1. Überlieferung
Frühdrucke:
Conclusiones decem et sex de diuine ‖ gratie comparatione.D.M. L.1
in:
Martin Luther, Andreas Karlstadt, Philipp Melanchthon u. a.
Inſignium theologoꝛū ‖ Domini Martini Luthe⸗‖ri/domini Andꝛee Caroloſtadij/ ‖ Philippi Melanthonis et ‖ aliorū/cōcluōes ‖ varie/ꝓ diui‖ne gratie ‖ defenone ac cōmendatione: contra ſcola‖ſticos pelagianos:diſputate ‖ in preclara academia ‖ Vvittenbergen. ‖ ✠ ‖ ⁌Lege lector afficieris/verſa facie ‖ catalogum inuenies. ‖ [TE]
[Leiden]: [Jan Seversz], [1521], 20–21 (= fol. C2v–C3r).
4˚, 12 paginierte Bl., A4, B4, C6.
Editionsvorlage:
Biblioteca valdese, Torre Pellice, A.III.12.64.Conclusiones decem & sex de diuinæ gra‖tiæ comparatione.D.Martini Lutheri3
in:
Martin Luther, Andreas Karlstadt, Philipp Melanchthon u. a.
INSIGNIVM THEOLOGORVM ‖ Domini MartiniLutheri,dominiAndree ‖ Baroloſtadij , Philippi melan ‖ thonis & aliorum ‖ conclu⸗‖ſiones varię, pro diuinæ gratiæ defenſione ‖ ac commendatione,contra ſco‖laſticos & pelagianos ‖ diſputate in præ⸗‖clara academia. ‖ Vvittembergenſi. ‖ Lege leor & afficieris verſafacie catalogum ‖ inuenies.
[Paris]: [Pierre Vidouè], [1521?], fol. D3r–3v.
4˚, 18 Bl., A–C4, D6.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, M: Li 5530 Slg. Hardt (38, 662).Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 42.
- Barge, Karlstadt 1, 473 Nr. 4.
2. Inhalt und Entstehung
Die vorliegende Thesenreihe besteht aus vier Thesenblöcken, die jeweils gesondert von 1 bis 4 durchgezählt sind. Der erste Block bietet vier als Fragen formulierte quaestiones zum Verhältnis des inneren und des äußeren Menschen (Th. 1–4). Diese Fragen sind aus einem Kapitel von Augustins De diversis quaestionibus octoginta tribus entwickelt. Die augustinischen Aussagen hat Karlstadt mit den paulinischen Aussagen über homo interior und homo carnalis in Röm 7 verbunden. In den drei weiteren Thesenblöcken (Th. 5–16) haben die Thesen die Form von conclusiones. Das Kapitel Röm 7, und zwar der Satz: »Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich« (Röm 7,19), bot Karlstadt eine Brücke, im zweiten Thesenblock (Th. 5–8) die Unfähigkeit des Menschen, ohne die rechtfertigende Gnade Gottes etwas Gutes zu denken oder zu tun, zu postulieren. Diese Sicht veranlasste Karlstadt, im dritten Thesenblock (Th. 8–12) eine weitere Formulierung des Apostels Paulus (1. Kor 15,10: »non ego autem [scil. laboravi], sed gratia Dei mecum«) zur Diskussion zu stellen, deren Auslegung zwischen ihm und seinen scholastischen Kontrahenten strittig war. Hier stellte sich ihm die Frage, wie das mit dem Wort »mecum« angesprochene Zusammenwirken Gottes mit dem Menschen zu bestimmen sei. Karlstadts Antwort war, der Mensch sei Gottes passives Werkzeug, mit dem Gott handle und wirke (Th. 9f.). Für die Auslegung der Bibelstelle zog Karlstadt den griechischen Text nach der 1516 erschienenen Ausgabe des Neuen Testaments des Erasmus heran. Im letzten Thesenblock (Th. 13–16) wies Karlstadt das scholastische Konzept der gratia habitualis, einer dem Menschen von Gott in die Seele eingegossenen Gnade, die ihn zu verdienstlichem Handeln befähige5, als eine nicht schriftgemäße Erfindung zurück (Th. 13).
