Nr. 14
Andreas Karlstadt an Georg Spalatin
[Wittenberg], 1514, 13. Februar

Einleitung
Bearbeitet von Alejandro Zorzin
unter Mitarbeit von Antje Marx und Antje Marx

1. Überlieferung

Edition:
  • Hekel, Manipulus, 17–20; (eine Abschrift aus Hekel in der Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 187, fol. 241r-v; darin handschriftlicher Zusatz, fol. 241v: Ex Jo. Fr. Heckelii Fasciculo IX. p.).

Literatur:

Schon im Jahr 1683 plante Johann Friedrich Hekel (ca. 1640–1700)1, auf eigene Kosten Transkriptionen von 100 Briefhandschriften aus der Reformationszeit drucken zu lassen.2 Angeblich hatte er eine Sammlung von »über 1500 Epistolas Mscr. virorum illustrium im Original« zusammengetragen, von denen »noch kein einziger gedruckt« vorlag.3 Unter den Verfassern von »etliche[n] alte[n] Briefe[n], […] Carmina und Schriften« die Hekel »in Original bekommen« hatte, führte er damals auch den des »Andr'eae' Carolstadii« auf.4 Erst 1695 gelang es ihm, eine fünfzig Briefe enthaltende Teiledition (Manipulus primus) auf den Buchmarkt zu bringen.5 Im Vorwort stellte Hekel in Aussicht, insgesamt zwei »Briefzenturien« edieren zu wollen, aufgeteilt in vier Büchlein, die jeweils fünfzig Briefe enthalten würden, von denen dieses vorliegende den Anfang machte. Dazu kam es aber nicht, weil ihn »entweder der Mangel an Absatz6, oder sein bald hierauf erfolgter Tod« daran hinderten.7 Zu jenem Zeitpunkt war seine Sammlung auf etwa 2.000 Manuskripte angewachsen. In seiner Besprechung des Manipulus weist Ludwig Fr. Hesse bei drei Briefen Differenzen auf, die im Vergleich mit anderen Editionen deutlich werden. »Die Ungenauigkeiten, sinnenstellenden Fehler und falschen Lesarten, die man auch sonst hin und wieder in mehreren Hekels Sammlung einverleibten Briefen antrifft und von denen andere Abdrücke fern geblieben sind, mögen zum Theil von dem Mangel alter Schriftzüge kundiger und mit Auflösung der darin so häufigen Abkürzungen hinlänglich vertrauter Copisten herrühren, auf welche er sich in vielen Fällen zu verlassen genöthigt sah.«8 Untersuchungen von Otto Clemen (1902)9 zu Hekels Manipulus (31 Briefe verschiedener Verfasser an Spalatin, zwischen 1512 und 1527) und Abschriften aus Hekels Sammlung (ca. 25 Briefe diverser Verfasser an Spalatin, zwischen 1521 und 1544)10 lassen erkennen, dass dieser, wie schon vor ihm Gottlieb Spizel11 und Johann G. Olearius12, an Teile von Spalatins Nachlass gekommen war.13 Hekels Handschriftensammlung, aus der er Veit Ludwig Seckendorff14 (Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo seu de reformatione, 1688 u. 1692) und Christian Schlegel15 (Historia vitae Georgii Spalatini, 1693) Briefe zur Verfügung stellte16, gilt als verschollen. Allerdings konnte Otto Clemen festellen, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts Johann Friedrich Köhler auf mindestens zwei Autographen daraus Zugriff hatte.17

Dieser Brief an Georg Spalatin18 ist der erste von insgesamt 52 erhaltenen Schreiben Karlstadts an ihn. Der Beginn ihrer Beziehung geht auf die Zeit Ende 1511 zurück, als Spalatins zweiter Wittenberger Aufenthalt einsetzte.19 Der Kontakt wurde durch den damals kurz vor seinem Abschied aus Wittenberg stehenden Christoph Scheurl20 angebahnt. In einem Antwortbrief Scheurls (vom 9. November 1511)21 auf zwei an ihn gerichtete Briefe Spalatins ist auch kurz von Karlstadt die Rede. Spalatin scheint in einem der vorangegangenen Briefe eine Bemerkung zu Ausführungen Scheurls über Karlstadt gemacht zu haben.22 Dafür will sich Spalatin nachgehend bei Scheurl entschuldigen. Der antwortet ihm, dass es unter Freunden üblich sei, rücksichtsvoll und bescheiden Dinge anzumerken und es deshalb keiner Entschuldigung bedürfe. Scheurl empfiehlt Spalatin, die Freundschaft mit Karlstadt zu suchen.23 Dass sich Spalatins und Karlstadts Beziehung daraufhin festigte, legt ein Brief Scheurls vom 10. Mai 1512 an Karlstadt nahe, wo er ihm mitteilt, Neuigkeiten an Otto Beckmann geschrieben zu haben, die Karlstadt lesen und an Spalatin weitergeben solle (KGK 010). Dass schon während der Jahre 1512/1513 zwischen Karlstadt und Spalatin Briefe kursiert haben könnten, lässt sich nicht ausschließen.

