1. Überlieferung
Frühdruck:
DISTINCTIONES ‖ THOMISTARVM: ‖ πολλακι και κηπωρος ανηρ μαλα καιριον ειπεν ‖ hoc eſt:latino carmine ‖ Sæpe etiam eſt olitor valde oppurtuna locutus ‖ Magiſtri Ricardi Sbrulii Tetraſtichon ‖ Ad Leorem. ‖ Vt lepidus notis blanditur ubiq; catellus ‖ Et ferus ignotos mordet ubiq; viros ‖ Sic pius hunc notum laudabit quiſq; libellum ‖ Ignotumq;(ſcio)dilaniabit atrox. ‖ Magiſtri Andreæ Bodenſtein Trochaicū ‖ Sotadicū trimetrū acataleicū ad occipicii ‖ punores. ‖ Irruunt canes:edaxq; liuor:in quos ‖ Neſciunt/nihil valet probare liuor ‖ Eſt enim uetus nigre modus loquele ‖ Turpiter ꝙ obloqui iuuat prophanos.
Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg, 1507.
4°, 30 Bl., 60 S., Titelbl., A–Z, aa–zz, a–i, 1 Bl. unnummeriert.
Editionsvorlage:
Evangelisches Stift Tübingen , 3 an q 626.Weitere Exemplare: UB Leipzig , Philos. 109/3. — SBB-PK Berlin , Nl 2285.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6150.
- Freys/Barge, Verzeichnis Nr. 2.
- Grossmann, Wittenberger Drucke Nr. 45.
- Zorzin, Flugschriftenautor Nr. 2.
Literatur:
- Bauch, Scholastiker, 46.
- Barge, Karlstadt 1, 20–29.
- Janz, Luther, 117f.
- Bolliger, Infiniti contemplatio, 358–362.
Der Druck besteht aus 5 Lagen à 6 Blatt. Außergewöhnlich ist die Seitenzählung. Das Titelblatt und seine Rückseite sind unpaginiert, danach setzt eine Seitenzählung – keine Blattzählung – von A bis Z ein, daraufhin von aa bis zz, dann von a bis i. Die letzten beiden Seiten sind erneut unpaginiert. Zur besseren Orientierung wurde der ursprünglichen, auf dem Alphabet basierenden Seitenzählung eine durchgehende Blattzählung von 1 bis 30 in eckigen Klammern hinzugefügt.
Vermutlich sind die Distinctiones in einem ersten und einem verbesserten zweiten Druck mit demselben Druckstock erschienen. Die beiden überlieferten Exemplare aus Tübingen und Leipzig drucken den Titel vollkommen schwarz, der Druckstock muss reichlich mit Tinte versorgt gewesen sein, weshalb das Druckbild an einigen Stellen einen verschwommenen, übersättigten Eindruck erweckt. Das in Berlin aufbewahrte Exemplar hält den ebenfalls in Großbuchstaben gehaltenen Titel Distinctiones Thomistarum auf dem Titelblatt in Rotdruck. Einige seiner Seitenpressungen waren mit zu wenig Tinte versorgt, sodass der Text im unteren oder – seltener – oberen Bereich kaum leserlich ist (fol. 3v, 4r, 14r). Signifikante Unterschiede finden sich an weiteren Stellen. In der zweiten Zeile des Holzschnitts der hebräischen Buchstaben am Ende des Druckes fehlt im Berliner Exemplar ein Trennungspunkt zwischen zwei Worten. Auf fol. 28r wiederum haben die Tübinger und Leipziger Exemplare eine vierzeilige Randbemerkung, die der Berliner Druck auslässt. Daher ist zu vermuten, dass nach Fertigstellung des ersten Drucks, des heutigen Berliner Exemplars, das Fehlen der Randbemerkung aufgefallen ist und in den folgenden Durchgängen durch die Druckerpresse korrigiert wurde.
