1. Überlieferung
Handschrift:
Original, von Karlstadts Hand, ohne Adresse, ungesiegelt. Dorsalvermerk von zwei verschiedenen Schreibern: »[Schreiber 1:] Doctor Karlstat der Irrung ‖ halb/ mit dem schosser zu Witt'enberg' ‖ [Schreiber 2:] seiner eingezogenen Presencz und auskommens halben«
Literatur:
- Barge, Karlstadt 1, 54 mit Anm. 58.
2. Inhalt und Entstehung
Das undatierte Schreiben fügt sich in den Komplex der Rechtsstreitigkeiten mit dem Wittenberger Schosser Anton Niemeck ein. Barge wertete den Text erstmals inhaltlich aus und bezog ihn in seiner relativen Chronologie stimmig auf die durch Müller seit 1714 bekannten Dokumente: »natürlich [fällt das Schreiben] später, als Karlstadts Rechtserbietung vom Anfang Juni 1516«.1 Zutreffend ist, dass das vorliegende Schreiben auf die Ausführungen der sog. Rechtserbietung2 folgt. Inkonsistent ist indes Müllers Einordnung des betreffenden Textes in den Juni des Jahres 1516. Wie in der Einleitung zu KGK 017 wahrscheinlich gemacht wird, fällt das Karlstadtsche Schreiben auf Ende Januar oder Anfang Februar 1515, insofern es direkt auf das kurfürstliche Reskript vom 23. Januar 1515 antwortet.
Die Argumentation des vorliegenden Briefes wiederholt in Teilen die Anfang 1515 gebotene. So hebt Karlstadt abermals und auch in diesem Schreiben wiederholt darauf ab, ihm sei »gewalt« und »unrecht« widerfahren. Neu ist der Hinweis, dass Hans von Dolzig, der kurfürstliche Rentmeister und stellvertretende Kämmerer Friedrichs des Weisen, zur Entscheidung ermächtigt wurde.3 Diese Initiative scheint jedoch ebenso wenige Ergebnisse gezeigt zu haben4 wie Karlstadts Bemühung um eine direkte »verhorung« seitens des Kurfürsten. Aufgrund der Erfolglosigkeit weiterer juristischer Mittel, zu denen Karlstadt auch die Appellation zählt, erbittet er »nachmals« das abschließende Urteil des Kurfürsten. Wiederum bietet er an, nähere Informationen zu den berührten Vorgängen und Personen zu liefern.
Der Text ist aus einem gewissen zeitlichen Abstand zu den Entwicklungen geschrieben, die sich im Briefwechsel von Ende Januar oder Anfang Februar 1515 niederschlagen. So vermerkt Karlstadt, dass sich die Streitigkeiten nach wie vor »unendtscheyden halten«. Auch wird die Appellation an den Papst, die sich der Kurfürst am 23. Januar 1515 deutlich verbat, als ein legitimer Ausweis der anderweitig erschöpften Rechtsmittel erwähnt. Beides ist nur aus einiger Distanz zu dem früheren Briefwechsel mit dem Kurfürsten denkbar.
Da auch die Dorsalvermerke5 keine zusätzlichen Hinweise auf die Entstehung des Briefes bieten, bleiben nur inhaltliche Anhaltspunkte für eine relative Datierung. Die zentrale Frage ist, ob man die Formulierung: »Idoch ist der keynes angesehen und bin der presencz und meynes eynkumeß unbillich berobet derhalb bnotiget/ durch rechte wege mich zuweren«, auf die finanziellen Einbußen während der Rom-Reise beziehen muss. Dafür könnten die Ähnlichkeiten in den Formulierungen sprechen, dagegen Unterschiede im Detail. In den Beschwerdebriefen aus Rom vom 13. November 1515 (KGK 022) und 16. Januar 1516 (KGK 024) ist spezifisch von der »teglich presencz« bzw. der »teglich presentz « die Rede. Nach der Rückkehr aus Rom sprach Karlstadt von »meyn pension zcu Orlamunde« und »meyn pension und zcynß« (KGK 027). Im Unterschied dazu verweist das Schreiben auf eine unbillige Beraubung »der presencz und meynes eynkumeß«, die es legitimiere, rechtliche Schritte gegen Niemeck unter kurfürstlichem Beistand einzufordern.
Daraus ergeben sich zwei Deutungs- und zwei Datierungsmöglichkeiten.6 Entweder bezieht man den benannten Einkommenverlust auf die Streitigkeit mit Niemeck. Dies wäre insofern möglich, als der Bericht des Kapitels zu den berührten Vorgängen (KGK 024 (Textstelle)) den Verkauf eines Fuders Heu, dessen Wert Karlstadt auf drei Gulden taxiert habe, anführt. Schon Barge vermutete einen Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und den komplizierten »Besoldungsverhältnisse[n] der Stiftsherren«7. Deutet man Karlstadts Klage über einen Einkommensverlust innerhalb der Streitigkeiten mit Niemeck, besteht kein Anlass, den Brief den Auseinandersetzungen mit dem Kapitel chronologisch nachzuordnen, die erstmals in Karlstadts Schreiben an den Kurfürsten vom 13. November 1515 (KGK 022) erwähnt werden. Die Korrespondenz zwischen Karlstadt und dem Kurfürsten zwischen dem 13. November 1515 und Anfang Juni 1516 (KGK 027) kann aufgrund ihrer direkten Textbezüge als geschlossen gelten. Nahelegen würde sich somit eine Datierung in die Zeit zwischen Karlstadts Antwortschreiben auf das kurfürstliche Reskript vom 23. Januar 1515 (KGK 017) und den Aufbruch nach Rom, der sich erst nach dem 13. August 1515 ergab8. Alternativ besteht die Möglichkeit, den Einkommensverlust auf die Auseinandersetzung mit dem Kapitel zu beziehen. Dann müsste das Schreiben nach der Rückkehr aus Rom verfasst worden sein.9 Es hätte darin der Rückmeldung gegenüber dem Kurfürsten (KGK 027) und der Versicherung zu folgen, mit allen Konfliktparteien »baldt« Frieden10 zu schließen. Für einen Ausgleich mit dem Kapitel wählte Karlstadt einen strukturell vergleichbaren Weg, indem er das abschließende Urteil dem Kurfürsten anheimstellte. In dem betreffenden Schreiben (KGK 027) findet sich jedoch die Zusicherung, um des Friedens willen kleinere Einbußen erleiden zu wollen und »eynigkeit« mit dem Kapitel zu suchen. Entsprechende Ausführungen, die als Rückversicherung der Ausgleichsabsicht interpretierbar sind, fehlen in dem vorliegenden Schreiben.
Etwas mehr Anhaltspunkte könnten dafür sprechen, eine Datierung zwischen Januar und August 1515 vorzunehmen, doch tut man gut daran, sich auf eine offene Datierung nach Januar 1515 zu beschränken.