Nr. 52
Brief und Gutachten Andreas Karlstadts an das Wittenberger Allerheiligenstift
[Wittenberg], 1517, 16. März

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer und Martin Keßler

1. Überlieferung

Handschriften:

Brief

ThHStA Weimar, EGA, O 209, nach der gestempelten Blattzählung fol. 50r–v (Brieftext), 53r (leer), 53v (Adresse)

Ausfertigung von unbekannter Schreiberhand.

Gutachten

ThHStA Weimar, EGA, O 209, fol. 60r–v, ungezähltes Blatt recto und verso, fol. 62r–v

Abschrift von unbekannter Hand mit Korrekturen und einer Ergänzung von Karlstadts Hand.

Der Text des Briefes ist wegen Papierbeschädigungen und Wasserschaden in einigen Zeilen nicht mehr vollständig rekonstruierbar. Brieftext (fol. 50) und Adresse (fol. 53) sind heute durch zwei später dazwischen gebundene Blätter (fol. 51 und 52)1 voneinander getrennt worden. Brieftext und Adresse wurden von derselben Schreiberhand geschrieben. Auf fol. 50r findet sich ein Papiersiegel. Ein Teil des durchschnittenen Siegelpapiers findet sich auf fol. 53v. Die Zusammengehörigkeit der beiden Blätter ist durch zwei gleichlautende Bleistiftnotizen von moderner Hand auf fol. 50v und fol. 53v registriert: »16 März«, womit zugleich das Datum des Briefes korrekt aufgelöst ist.

Der Text des Gutachtens ist aufgrund von Wasserschäden teilweise abgeblasst, weshalb die hier gebotene Textfassung an einigen Stellen unsicher ist. Die vorliegende Fassung des Gutachtens wurde von einem anderen Schreiber geschrieben als der Brief2. Karlstadt hat den Text eigenhändig korrigiert und an einer Stelle durch eine Randglosse ergänzt.

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Kurfürst Friedrich hatte Karlstadt mit Schreiben vom 8. März 1517 (s. KGK 051) angedroht, er werde seinerseits einen zweiten Kandidaten auf die Pfarrei Uhlstädt präsentieren und diesen aus Karlstadts Orlamünder Pension besolden, wenn Karlstadt den von ihm präsentierten Kandidaten Simon Funck nicht zurückziehe. Einer solchen Zuspitzung des Konflikts kamen Karlstadt und Funck zuvor, ohne dass dies im weiteren erhaltenen Schriftwechsel zwischen Karlstadt und dem Kurfürsten erwähnt wird, was auf gleichzeitigen mündlichen Informationsfluss zwischen Karlstadt und der kurfürstlichen Kanzlei hindeutet3: Simon Funck resignierte die Pfarrei Uhlstädt4, und Kaspar Teuschel5 präsentierte als Prokurator Karlstadts6 zusammen mit dem Orlamünder Vikar, Magister Wolfgang Geißendorfer, am 13. März 1517 Alexander Teuschel, den Sohn Kaspar Teuschels7, auf die Pfarrei Uhlstädt8. Damit hat Karlstadt einerseits die Aussage des Kurfürsten aufgegriffen, dem Orlamünder Vikar stehe eher das betreffende Präsentationsrecht zu als dem Wittenberger Archidiakon (s. KGK 051). Zugleich wurde Karlstadts Anspruch auf das Präsentationsrecht aufrechterhalten, indem Archidiakon und sein Vikar in Orlamünde die Präsentation gemeinsam vornahmen. Andererseits wurde bei dieser Lösung ignoriert, dass der Kurfürst in jenem Brief vom 8. März zugleich seinen Willen bekräftigt hatte, das Präsentationsrecht gemäß seinen dem Kapitel vorgelegten neuen Statuten ab sofort selbst auszuüben. Der Kurfürst seinerseits wiederholte im weiteren Verlauf des Streits die Androhung, er werde seinerseits einen Gegenkandidaten auf die Pfarrei Uhlstädt präsentieren, nicht mehr. Vielmehr ging es nun um die prinzipielle Frage, wer die Präsentationsrechte auf Pfarreien, die als Lehen zu der dem Archidiakonat inkorporierten Pfarrei Orlamünde gehörten, künftig ausüben dürfe, zumal das Kapitel dem vom Kurfürsten vorgelegten Statutenentwurf noch nicht zugestimmt hatte. Der Kurfürst hatte seinen Anspruch auf das Präsentationsrecht am 8. März nicht nur gegenüber Karlstadt apodiktisch formuliert, sondern am selben Tag das Stiftskapitel aufgefordert, das kurfürstliche Verlangen gegenüber Karlstadt durchzusetzen. In Folge davon arbeitete Karlstadt das hier edierte juristische Gutachten in lateinischer Sprache aus. Er übersandte dieses dem Stiftskapitel mit einem deutschen Anschreiben, in dem er den Tenor des Gutachtens zusammenfasste.

