1. Überlieferung
Frühdruck:
Ad pꝛudentiſſimū D. Chriſtoferū Scheur⸗‖lum Noꝛicū vtiuſ Juris Doctoꝛem ac ciui⸗‖lis interpꝛetem. Et ad Lucam Chꝛonuchiū ‖ Pictoꝛieartis ſummo ſucceſſu Magiſtrū ami⸗‖cos amiciſſimos carmē Andꝛee Bodenstenij.
in:
Scheurl, Christoph
Oꝛatio doctoꝛis Scheurli at⸗‖tingens litterarū pꝛeſtantiam/ necnon laudem Eccleſie ‖ Collegiate Vittenburgenſis. ‖ […]
Leipzig: Martinus Herbipolensis (Martin Landsberg), Dezember 1509, fol. C5r.
4°, 18 Bl., Titelbl., A2–C6.
Editionsvorlage:
BSB München, Res. 4° P.o.lat. 752,2 t, Digitalisat.Weitere Exemplare: Familienbibliothek Scheurl, Fischbach, 308/363 (aus der Bibliothek Christoph Scheurls) — ThULB Jena, 4 Op.theol.III,33(4).
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 S 2803.
- Panzer, Annales 7, 164, Nr. 263.
- Grossmann, Bibliographie, Nr. 24.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 3.
Edition:
- Riederer, Versuch, 477f.
- Lüdecke, Cranach, 55f.
Auf fol. C6v befindet sich ein Holzschnitt von Lucas Cranach, der die Stiftskirche Allerheiligen in Wittenberg darstellt. Vgl. Koepplin/Falk, Cranach, 1, 187 Abb. 88 sowie 219 Nr. 96.
2. Inhalt und Entstehung
Das Gedicht Karlstadts auf den Universitätsrektor, Juristen und Humanisten Christoph Scheurl und auf den kursächsischen Hofmaler Lucas Cranach ist einer von insgesamt zehn Begleittexten, die Scheurls am 16. November 1508 gehaltener Universitätsrede1 beigegeben sind. Sie preist das mit der Universität assoziierte Wittenberger Allerheiligenstift und dessen am 17. September 1508 erfolgte Reform. Anlass waren die juristischen Promotionen von Ulrich von Dinstedt und Kaspar Schicker.2 Die Rede stellt die Ämter und Aufgaben der Kanoniker des Allerheiligenstifts nach der Stiftsreform vor, vom Propst über den Archidiakon, den Dekan und die Vikare bis hinab zu den Chorjungen.3 Karlstadt hatte – wohl gelegentlich der Reform – ein niederes Kanonikat erhalten.4 Als einziger Stiftsherr und Professor der Universität erhielt er von Scheurl eine herausragende Würdigung.5 Bewandert in Latein, Griechisch und Hebräisch, sei er ein solch bedeutender thomistischer Philosoph und Theologe, dass die Universität Wittenberg, wenn sie weitere Professoren seines Schlages hätte, mit der Pariser Sorbonne mithalten könnte.