2. Inhalt und Entstehung

Karlstadt schreibt, dass er den ihm von Spalatin zugesandten Ratschlag [Reuchlins24] zur Frage, ob Judenbücher zu verbrennen sind, längst hätte durchlesen und seine Antwort dazu hätte geben wollen. Aber die Vorlesungstätigkeiten (besonders die schwierige dafür zu bewältigende Stoffmenge bei Scotus25) und andere Dinge hätten ihn daran gehindert, Spalatins (und auch seinem eigenen Wunsch) nachzukommen. Sowohl die Verpflichtungen als auch die Zuneigung zu Spalatin hätten ihn gezwungen, den größten Teil des Buches bei Lampenlicht zu lesen. Spalatins Bitte, ihm mit Reuchlins Buch auch seine Meinung darüber zurückzusenden, fiele ihm leicht. Im Buch finde er nichts, was nicht großartig, nicht gelehrt sei; soweit er sehe, stehe nichts den heiligen Weissagungen entgegen, richte sich nichts wider die von der heiligen Römischen Kirche anerkannten heiligen Dekrete. Nichts wäre zu finden, das der Weisheit oder eines guten Mannes unwürdig sei. Sollte Reuchlin allgemeine Sätze aufgestellt haben, die in späterer Zeit durch kirchliche Entscheidung verworfen werden könnten, werde ihn seine öffentliche Bezeugung der Rechtgläubigkeit (»catholico protestatio«) dennoch retten und vor allem Vorwurf schützen. Was dem Heiligen Cyprian26 zum Heil geriet, dass er die bei Häretikern gegebene Taufe nicht als gültig anerkennen wollte, ist für alle Theologen eine Hilfe. Auch dürfe ein Gelehrter in noch zur Debatte stehenden Themen einem anderen Gelehrten widersprechen. Dennoch wäre Reuchlin durch Rechte so umschanzt und mit so bewundernswerter Gelehrsamkeit gewappnet, dass ihm fast niemand zu widersprechen wage. Karlstadt bedauert, dass Reuchlin, durch Missgunst bedrängt, seine für Rechtsstreitigkeiten geeigneten und notwendigen Mühen nicht zum Nutzen der studierenden Jugend aufwenden könne. Karlstadt bittet Spalatin, diese sehr verspätete Antwort nicht seiner Untätigkeit, sondern seinen vielen Tätigkeiten anzulasten.

Spalatins Kontakt zu Reuchlin belegt ein vor dem 13. August 1513 an den Pforzheimer gesandter Brief.27 In einem von Reuchlin am 31. August 1513 datierten Brief an Spalatin dankt er ihm dafür, dass er sich beim Kurfürsten für ihn eingesetzt habe und der ihm einen Trostbrief habe zukommen lassen.28 Als Dank für die Reuchlin von kürfürstlich-sächsischer Seite zugesagte Unterstützung in seinem Konflikt mit der Kölner theologischen Fakultät hatte Reuchlin am 13. August 1513 Kurfürst Friedrich von Sachsen die gedruckte Übersetzung einer Lebensbeschreibung Kaiser Konstantins des Großen aus dem Griechischen ins Lateinische gewidmet. Im abschließenden Gruß dieser Widmungsvorrede unterstellt Reuchlin seine Schriften dem Schiedsspruch des Kurfürsten und dem Urteil von dessen Wittenberger Universität.29 Das könnte für Spalatin ein Anlass gewesen sein, Dozenten der Wittenberger Universität um ihre Meinung zu Reuchlins Schriften gebeten zu haben.30 Etwa um die selbe Zeit (wohl Ende 1513), in der Spalatin Karlstadt um Lektüre und Stellungnahme zum Augenspiegel Reuchlins bat, richtete Spalatin (über Johann Lang31) dieselbe Bitte auch an Luther, der ihm einen (undatierten) Antwortbrief zukommen ließ.32