In seinem Brief an das Kapitel knüpft Karlstadt an das Schreiben des Kurfürsten an das Kapitel vom 8. März an, in dem der Kurfürst das Kapitel aufgefordert hatte, Karlstadt zu verbieten, die Präsentation auf die Pfarrei Uhlstädt aufrecht zu erhalten. Die Verleihung (»collation«) der Pfarrei zu Uhlstädt stehe ihm als Pfarrer von Orlamünde ebenso zu wie seinen Amtsvorgängern. Seinem unmittelbaren Vorgänger Jodokus Trutfetter (»doctor Eysennach«) sei in entsprechenden Fällen nicht widersprochen worden. Die näheren Begründungen habe er, Karlstadt, [im beiliegenden Gutachten] lateinisch dargestellt. Er bittet die Stiftsherren, ihn beim Kurfürsten zu entschuldigen und diesen über die Rechtslage gemäß der [Errichtungs-]Bulle [Papst Julius’ II.] und den gemeinen Rechten zu unterrichten sowie darzulegen, ob die [vom Kurfürsten vorgelegten] Statuten, denen er seinerseits »lauts der nawen erclerung« nicht zugestimmt habe, im Widerspruch zu den genannten Rechten stehen. Würde er auf die Ausübung eines lange ausgeübten Privilegs verzichten, könnte ihm das von seinen Nachfolgern zum Vorwurf gemacht werden. Die Stiftsherren mögen den Kurfürsten, der im ganzen Reich als »forderer der gerechtigkeit« gepriesen werde, bitten, ihm jenes alte Recht nicht zu nehmen. Einer gegenteiligen Entscheidung des Kurfürsten werde er, Karlstadt, sich zwar unterwerfen, doch bittet er das Kapitel, einen Rechtsspruch einer unparteiischen Universität einzuholen.

Das dem Brief beigelegte lateinische Gutachten, in dem die Stiftsherren angeredet sind, verweist am Schluss mit der Datierung »Datum ut supra« auf das Datum des Briefes (16. März), obwohl Karlstadt angesichts des Umfangs des Gutachtens und der zahlreichen darin zitierten Rechtsquellen spätestens nach Eingang der Briefe des Kurfürsten vom 8. März an Karlstadt und an das Kapitel mit der Ausarbeitung begonnen haben dürfte. Zu Beginn verweist Karlstadt auf die im Brief an das Kapitel vom 8. März erhobene Forderung des Kurfürsten, dass Karlstadt hinsichtlich der Besetzung der Pfarrei Uhlstädt die Nomination einer Person durch das ganze Kapitel und die anschließende Präsentation durch den Kurfürsten dulden müsse. Für diese Forderung habe der Kurfürst einige Gründe geltend gemacht, die Karlstadt zunächst referiert. Er äußert die Erwartung, dass der Kurfürst nachgeben werde, wenn er informiert sei, dass jene Gründe keine Rechtsgrundlage hätten. Damit spielt er auf den Sachverhalt an, dass der Kurfürst für seine Position keine Rechtsquellen angeführt hatte. Am Schluss des Gutachtens deutet Karlstadt wie im Brief an, dass er sich nötigenfalls dem Willen des Kurfürsten unterwerfen müsse, doch fügt er hier hinzu, dass er dies aus Furcht vor den Risiken, die ihm seitens des Kurfürsten erwachsen könnten, tun würde.

Im Korpus des Gutachtens widerlegt Karlstadt die im Reskript des Kurfürsten an ihn vom 8. März vorgebrachten Argumente der Reihe nach. Dabei zitiert er ausführlich aus den Quellen, die er in den Briefen mehrfach mit dem Begriff »gemeines Recht« zusammengefasst hat: Texte aus den verschiedenen Teilen des Corpus Iuris Canonici werden zusammen mit den Auslegungen der Glossatoren und anerkannter Kommentatoren herangezogen. Ergänzend wird aus der im Briefwechsel wiederholt angeführten Errichtungsbulle Julius’ II. für das Allerheiligenstift (20. Juni 1507) der Passus zitiert, der die Inkorporation der Pfarrei Orlamünde in das Archidiakonat am Allerheiligenstift regelte. Während aus dem kanonischen Recht materiale Aussagen zu den umstrittenen Fragen des Patronatsrechts, der Inkorporation und der Präsentationen entnommen werden, nutzt Karlstadt Texte des römischen Rechtes ergänzend als Quelle für hermeneutische Regeln, die er auf die Auslegung kanonistischer Texte anwendet.

