divinæ gratiæ cooperatione.«, eingeordnet unter den Thesenreihen Karlstadts.
4Weitere bibliographische Daten s. in der Einleitung zu den 151 Conclusiones (KGK 058).
5Vgl. Altenstaig, Vocabularius (1517), fol. 97v: »Estque ipsa gratia [scil. gratia gratum faciens] habitus anime virtuosus: non acquisitus/ sed infusus: quia qualitas dirigens animam/ et inclinans ad opera meritoria. et iste habitus est a solo deo infusus.«
6Siehe 151 Conclusiones, Th. 8–12 (KGK 058 (Textstelle)).
7Siehe KGK 058, Einleitung.
8Siehe Nr. 63.
9Zum Beispiel an folgender Stelle des Augustinkommentars (KGK 064 (Textstelle)): »de homine interiori et eius membris ac organis distinctioneque suarum etatum copiose in conclusione xi. dictavimus.«
10Augustinkommentar (KGK 064) und 151 Conclusiones (KGK 058 (Textstelle)).
11Apologeticae Conclusiones, Th. 259–261 (KGK 085 (Textstelle)).
12Apologeticae Conclusiones (KGK 085). Das Datum steht hinter der 380. These. Die folgenden Thesen stellen einen Nachtrag dar.
13Barge, Karlstadt 1, 473 Nr. 4 führt unsere Thesenreihe auf und datiert sie ohne Begründung »Ende des Jahres 1519«. Er verweist auf Jäger, Carlstadt, 42 Anm., der allerdings als Datum »wahrscheinlich aus dem Spätsommer 1519« angibt, da er die Thesenreihe mit der Leipziger Disputation in Verbindung bringt. Jäger beobachtet, dass auch am Anfang der Leipziger Disputation (Seitz, Disputatio, 19; 20; 22; 24) die Formulierung aus 1. Kor 15,10»gratia dei mecum« unter dem Aspekt der Kooperation Gottes mit dem Menschen erörtert wird. Jedoch sind die Parallelen zwischen der Leipziger Disputation und unserer Thesenreihe weniger dicht als die oben aufgezeigten Textbezüge. Vor allem fehlt in der Leipziger Disputation die Thematik innerer/äußerer Mensch. Vgl. Bubenheimer, Consonantia, 185 Anm. 121.
14Conclusiones variae (1520/21), 23f. Unterhalb der Thesenreihe ist als Verfasser »M'agister'J'ohannes' D'oelicius'Viltkerchen'sis'« genannt.
15Conclusiones variae (1520/21), 24. Unterhalb der Thesenreihe stehen in gesonderter Zeile die Initialen »G. E. D. S.« Diese Zeile ist zugleich die letzte des Druckes. Auf einen der Dozenten der theologischen Fakultät in Wittenberg, die zu jener Zeit berechtigt waren, einer Disputation zu präsidieren, passen jene Initialen nicht. Hinter ihnen könnte sich entweder der Name des Herausgebers der Thesensammlung oder ein Wahlspruch verbergen.
16Der Herausgeber formulierte die Überschrift: »Questio theologica cum quatuor conclusionibus de sacramentis nove legis.«Conclusiones variae (1520/21), 23.
17Der Herausgeber beschränkt sich in der Überschrift auf folgende Inhaltsangabe: »De divini nominis imploratione.«Ebd., 24.
18UUW 1, 37 Nr. 23.
19Ein etwas ähnliches Disputationsformat wird in den Statuten der theologischen Fakultät für die Disputation zum Erwerb des Doktorgrades vorgeschrieben: »In magisterio autem sic agi volumus. magister, ad quem id ordine spectat, prima hora pomeridiana ex cathedra questionem moveat expectatoriam vesperis accomodatam et in unam atque alteram partem disputatam baccalaureo proponat, cujus decisionem ceteri baccalaurei inpugnent. dein alius magister pariter questionem afferat vesperis accomodatum [!], allatam trivialiter et theologice determinatam et dubiam relictam in consultacionem reiiciat eius qui vesperiandus adest. qui pro dissolucione conclusiones formet tot quot sunt magistri, quas illi semel aut iterum tantum impugnent […].«UUW 1, 35 Nr. 23.

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