Eine ungefähre chronologische Einordnung der undatierten Thesenreihe ermöglichen inhaltliche Bezüge zu anderen Karlstadttexten der Jahre 1517/1518. Das Verhältnis von innerem und äußerem Menschen hatte Karlstadt in entsprechender Weise schon in den Thesen 8–12 der 151 Conclusiones vom 26. April 1517 (Nr. 58) unter Heranziehung anderer Augustintexte erörtert6 und damit dort wie hier die anthropologisch-soteriologische Gesamtthematik eröffnet. Die von Karlstadt gewünschte mehrtägige Disputation über die 151 Thesen unter Beteiligung auswärtiger Theologen hat in dieser Form offenbar nicht stattgefunden7. Karlstadt verfasste jedoch dazu nicht erhaltene Explicationes8, in denen er seine Thesen begründete, und diktierte diese, wie er im Augustinkommentar sagte, seinen Hörern9. Daraus kann man schließen, dass er die Studenten mit Argumenten für etwaige Disputationen versorgen wollte. Unsere Thesenreihe könnte für eine der Übung der Studierenden dienende Zirkulardisputation erstellt worden sein, in der Inhalte der 151 Thesen als auch des Augustinkommentars diskutiert wurden. In der Vorlesung über AugustinsDe spiritu et littera behandelte Karlstadt die Thematik des inneren/äußeren Menschen im Kommentar zum 6. Kapitel, zitierte wie in unseren Conclusiones decem et sex den einschlägigen Text aus Augustins Quaestiones octaginta tribus und verwies dazu auf seine Ausführungen zur elften der 151 Thesen (»Homo interior in ipso animo consistit«).10
Die Erörterung der Bedeutung des Wortes »mecum« in 1. Kor 10,15, die in Th. 9–12 unserer Thesenreihe erfolgt, hat eine dichte Parallele zu Karlstadts Apologeticae conclusiones11, die von Karlstadt mit 9. Mai 1518 datiert wurden12. Wir ordnen daher unsere Thesenreihe zwischen seine zwei großen Thesenreihen, 151 Conclusiones sowie Apologeticae conclusiones, d. h. zwischen 26. April 1517 und 9. Mai 1518 ein.13
Die formale Gestaltung der Thesenreihe – einführende Fragen mit anschließenden conclusiones, die die Funktion von argumenta zu den Fragen haben – findet sich ähnlich am Ende der gedruckten Thesensammlung, in der unsere Thesenreihe überliefert ist, in zwei kurzen Thesenreihen. Davon ist eine von Karlstadts Kollegen Johannes Dölsch verfasst14, während der Verfasser der anderen unbekannt ist15. Dölsch formulierte eine Frage und fügte zwei conclusiones sowie zwei corollaria an, die zusammen von 1 bis 4 durchgezählt sind16. Die anonyme Thesenreihe formuliert eine Frage und fügt nur eine conclusio und ein corollarium hinzu17. Da zu Karlstadts Thesenreihe kein Disputationsanlass überliefert ist, möchte man bei dieser an eine Zirkulardisputation der Professoren denken, die wöchentlich jeweils freitags von 1 bis 3 Uhr nachmittags abzuhalten war außer in den Vakanzen und an bestimmten Feiertagen18. Die Gliederung in 4 quaestiones und anschließende drei mal vier conclusiones dürfte damit zusammenhängen, dass in den Zirkulardisputationen die studentischen Respondenten auf künftige Prüfungsdisputationen vorbereitet wurden. Vermutlich waren die Thesenblöcke auf mehrere Respondenten zur Bearbeitung verteilt19.