Karlstadt, der Doktor beider Rechte, zeigt in diesem Gutachten seine juristischen Kompetenzen9. Bei der Abfassung seines Gutachtens hatte er sicher nicht nur die juristisch gebildeten Stiftsherren im Auge, sondern auch die Juristen in der kurfürstlichen Kanzlei und vermutlich auch das dem Kapitel empfohlene Vorhaben, einen Rechtsspruch einer unparteiischen Universität einzuholen. Das hätte er nicht vorgeschlagen, wäre er sich seiner Sache im Lichte des gemeinen Rechtes unsicher gewesen. Zugleich nahm er aber wahr, dass der Kurfürst sich in seinem Streben nach Ausweitung des landesherrlichen Kirchenregiments10 weder durch ihn noch das Stiftskapitel wird bremsen lassen und bekundete vorsorglich seine Bereitschaft, der Macht des Kurfürsten zu weichen, ohne allerdings in der Sache nachgegeben zu haben. Bewusst unterschreibt Karlstadt als »Pfarrer zu Orlamunde«, da der Kurfürst ausgeführt hatte, er führe nur diesen Titel, habe aber nicht die Rechte des Orlamünder Pfarrers. Dieses Argument des Kurfürsten versucht Karlstadt im Gutachten zu widerlegen.


1Auf fol. 51 und 52 befindet sich Karlstadts eigenhändig geschriebener und gesiegelter Brief an den Kurfürsten vom 31. März 1517 (s. KGK 054).
2Der Schreiber des Gutachtens hat auch anderweitig für Karlstadt geschrieben: Im Sommersemester 1516, in dem Karlstadt Dekan war, hat dieser Schreiber an Stelle Karlstadts die ersten drei Einträge ins Dekanatsbuch geschrieben. Auch diese hat Karlstadt eigenhändig korrigiert und ergänzt (Liber Decanorum (Faks.), fol. 26v).
3Auf mündlich erhaltene Nachrichten bezieht sich Karlstadt auch im Gutachten KGK 052 (Textstelle): »Et quia michi heri veridice est relatum […].«
5Kaspar Teuschel († 1543) stammte aus Würzburg; 1502 Immatrikulation an der Universität Wittenberg (AAV 1, 4b); 1503 Promotion zum Bacc. iur. utr. Von Beruf Holzhändler (WA.B, 56 Anm. 9; 12, 283 Anm. 5), war er ab 1504 Mitglied des Rats und Stadtrichter in Wittenberg (vgl. Pallas, Urkunden, 92, Anm. 1 u. 2; Bubenheimer, Müntzer, 311 Anm. 32). Sein Sohn Alexander (aus erster Ehe) wurde im SS 1507 in Wittenberg inmatrikuliert (AAV 1, 21b).
6Auch bei der Präsentation Simon Funcks hatte Kaspar Teuschel bereits als Prokurator Karlstadts fungiert. Bünger/Wentz, Brandenburg, 120.
7Immatrikuliert in Wittenberg im Sommersemester 1507, bezeichnet als »filius Casparis Judicis wittenbergensis«, damals noch nicht vierzehnjährig (AAV 1, 21b).
8Löbe, Kirchen 3, 706; Wähler, Orlamünde, 48. – Das genannte Präsentationsdatum bezweifelte Nikolaus Müller nach der posthumen Edition seiner hinterlassenen Aufzeichnungen durch Pallas, Urkunden, 91 Anm. 1: »Jedenfalls ist aber die Angabe, daß ihm [scil. Funck] schon am 13. März 1517 Teuschel gefolgt sei, unhaltbar.« Entsprechend auch ebd., 92 Anm. 1: »Und dank dem Einflusse seines Vaters, der als Prokurator Karlstadts bezeichnet wird, hat er auch wirklich die Pfarre erhalten, aber jedenfalls nicht schon 1517, wie von Löbe a. a. O. behauptet wird.« Für das von Löbe gebotene Datum sprechen zwei Aspekte: Erstens fügt sich das geschilderte Vorgehen eines Zusammenwirkens von Karlstadts Prokurator und Orlamünder Vikar in die zwischen Karlstadt und dem Kurfürsten strittigen Positionen ein: Karlstadt votierte für sein Vorrecht, der Kurfürst hatte am 8. März erklärt (s. KGK 051), dass das Präsentationsrecht eher beim Orlamünder Vikar als bei dem Wittenberger Archidiakon liege. Zweitens weist die Angabe der Mitwirkung des Vikars Geißendorfer in einen Zeitraum vor dem 26. Februar 1518, an dem Konrad Glitsch als Nachfolger von Geißendorfer präsentiert wurde (s. Barge, Karlstadt 2, 568f. Anm. 17). Geißendorfers Tätigkeit als Orlamünder Vikar ist nur für die Jahre 1517 und 1518 belegt.

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