Nr. 42
Bedenken Andreas Karlstadts über die Rechtsverhältnisse der Propstei am Wittenberger Allerheiligenstift
[1516, vor 23. August]

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer und Martin Keßler

1. Überlieferung

  • ThHStA Weimar, EGA, O 209, fol. 54r–v, 58v (gestempelte Zählung).

Beigefügt ist auf fol. 56 und 57 ein von Spalatin gefertigter lateinischer Auszug aus der Errichtungsbulle Julius’ II. für das Wittenberger Allerheiligenstift vom 20. Juni 1507, auf die sich Karlstadt in seinem Bedenken bezieht. Diesen Auszug aus der Bulle hat Spalatin auf fol. 59 in gekürzter Fassung ins Deutsche übersetzt. Diese Beilagen zeigen, dass Spalatins Auszug aus Karlstadts Bedenken sowie seine lateinischen und deutschen Auszüge aus der Errichtungsbulle zur Vorlage an den Kurfürsten bestimmt waren.

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Aus Karlstadts Brief an Degenhart Pfeffinger vom 23. August 1516 (s. KGK 043) ergibt sich die Chronologie des verschollenen, aus einem Spalatinschen Auszug partiell rekonstruierbaren Stückes. Demnach hatte Karlstadt vor dem 23. August 1516 an Pfeffinger geschrieben, um auf die ungeklärten Rechtsverhältnisse des ersten Kanonikats am Allerheiligenstift, der Propstei, zu verweisen. Die Antwort erfolgte durch Spalatin. Er forderte Karlstadt auf, die Sachlage detaillierter darzustellen. Karlstadts Brief an Pfeffinger vom 23. August 1516 (s. KGK 043) erlaubt Rückschlüsse auf seine Antwort an Spalatin. So könnte sich die hier gegebene rückblickende Auskunft: »dieweil aller stifftkirchen obirste prelaturn Bebstlicher disposicion vorbehalten/ wie ich das aus Concordaten principien und regell Cancellarie beczewcht hab«, auf das verschollene Schreiben an Pfeffinger, aber auch auf die Antwort an Spalatin beziehen. In dem genannten Schreiben an Pfeffinger steht der zitierte Passus im Anschluss an die Erwähnung des Antwortschreibens an Spalatin, was dafür sprechen könnte, in den Ausführungen eine Zusammenfassung dieser Antwort zu vermuten.

Schon von Barge war Spalatins Auszug in einen Zusammenhang mit dem Brief an Pfeffinger gerückt worden: »Denselben Gegenstand scheint zu behandeln der von Spalatin verfaßte ›Auszug Doctor Karlstadts Bedenken‹«1. Außer Frage dürfte stehen, dass der Auszug eine direkte Reaktion auf das Karlstadtsche Gutachten dokumentiert, das zuvor von Spalatin angefordert worden war. Karlstadts Brief vom 23. August informiert Pfeffinger als den erstangeschriebenen kurfürstlichen Kontaktmann über die Folgeentwicklungen. Der Brief ist entsprechend zu befragen, ob er weitere Selbstreferenzen Karlstadts auf das verschollene Gutachten bietet. Der einzige inhaltlich sichere Anhaltspunkt ist der Spalatinische »Außzug«. Methodisch ergibt sich daraus, dass dieser in seiner Argumentation zu skizzieren ist, bevor der Brief Karlstadts an Pfeffinger auf mögliche Übereinstimmungen und Unterschiede zu überprüfen ist.

Formal strukturiert Spalatin seinen »Außzug«, indem er sieben graphisch voneinander abgehobene Abschnitte bildet, von denen nur die beiden ersten gezählt werden. »Erstlich« vermerkt Karlstadt (im weiteren stets nach Spalatins Referat), dass durch die in der Errichtungsbulle Julius’ II. vom 20. Juli 1507 erfolgte Übertragung der Rechte der alten Propstei am Allerheiligenstift auf das Dekanat und die gleichzeitige Errichtung einer neuen Propstei deren alte Privilegien aufgegeben worden seien. »Zwm andern« zieht er »die Concordata principum das ist […] der Fursten vertrag« mit dem Papst, also das Wiener Konkordat von 14482, heran, um die Verpflichtung der deutschen Fürsten zu einer päpstlichen Einsetzung der Prinzipaldignitäten herauszustellen. Im Unterschied zur Verfassung der alten Propstei bestehe, drittens, für die neue keine spezielle Befreiung von jener allgemeinen Regel. Viertens, müsse die Propstei als ein päpstliches Lehen angesehen werden. Abschließend werden kurz weitere rechtliche Implikationen berührt und vermerkt, dass Karlstadt alle Ausführungen mit Belegen aus den Rechten gestützt hat.

Das Schreiben an Pfeffinger (s. dazu KGK 043) bietet demgegenüber eine Selbstzusammenfassung von Karlstadts verschollenem Gutachten. Er ergänzt die Problemanzeige um eine Benennung der durch die neue Regelung benachteiligten Parteien: den Kurfürsten zum einen und den Propst zum anderen.3 Die Hauptlast habe künftig ein neu zu investierender Propst zu tragen, da dieser neben anderen Ausgaben »zcwey iar Annaten das ist/ jherlich die helfft der fruchten« an den Papst abzutreten habe.4 Die Gefahr für den Kurfürsten bestünde darin, dass aufgrund der finanziellen Implikationen das Allerheiligenstift ein Objekt der Kurtisanenpolitik werden könne.5 Weiter würde das Stift dadurch leiden, dass der Propst fortziehen und dem Stift sein Testament entziehen könnte.6 Auf die Schilderung dieser Problematik folgt die Andeutung zweier Lösungswege.7 Zum einen könne für die neu errichtete Propstei eine päpstliche Exemtion erwirkt werden. Die Alternative dazu bleibt aufgrund von Textverlust unklar. Abschließend geht Karlstadt auf mögliche Einwände gegenüber seiner grundlegenden Problembeschreibung ein.8 Dazu gehört das Argument, dass die alten Rechte der Propstei nach wie vor gültig seien und somit kein Anlass zu einem Konflikt mit dem Papst bestünde. Dagegen stellt Karlstadt eine Kostenabwägung: Die Folgekosten für einen möglichen Konflikt seien höher als präventive Investitionen.

Trifft die Identifizierung der beiden Dokumente als Zusammenfassungen eines verschollenen Karlstadtschen Bedenkens zu, legt Spalatins »Außzug« nahe, dass er gegen Ende in einem zunehmenden Maße abkürzt.


1Barge, Karlstadt 1, 58 Anm. 71.
2In zweisprachiger Ausgabe s. Weinrich, Quellen, 498–507. Ferner s. umfassend Meyer, Konkordat.
3Die nachfolgenden Hinweise beziehen sich auf KGK 043 (Textstelle).
5KGK 043 (Textstelle). Zu diesem Argument bei Karlstadt vgl. in einem anderen und späteren Zusammenhang KGK 049 sowie in der Zurückweisung durch den Kurfürsten KGK 051.

Downloads: XML · PDF (Druckausgabe)
image CC BY-SA licence
»