Abgesehen von diesen Besonderheiten ist die Typographie der erhaltenen Exemplare identisch. Ihre Schrifttype ist Antiqua. Die Makrostruktur der Drucke erinnert an Inkunabeln. Die gliedernden Untertitel und Überschriften sind graphisch nicht einheitlich hervorgehoben – es finden sich Fettdruck und Großschreibung, Marginalien können Gliederungselemente, Schlagworte und – üblicherweise – Verweise auf die zitierte Literatur anzeigen. Die Einrückung des Textblockes für Marginalien endet fol. 19v, um auf fol. 20v wieder aufgenommen zu werden. In diesem Abschnitt wirkt der Text durch starke Vermehrung der Abbreviaturen sehr gedrängt. Die Interpunktion ist sehr uneinheitlich und entspricht selbst in der Auswahl der Zeichen nicht modernen Gepflogenheiten.1 Satzanfänge sind nicht immer großgeschrieben oder mit einem Punkt abgegrenzt. Dagegen finden sich häufig Punkte, Doppelpunkte oder hochgestellte Punkte, die Zäsuren anderer Art (Unterteilung von Gliedsätzen, Aufzählungen, Lesezäsuren, Hervorhebungen von Termini wie auf fol. 3r u. ä.) wiedergeben.2 Das Komma scheint dem Drucker noch unbekannt zu sein.
Die Menge der Abbreviaturen hat sich gegenüber De intentionibus (KGK 001) vermindert, doch finden sich weiterhin einige schwer auflösbare Abkürzungen. Zudem werden Abbreviaturen nicht einheitlich eingesetzt. Für den Buchstaben »z« verwendet der Drucker zwei unterschiedliche Typen. An zwei Stellen sind Korrekturverzeichnisse eingefügt, nach etwa einem Viertel (fol. 8r) und am Ende des gesamten Werkes (fol. 29v). Die Vermutung, dass der Druck in zwei Phasen hergestellt wurde, bestätigt sich nicht, da bereits in der ersten Liste Errata festgehalten werden, die sich im dahinter liegenden Teil (fol. 8v und 10r) befinden. Das Berliner Exemplar weist auf dem Titelblatt einen handschriftlichen, später durchgestrichenen Schenkungseintrag von Karlstadts Hand auf: »Sapientissimo theologo N. fortt.«
In der Edition wurden die Satzzeichen original belassen, da ein Eingriff nur rigoros hätte ausfallen können. Wenn Abbreviaturen mit einem Endpunkt oder einem Doppelpunkt versehen wurden, sind sie in der Transkription ausgelassen, es sei denn, sie stehen zusätzlich für eine Satzgliederung. Punkt vor Ordinalzahlen wurde ebenso gestrichen wie Interpunktionen, die offensichtlich Sinneinheiten zerstören, in diesem Fall mit einem textkritischen Hinweis. Offensichtlich ausgelassene Interpunktion vor Großschreibung wurde ergänzt.
2. Inhalt und Entstehung
Am 30. Dezember 1507 ließ Karlstadt in Wittenberg die Distinctiones bei Johannes Rhau-Grunenberg drucken. Es war der erste Druck, den Karlstadt in Wittenberg ausführen ließ. Sie waren eine Antwort auf die ebenfalls in Wittenberg gedruckten Formalitates des Pariser Minoriten Antonius Sirectus, herausgegeben von dessen Ordensbruder und Wittenberger Professor Ludwig Henning, der 1505 auch Dekan der theologischen Fakultät war.3 Ähnlich De intentionibus waren auch die Distinctiones aus und für die Lehre entstanden. In der häufigen Ansprache an den Leser in der 2. Person bzw. seiner Mitnahme durch die 1. Person Plural spiegeln sich ebenso wie in den detaillierten Literaturangaben und den einführenden Erklärungen Merkmale des Lehrbuchs und Elemente seines Einsatzes im Unterricht wieder. Gegenüber De intentionibus sind formale Fortschritte erkennbar. Die Literaturverweise sind detaillierter und bis auf wenige Ausnahmen in die Marginalien gerückt. Explizit setzt sich Karlstadt vom Druck von De intentionibus ab, denen er Fehlerhaftigkeit im Druck und eigene Unklarheit im Aufbau nachsagt. Allerdings ist auch in den Distinctiones die Dichte an Druckfehlern noch recht hoch.
