1. Überlieferung
Handschrift:
Zeitgenössische Abschrift von unbekannter Hand auf 2 Blättern. Adresse fehlt. Auf 9v zeitgenössischer Dorsalvermerk: »d[octor] Karlstatt«, geschrieben von derselben Schreiberhand, die das Konzept des kurfürstlichen Reskripts an Karlstadt vom 23. 1. 1515 (KGK 016) geschrieben hat (Hans von Dolzig)
Edition:
- Müller, Staats-Cabinet, 337–339.
Das Schreiben wurde unter der Überschrift »Carlstadtische Rechts=Erbietung/ anno 1516« von Müller 1714 in den materialen Anhang seiner Rekonstruktion Von des Theologi Carlstadts Gelübde einer Wahlfart nach Rom aufgenommen und in den zeitlichen Kontext der Rückkehr aus Italien eingeordnet.1 Zunächst habe Karlstadt bei dem Kurfürsten vorgesprochen und sich »vor demselben gegen iedermann/ der an ihm was zu sprechen haben solte/ zu recht [erboten]/ welches auch der Churfürst dem Capitel zuvernehmen gab/ wie solches aus nachstehenden Beyfügungen des mehrern erhellen wird.«2 Barge nahm 1905 diese materiale und chronologische Zusammenstellung auf, indem er über das betreffende Dokument erklärte: »Friedrich übersandte das Rechtserbieten mit einem Schreiben vom 4. Juni 1516 an das Kapitel zu Wittenberg.«3 Zu dem kurfürstlichen Reskript vom 23. Januar 1515 (KGK 016) vermerkte Barge: »Karlstadt scheint das kurfürstliche Schreiben nicht beantwortet zu haben.«4 Gleichwohl erkannte er den inhaltlichen Zusammenhang, indem er aus dem Dokument folgerte: »Jedenfalls hat er [Karlstadt] auf seine Appellation an den Papst verzichtet.«5
Literatur:
- Müller, Staats-Cabinet, 337.
- Jäger, Carlstadt 5.
- Barge, Karlstadt 1, 50.
- Bubenheimer, Consonantia, 30 Anm. 85; 12 Anm. 6:2).
2. Inhalt und Entstehung
Die betreffenden Dokumente bieten keinerlei Hinweise auf die von Müller gebotene Chronologie. Festzustellen bleibt zunächst, dass der benannte Brief undatiert ist und gerade in den Anfangspassagen wörtliche Entsprechungen zu dem kurfürstlichen Reskript vom 23. Januar 1515 aufweist. Zu fragen ist daher, ob er nicht die unmittelbare Antwort auf das Reskript darstellen könnte. Dafür sprechen die begrifflichen und inhaltlichen Parallelen. So bezieht sich das Karlstadtsche Schreiben eingangs auf eine kurfürstliche »credentz«9, die ihm vorgehalten habe, »muthwillig appelirt/ newherunge ewr curfurstlich gnaden stifftkirchen zu nachtheil eyngefuret/ gnad und woltat undanckbarlich vorgessen [zu] haben«. Wörtliche Entsprechungen begegnen zwischen dem Reskript vom 23. Januar 1515 und dem undatierten Brief von Karlstadt in den folgenden Formulierungen: »mudwillig«/»muthwillig«, »appelliren«/»appelirt«, »newrung der Kirchen zu nachteil einfhuren«/»newherung […] stifftkirchen zu nachthiel eyngefuret« und »was gnad und guts«/»gnad und woltat«. Von diesen auffälligen Übereinstimmungen hebt sich ein Unterschied ab. So führt das undatierte Schreiben den zusätzlichen Vorwurf an, »mit swerer comminacion die widersagger zu handthaben«. Dieser Passus findet seinerseits eine Parallele im Karlstadtschen Schreiben selbst. Dort heißt es im weiteren Verlauf: »Ewr curfurstlich gnaden ist aber durch meynen mugßamen und sorgfeldigenn abgunder/ ubermildiglich bericht und alzo darumb mich furkumen/ solge harte comminacion zu zuschreybenn gestadt[.]« Karlstadt bezog sich mit dieser Passage, zu der sich keine Parellele im kurfürstlichen Reskript findet, auf einen ihm bekannten Bericht seiner »abgunder«, seiner Neider, die, aus den berührten Vorgängen zu schließen, entweder dem Kapitel oder dem Schosser und dessen Rechtsvertretung zuzuordnen sind. Die begrifflichen Parallen des Eingangsteils sprechen somit für eine direkte Bezugnahme auf das kurfürstliche Reskript vom 23. Januar 1515. Hinzu kommt die Referenz auf ein zweites Dokument aus dem Umfeld der rechtlichen Gegenseite.
Zeitlich wird man das Karlstadtsche Schreiben somit nahe an das Reskript des Kurfürsten rücken und auf Ende Januar oder Anfang Februar 1515 schätzen dürfen. Liest man es als die unmittelbare Reaktion auf die kurfürstliche Aufforderung, von der Appellation abzusehen, erhellen sich die Vorgänge und Karlstadts Verhalten weiter. So benennt das Schreiben Karlstadts Entsetzen über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe und beteuert die eigene Unschuld. Namentlich wird der Wittenberger Schosser mit Anton Niemeck benannt. Dieser habe Forderungen gegen Karlstadt erhoben, während Karlstadt seinerseits Ansprüche gegen diesen habe geltend machen können. Nach Auskunft des Schreibens habe Karlstadt eine Gegenklage geführt (»widderclag auff und furgebracht«, »eyner witerklage halb«), wobei offen bleibt, ob über diese entschieden wurde. Das Schreiben beschränkt sich auf die Versicherung, ihm sei durch den Kläger »personlich und durch meynen anwalt offtmals bewilliget« worden, dass der fragliche Betrag erstattet würde. Im Unterschied zu dem späteren Bericht aus dem Kapitel (s. dazu die Einleitung zu KGK 016) wird die gegenüber Karlstadt bestehende Schuldigkeit nicht auf einen halben, sondern auf einen Gulden beziffert. Die Umstände, aus denen sich diese Verbindlichkeit ergeben haben mochte, bleiben unerwähnt.