Neben einem Mottogedicht des zwischen 1507 und 1512 in Wittenberg die humanistischen Fächer lehrenden italienischen Poeten Richardus Sbrulius, das Scheurls heilige Arbeit an der Wissenschaft mit den Mühen des antiken Orators Cato gleichsetzt, ist der Rede ein lobender Widmungsbrief Scheurls an Lucas Cranach vorangestellt, der auf den 1. Oktober 1509 datiert ist.6 Ganz am Ende bedankt sich Scheurl für das von Cranach geschaffene Porträt, das wohl den Anlass für das Schreiben gab. Indem er Cranachs Kunst einer täuschend echten Imitation der Natur – besonders in den Jagd- und Tiermotiven – mit den Arbeiten der antiken Maler und Bildhauer Zeuxis, Apelles, Parrhasios, Protogenes und Timanthes gleichsetzt, inspirierte er Karlstadts Gedicht. Cranachs Bedeutung für Kurfürst Friedrich III. und Herzog Johann sei mit der des Apelles für Alexander den Großen und des Protogenes für König Demetrios zu vergleichen. Unter den lebenden Malern stünde einzig Albrecht Dürer über Cranach.7
Nur auf Scheurls Rede beziehen sich von den Begleittexten allein ein Epigramm Christian Beyers8 und der Brief Scheurls an den frisch promovierten Ulrich von Dinstedt, Kantor am Allerheiligenstift.9 Die folgenden Gedichte von Beyer auf Cranach (fol. C3v–C4r), von Sbrulius auf Scheurl und Cranach (fol. C4v), von Karlstadt und Otto Beckmann (fol. C5v) rekurrieren nicht nur auf die entsprechenden Passagen der Rede, die die künstlerischen Ausschmückungen der Allerheiligenstiftskirche durch Dürer und Cranach beschreiben, sondern explizieren die Verweise auf antike Maler und Anekdoten aus Scheurls Huldigungsbrief an Cranach.10Beckmann erwähnt seine Referenz direkt im Titel: »De epistola elegantissima in laudem Luce Chroni pictoris famigeratissimi«.11 Höchstwahrscheinlich sind die bezugnehmenden Gedichte nicht erst entstanden, nachdem der Lobbrief auf Cranach und die Rede auf das Allerheiligenstift bereits gedruckt vorlagen, denn Brief und Rede erstrecken sich über die Lagen A1v–A3v und A4r–C2v, wurden also nicht auf eigenen, von den Begleitgedichten abgetrennten Bögen gedruckt.12 Ebenso wie die Rede, die die Universitätsangehörigen im gemeinsamen Festakt hörten, muss stattdessen Scheurls Brief gleich nach seiner Entstehung am 1. Oktober 1509 unter den Wittenberger Gelehrten und Dichtern kursiert sein (und sei es im autorisierten Manuskript oder abschriftlich), die auf ihn innerhalb von etwa sechs Wochen mit ihren Gedichten reagierten.13
Karlstadts Gedicht ist in zwölf elegischen Distichen gehalten. Es widmet sich Scheurls Lobrede und dem Huldigungsbrief an Cranach. Karlstadt lobt den lichtdurchfluteten Glanz der Cranach’schen Bilder, die in ihrer Perspektivik den alten Meistern Apelles, Zeuxis, Parrhasios und Timanthes überlegen seien.14 Mit der Wendung, dass Cranach in der Lage sei, auf die gehörige Weise zu malen (»pingere rite valet«), bezieht sich Karlstadt auf Scheurls Verismus-Lob.15 Karlstadt schildert aber nicht nur den bereits von Scheurl erwähnten Wettstreit der antiken Maler, sondern flicht in seine Distichen darüber hinausweisende Anspielungen ein, die die Lektüre antiker Klassiker untermauern. So läßt er den Maler Timanthes dem siegreichen Cranach einen Ajax überreichen, ein von Plinius beschriebenes Gemälde, welches den Streit von Aias (Ajax) mit Odysseus um die Waffen des Achilleus darstellte.16 Die Siegespalme wird Cranach von Androcydes übergeben, Achtung bezeugt Theopompus – sollte sich Karlstadt mit der Erwähnung von diesem Namen weiter im Kontext der Pliniusquelle bewegen, müsste es sich um eine Verwechselung oder einen Druckfehler des dort aufgeführten Künstlers Eupompus handeln.17 Am Ende des Gedichts heißt es, dass die kluge Rede Scheurls den Ruhm Cranachs mehrt, der Spötter und Gegner mit Schweigen übergehe und deren Zorn zerschellen lasse – ein humanistischer Topos, den Karlstadt mit diversen Anspielungen auf antike mythische und historische Exempel dekoriert, die den Untergang unwürdiger Gegner im Wettkampf mit Musen und Göttern illustrieren (Verse 23f.).
Dem Gedicht angehängt ist ein hebräisches Sprichwort in lateinischer Transliteration, welches nach Karlstadt aus den Sprüchen Salomons exzerpiert sei. Es entstammt jedoch den Sprüchen der Väter aus der Mishna (Avdot 1,17) und gehört in den Kontext der jüdischen Gebetstradition.18