Die Gliederung erscheint häufig noch weniger klar als in De intentionibus. Dem kurzen, allein durch Großschreibung (bzw. Rotdruck) hervorgehobenen Titel folgt sogleich ein griechisch-lateinisches Motto sowie fünf Gedichte über zwei Seiten. Nach der Widmung an den Kurfürsten und einem Gebet setzt der Text mit der Definition des Untersuchungsgegenstandes ein. Dem Quästionenstil folgend, analysiert und typisiert Karlstadt den Begriff der Unterscheidung (distinctio) in einer Abfolge von Untergliederungen. Die verschiedenen Arten der Distinktion und ihre Untergliederungen (distinctio realis, distinctio rationis, distinctio formalis bzw. distinctio ex natura re, distinctio rationis rei ratiocinantis, distinctio rationis rationabilis, distinctio essentialis intrinseca, distinctio specivoca extrinseca, distinctio generica, distinctio numeralis) unterliegen erneut Syllogismen, die in Konklusionen aufgelöst werden. Unterbrochen wird der Text durch Exkurse zur Unterscheidungslehre bei Johannes Duns Scotus sowie Tabellen, die die unterschiedlichen Typen der Distinktion bei Karlstadt (fol. 28r und 28v) und bei anderen Autoren (fol. 7r) zusammenfassen. Das Ende beschließen eine Protestatio in Versform, das Impressum und ein hebräisches Ausgangsmotto.
Bereits auf der ersten Textseite (fol. 2r) taucht der skotistische Begriff der formalitates auf. Er geht auf die Formaldistinktion des Johannes Duns Scotus zurück.4 Im Unterschied zu Thomas von Aquin, der Individualität als quantitative Bestimmung und Akzidenz des Allgemeinen betrachtete, sah Scotus im Individuum die höhere Form des Daseins, in der das Wesen des Dinges seine höchste Ausprägung erhalte. Das oberste Prinzip der Individuation war seine Diesheit (entitas ut haec oder haecceitas).5 Dabei ist die Individualität eines Dinges von seiner allgemeinen Natur verschieden und dennoch in dem einen Ding zusammengeschlossen. Dieser Unterschied war für Scotus nicht nur ein gedachter, sondern jedes Ding habe eine doppelte Existenz, ein individuelles Sein und ein Sein allgemeiner Natur, zerlegbar nach Genus und Species. Während Scotus aber die Trennung von der Realdistinktion noch an die Aktivität des Objektes band, wurde bei seinem Schüler Franciscus Mayronis (um 1280–1328) die Formaldistinktion zu einer vollständig von der Realdistinktion getrennten Unterform der distinctio ex natura rei, die nicht durch Trennung der res, sondern der quidditates gekennzeichnet sei.6 Auf dieser Grundlage bildeten sich die formalitates als formale Unterscheidungskriterien realer bzw. wesenhafter Art, während die distinctiones die unterscheidenden Merkmale zwischen den formalitates markierten. Diese Termini bestimmten die Logikdiskussion des 15. Jahrhunderts.7
Karlstadt war der erste, der die skotistische formalitas in die thomistische Diskussion einbrachte,8 wobei er distinctiones und formalitates definitorisch kurzerhand gleichsetzte (fol. 2r). Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der Seinsformen der Einzeldinge, und überraschend für einen Thomisten treten bei Karlstadt die Universalien zurück. Er wischt dieses Problem beiseite, da er die Unterschiede zwischen Thomas und Scotus als kleiner betrachtet, als es viele dächten.9 An den Anfang stellt er eine Definition des Terminus distinctio, den er als die Verschiedenheit von Begriffen versteht, die sich durch sich selbst oder durch trennende Prinzipien unterscheiden (distinctio rationis und distinctio rei). Sowohl distinctio realis als auch distinctio rationis (fol. 2r) wie die distinctio ex natura rei et formalis haben keine außerhalb des Intellekts liegenden