Auf dem zu dem kurfürstlichen Reskript vom 23. Januar 1515 hinzukommenden Vorwurf der schweren Androhung (»comminacion«), die Karlstadt an seinem rechtlichen Gegenspieler verübt habe, antwortet das Schreiben nur indirekt. Ausdrücklich betont Karlstadt seine eigene Unschuld in der schwebenden Rechtsstreitigkeit (»aen schult«, »euchen und attestaction meyner unschult«). Sodann hebt Karlstadt in seinem Schreiben an den Kurfürsten mehrfach hervor, gegen ihn sei von Seiten des Klägers »gewalt« geübt worden (»gewalts in und witer mich gewaltiglich mit worten und wercken«, »widder mich gewaltiglich geubt«, »for gewalt zu […] beschirmen«). Auch sei er durch das Verhalten der Gegenseite zu juristischen Schritten genötigt worden: zunächst zu einer oder mehreren Gegenklagen und schließlich, nachdem ein rechtsgültiges Urteil (»eyn vormeynten sententz«) ohne Berücksichtigung der früheren Zusagen gesprochen wurde, zur Appellation.
Hinsichtlich der Appellation erklärt Karlstadt, er hätte nicht beabsichtigt, deren Fortgang ohne ausdrückliche Zustimmung des Kurfürsten zu betreiben (»in solcher mainunge/ eyngelechter appellacion keyn volg zu thun/ ich hette dan bevor Ewr curfurstlich gnaden gnadiglich erkenthnis ersucht und mich erbarlich und gnuglich bewarth/ das ich beweyßen kan und will «). Damit betonte er, die landesherrliche Superioriät nicht hinterfragt zu haben. Zugleich kündigte er an, dem Kurfürsten»eyngelechter appellacion/ copien« senden zu wollen, um die früheren Vorgänge und die Berechtigung dieses juristischen Schrittes nachvollziehbar zu machen. Was die Entscheidung des Kurfürsten angeht, erklärt Karlstadt, sich dessen Urteil bis zur letzten Konsequenz unterwerfen zu wollen, einschließlich möglicher »straff« und eines vollständigen Verlustes an Eigentum (»Ich wolte vil liber Ewr curfurstlich gnaden meyn armut uberraygen/ und bloß dor von gehn/ dan ewr curfurstlich gnaden mit aynerley sagge vorczornen.«).
Eine Deutung des Dokumentes als unmittelbare Reaktion auf das kurfürstliche Reskript vom 23. Januar 1515 dürfte den Schluss nahelegen, dass Karlstadt die Appellation auf kurfürstliches Geheiß zurückziehen musste.10 Dafür spricht auch ein späteres Dokument, das Karlstadts Bemühen belegt, die betreffenden Ansprüche auf höherer Verwaltungsebene des Kurfürstentums abschließend überprüfen zu lassen. So erklärt Karlstadt in einem späteren Schreiben an den Kurfürsten, er habe »churfurstlich/ gnaden/ gnedich verhorung ersucht« und »in soliger meynung dem erbarn und vhesten hansen von Dolischk reendtmeister berurte czenke zu endtscheiden mechtiglich heym geben«.
Mit Blick auf die seit Müllers Rekonstruktion vorrangig durch den Bericht des Kapitels bekannten Umstände der Romreise ist von Relevanz, dass der zeitliche Rahmen zwischen der nun bereits für das Frühjahr 1515 dokumentierbaren Bereitschaft Karlstadts, die Rechtsstreitigkeit im Kurfürstentum klären zu lassen, und dem Anliegen, nach Rom aufzubrechen11, deutlich größer ist, als es die szenische Schilderung des Kapitels in ihrem Rekurs auf einen ostentativ zum Ausdruck gebrachten Ungehorsam nahelegen mochte (»hatt er uns im capittel dorauff mit eynem Finger eynen schnellert12 geschlagen/ gesagt er wolle den gehorsam nit halten und sehen war wir ime dorumb thun wollen/ Ist darauff mit frefel aus dem gehorsam gegangen/ Und darnach gesagt/ wie er in seynen noten eyne Romfarth gelobt«). Die enge Verbindung, die der Bericht aus dem Kapitel zwischen den Rechtsstreitigkeiten mit Niemeck und der Romreise herstellt, mag von der Furcht genährt worden sein, Karlstadt könne vor Ort in Rom abermals gegen die Entscheidung des Kapitels appellieren oder gegen einzelne Stiftsherren juristisch vorgehen. Die Vermutung liegt nahe aufgrund der konstitutiven Verbindung der Niemeck-Affäre und Karlstadts Romreise in dem Bericht aus dem Kapitel und aus den Auflagen, die nach dem Referat des Pfalzgrafen Wolfgang bei Rhein für Karlstadts Absenz formuliert wurden (für beide Dokumente s. die Einleitung in KGK 020).