extrema und sind daher durch den Intellekt bedingt. Nach der Untergliederung der verschiedenen distinctiones-Typen kommt Karlstadt zur Kerndistinktion, der distinctio necessitans, d. h. der Unterscheidung der verschiedenen Seinsformen eines und desselben Dinges.10Scotus sah in den formalitates Realitäten, die dem Wesen unabhängig von dem sie erfassenden Intellekt anhaften. Die Distinktion ergebe sich aus der Natur der Sache. Karlstadt passt diese Aussagen an das erkenntnistheoretische Schema der thomistischen Auslegungen des 14. und 15. Jahrhunderts an. Jedem Einzelding komme nur eine Daseinsform zu, und es nötigt den Intellekt als die leitende Größe der Distinktionsbildung, jeweils unterschiedliche Konzepte zu formen.11 Der Intellekt erkennt nicht verschiedene species intelligibiles, sondern nur Konzepte innerhalb der species. Der Verschiedenheit der Konzepte entspricht eine jeweils andere ratio obiectivalis. Im Anschluss an Scotus12 entwickelt Karlstadt seine Vorstellung einer formalitas, die er nun doch gesondert als formales Prinzip begreift, durch welches das Objekt das Wissen seiner selbst begrenzt (fol. 17v). Der skotistischen quidditas entspreche die thomistische ratio obiectivalis. Der Unterschied liege allein darin, dass Scotus die Aktivierung der Distinktion vor die Tätigkeit des Intellektes verlegte, während Thomas von Aquin – und mit ihm Karlstadt – im realen ens nur ein Fundament des Erkenntnisprozesses sahen.13
Die Annahme real verschiedener Seinsformen an einem und demselben Gegenstand würde zu bedenklichen Konsequenzen führen wie einer Pluralität göttlicher Attribute, was die denknotwendige Vorstellung von der Einheit Gottes gefährde. Es sei allein die Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes, die sich die Fülle der Herrlichkeit Gottes in einem Begriff nicht vorstellen könne. Karlstadt rezipiert in diesem Zusammenhang die Anwendung der distinctio formalis für die Nichtidentität der Attribute Gottes durch Johannes Capreolus (fol. 5v).14 Später führt Karlstadt aus, dass eine numerische Unterscheidung der Dinge auf zahlenmäßiger Pluralität beruhe, aber nicht im Wesen des Dinges begründet liege, welches gleichartigen Dingen in allen Akzidentien gleich sei. Damit gerät Karlstadt in Konflikt mit der thomistischen Forderung nach einem einheitlichen Substrat von Begriffen. Um Scotus’ Konzeption der haecceitas zu meiden, geht Karlstadt einen komplizierteren, streng thomistischen Weg. Die zahlenmäßige Vielheit von wesenhaft gleichen Dingen entstehe, indem einzelne Teile der Wesenheit nur in der Möglichkeit (potentialiter) existierten und nur Teile des Begriffs zu aktualem Sein gelangten.15
Eine Tabelle (fol. 7r) führt die Definitionen der Rationaldistinktion bei jüngeren Thomisten (Herveus Natalis, Armandus de Bellovisu, Johannes Capreolus, Petrus Nigri, Dominicus de Flandria und Petrus de Palude, den Karlstadt wie Petrus Aureoli meist aus Capreolus zitiert) aus, die alle in der Hinsicht übereinstimmen, dass einem Konzept oder einer formalitas, mittels derer der Intellekt eine Sache wahrnimmt, eine ratio entspricht, die den Intellekt ex natura rei nötigt, ein Konzept oder eine formalitas zu formen. Die distinctio formalis ist mit der thomistischen Tradition zu vereinbaren, indem etwas einer Sache materialiter, aber nicht formaliter zukommt (fol. 10r).16 Mit seinen intensiven Quellenverweisen ist Karlstadt bestrebt, die Distinktionstheorie des Aquinaten zu rekonstruieren, ihn als Quelle freizulegen und von seinen Interpreten zu scheiden, letztlich folgt er aber vorrangig der Interpretation durch Johannes Capreolus.
Der umfangreichere zweite Teil des Werkes über die Realdistinktion (fol. 10v–29r) wendet die im ersten Abschnitt entwickelte Theorie argumentativ kaum an. Die Integration skotistischer Ansätze bereitet Karlstadt Probleme, Formaldistinktion und Essentialdistinktion klar zu unterscheiden. Die distinctio formalis beruhe auf dem Konzept, das reale Gegenstück der distinctio specivoca auf der species, doch bezeichnet Karlstadt beide als Formaldistinktion. Während die konzeptuelle Formalität den Intellekt zu seiner Aktivität initiiert, ist die spezivoke Formalität selbstmächtig.17 Die Schlusszusammenfassung (fol. 28v) kann die doch sichtbaren Differenzen nicht harmonisieren.18
Bemerkenswert ist, dass das Exemplar eines Werkes, auf das sich Karlstadt häufiger bezieht und das sich in seinem Besitz befand, entdeckt werden konnte, nämlich der Sentenzenkommentar des Herveus Natalis.19 Karlstadt annotierte den Band reichhaltig und legte sich für die ersten sechs Quästionen des ersten des in vier Bücher unterteilten Werkes eine Schlagwortsammlung an.20 Dort notierte er auch das Kaufdatum, das nachweist, dass das Werk kaum sechs Wochen vor Erscheinen der Distinctiones in seinen Besitz übergegangen war.21 Tatsächlich finden sich in De intentionibus noch keine Zitate aus dem Sentenzenkommentar. Auf dem Titelblatt ist der Kaufpreis vermerkt.22 In einigen Fällen sind Textübernahmen durch Unterstreichungen oder marginale Markierungen gekennzeichnet. Dies ist in den jeweiligen Fußnoten festgehalten.
Wie schon De intentionibus (KGK 001), sind auch den Distinctiones Geleitgedichte von Richardus Sbrulius und von Karlstadt selbst beigegeben. Der schon auf der Titelseite einsetzende Trimeter des Sbrulius arbeitet mit der Metapher vom jungen, freundlichen und vom wilden, beißenden Hund, dem der fromme, geneigte und der skeptisch-ablehnende Leser assoziiert werden. Karlstadt nimmt diese Metapher in einem trochäischen Vierzeiler auf, indem er die Angriffe wilder Hunde und der intellektuellen Neider gegen alles Fremde gleichsetzt. Sbrulius’ zweites Gedicht in epischen Hexametern mahnt den Leser, Karlstadts Werk wohlwollend zu lesen, denn es bringe apollinischen Glanz nach Wittenberg. Karlstadts darauf folgende Hexameter an die Thomisten drücken die Hoffnung aus, die Skotisten vom thomistischen Gebäude zu überzeugen, wobei sie Thomas und Scotus annähern und auf diese Weise die Skotisten als falsche Nachfolger ihres Meisters diffamieren. Das Gedicht endet in der unverblümten Aufforderung, das Buch zu kaufen. Nach der Widmung an Kurfürst Friedrich und seinen Bruder Johann als finanzielle Förderer des Druckes und Patrone der Universität sowie einem Gebet an Gott, Marie, den Engelschor sowie die Heilige Katharina von Alexandrien als Patronin der artistischen Fakultät setzt der Text ein. Selbst die Protestatio (fol. 29r) am Ende des Buches ist in elegischen Distichen verfasst, auch wenn sie nicht wie ein Gedicht gesetzt ist. Sie verteidigt die Logik zum Lob Christi und der Theologie. Indem Karlstadt am Ende des Buches betont, Neuland betreten und zugleich den Text quasi extemporiert zu haben (fol. 29r), sichert er sich rhetorisch gegen inhaltliche Angriffe ab.
Das griechische Motto auf dem Titelblatt mit lateinischer Übersetzung ist ein Zitat aus den Noctes Atticae des Aulus Gellius: »πολλάκι καί κηπωρὸς ἀνὴρ μάλα καίριον εἶπεν.«23 Woher Karlstadt Kenntnis von dem Sprichwort erlangte, ist nicht endgültig zu bestimmen. Als er die Distinctiones verfasste, lag es samt lateinischer Übersetzung in Gelliusausgaben vor, in den Adagia des Erasmus von Rotterdam sowie in einer Sprüchesammlung des Niccolò Perotti.24 Die kommentierten Gellius-Editionen lieferten die Übersetzung mit.25 Wörtliche Aufnahme fand der Sinnspruch in die von Ludovicus Odaxius Patavinus besorgte Ausgabe von PerottisCornucopiae, die Einführungssentenz ist bei starken Wortübereinstimmungen umgestellt. Unter dem Lemma »LAVDENTVR« heißt es: »Nemo enim ita feris est moribus quin aliquando faciat aut dicat: aliquid quod laudari possit, unde antiquissimus ille uersus uice prouerbii celebratus ē: πολλακι και κηπωρος ἀνήρ μαλα καίριον είπεν hoc est: Saepe ēt ē Olitor ualde opportuna locutus.«26 Karlstadts Zitat stimmt in Wort und Orthographie sowohl mit dem Gelliuskommentar als auch mit Perotti überein, der zudem die lateinische Übersetzung wie Karlstadt mit einem »hoc est« einführt. Abweichungen dagegen bei Erasmus, bei dem es stets »holitor« sowie in ersten Ausgaben »loquutus« heißt und die einleitende Floskel fehlt.27 Naheliegend erscheint daher eine Rezeption der CornucopiaePerottis in der Ausgabe von 1489, die der in Wittenberg lehrende italienische Poet Richardus Sbrulius vermittelt haben könnte.
Am Ende der Distinctiones findet sich die erste Verwendung hebräischer Lettern in einem Wittenberger Druck, allerdings handelt es sich noch um einen Holzschnitt. Beigegeben ist – dem Hebräischen von rechts nach links folgend – eine lateinische Übersetzung: »Jesus filius dei et filius David et filius Mariae«. Der Gottesname »Schaddai« ist biblisch nachweisbar,28 hier aber fälschlicherweise mit Samech statt mit Schin geschrieben. Die Schreibweise von Jesus (Yod He Schin Waf He) ist jedoch weder biblisch (Esra 2,2,3) noch talmudisch (bSanh 43a), taucht aber in dieser Form in Johannes Reuchlins kabbalistischer Schrift De verbo mirifico auf.29 Die Fehlschreibung des Gottesnamens Schaddai läßt ebenfalls auf eine falsche Translitteration auf der Basis von Reuchlin schließen.30 Karlstadt wollte offensichtlich seine Kenntnis der Schriften Reuchlins wie des Hebräischen publik machen, möglicherweise gar eine Nähe zur christlichen Interpretation der Kabbala herstellen.31»הֲ« steht für eines der Ersatzwörter des unaussprechlichen Gottes, HaShem (»השם«), übersetzt »der Name«, das nur die Stelle markiert, an der Gott erwähnt wird. Rüger vermutet die Verwendung eines hebräischen Gebetbuches, da die Kurzform »Element der hundert täglichen Becharoth« und somit Bestandteil der Segenssprüche beim Händewaschen war.32 Die Hebräischkenntnisse Karlstadts lassen sich zeitgleich an anderer Stelle nachweisen, einem sich nun in Halle befindlichen Sentenzenkommentar aus seinem Besitz.33 Karlstadt kommentierte den Band intensiv. An einer Stelle bietet Lombardus die ins Latein translitterierten hebräischen Gottesnamen: »Et pro eo qui apud nos deus dicitur: hebraica veritas habet heloym: quod est plurale huius singular/ quod est hel.«34 Dazu annotiert Karlstadt: »עלוים מלך דוד בן יהשוה«, erneut unter Verwendung des reuchlinschen »Ihsuh«, »אלוים« (»elohim« ohne »he« wie bei Lombardus: »heloym«, aber mit Anfangs-Aleph), sowie »אל« (»el« für »hel« bei Lombardus).
Karlstadts Hebraica sind die älteste bekannte Rezeption von Reuchlins kabbalistischer, pentagrammatischer Spekulation des Jesusnamens im Druck. Wie gut seine Hebräischkenntnisse zu dieser Zeit tatsächlich waren, läßt sich aus diesem Befund nicht sagen. Christoph Scheurl rühmte ihn in seiner Lobrede auf das Allerheiligenstift vom 16. November 1508 als im Lateinischen, Griechischen und Hebräischen wohl unterrichtet.35 Die frühreformatorische Schrifte Ain schöne dialogus, die lange Zeit wohl fälschlich Martin Bucer zugeordnet wurde, sah Karlstadt als Hebraisten und Gräzisten in einer Reihe mit Erasmus von Rotterdam und Johannes Oecolampad.36 Dagegen warf Matthias Flacius Illyricus, der in den 1540er Jahren in Wittenberg als Hebräischdozent lehrte, wohl in polemischer Tradition Karlstadt und Andreas Osiander mangelhaftes Wissen des Hebräischen vor.37