1Zu ihm ausführlich Hesse, HekelDigitalisatLinksymbol.
2Brief von Hekel an Christian Daum (21. Sept. 1683); Auszug bei Hesse, Hekel, 262f.; vgl. auch Mahnke, Epistolae, 46 (Br.179.202).
3Brief von Hekel an Daum (11. Nov. 1680); Auszug bei Hesse, Hekel, 260; vgl. auch Mahnke, Epistolae, 45 (Br.179.174).
4Brief von Hekel an Daum (18. Juli 1680); Auszug bei Hesse, Hekel, 257.
6»Wohl um die schnellere Verbreitung des Buches zu bewirken, sah sich Hekel veranlasst, zu dem gewöhnlichen Kunstgriffe seine Zuflucht zu nehmen und die übriggebliebenen Exemplare mit einem neuen Titel und dem veränderten Druck- oder Verlagsort: Dresdae und der Jahrzahl 1698 zu versehen, wie in den Unschuldigen Nachrichten 1715. S. 84 […] bemerkt wird.«; Hesse, Hekel, 305.
8Ebd., 309.
10»Anizo empfähet derselbe noch etliche alte Briefe, so mir nichts nüz, und sind dieselben […] ad Spalatinum […] geschrieben.« (Hekel an Daum, 22. Juli 1680), Hesse, Hekel, 259.
11»Herr Spizelius ist mein amicus oportunus et certissimus, der mir sehr viel zu Liebe tut.« (Hekel an Daum, 20. Juni 1674, Hesse, Hekel, 246). »Heute schreibe ich ad Spizelium nostrum nach Augsburg und danke ihm, dass er mich unlängst wieder mit so sehr vielen Büchern beschenket.« (Hekel an Daum, 19. Juni 1675; Hesse, Hekel, 247).
12»Bitte zu berichten, ob er [= Daum] mir etwa eine commission an Hr. M'agister' Olearium nach Halle wolle auftragen. Denn ich nächstkommende Woche zum wenigsten 14 Tage lang verreisen werde.« (Hekel an Daum, 8. Juni 1676; Hesse, Hekel, 249); »Meine Reise ist glücklich abgeloffen. M'agister' Olearius hat mir viel Ehre erwiesen. Seine Bibliothek ist auch höchst kostbar […].« (Hekel an Daum, 4. Juli 1676; Hesse, Hekel, 250).
15ADB 31 (1890), 371f.LinkLinksymbol.
16Vgl. Hekel, Manipulus, 2f. (= Praefatiuncula).
17Vgl. Clemen, Spalatiniana, 103, Anm. 1 u. 106.
18Georg Spalatin (1484–1545); zu ihm vgl. Höss, Spalatin; TRE 31 (2000), 605–607 u. Kohnle, Spalatin.
19Von Oktober 1511 bis August 1516; vgl. Höss, Spalatin, 61–82.
20Christoph Scheurl (1481–1542), vgl. VerLex (Hum) 2, 840–877.
22Vielleicht zu Aussagen über Karlstadt in Scheurls Oratio (1509); vgl. Barge, Karlstadt 1, 28 u. Anm. 95. Wobei völlig offen bleibt, worauf sich die Bemerkung Spalatins bezogen haben könnte. Für wertvolle Hinweise zu dem gesamten Sachverhalt dieses Briefes danke ich Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer, Reutlingen.
23»Carlstadium, de qu'o' alioquin plura, amicum habetis familiaritate tua haud indignum; ad praesens si de me dubites, ipse censeas.« (Scheurl, Briefbuch 1, 84).
24Johannes Reuchlin (1455–1522); zu ihm vgl. VerLex (Hum) 2, 579–633.
25Johannes Duns Scotus (um 1266–1308).
27RBW 2, Nr. 219, besonders 378, Anm. 1.
28RBW 2, Nr. 226, 416f. Der Trostbrief des Kurfürsten an Reuchlin ist nicht erhalten.
29RBW 2, Nr. 220, 382–388. »Ad quod tu me tibi, o illustrissime imperii Romani elector, totis viribus pacifice conserva, cuius arbitrio et universitatis tuae Vittenburgensis iudicio scripta mea perpetuo fore subiecta promitto.« (ebd., 388, 261ff.).
30Dass Kurfürst Friedrich III. von Sachsen (1463–1525) Anfang 1514 direkt auf den um Reuchlin entstandenen Konflikt angesprochen wurde und dazu Stellung bezog, hat Hermann Barge aufgezeigt. Er weist auf einen vom dominikanischen Prior und Ordensprovinzial Laurentius Aufkirchen an den Kurfürsten geschriebenen Brief vom 17. Januar 1514 mit Verdächtigungen gegen Reuchlin hin. Im Konzept zur Antwort darauf lässt der Kurfürst verlauten, nicht gern vernommen zu haben, »[…] das Doctor Reuchlin, als ein fürtrefflicher berumbter und hochgelarter Man, darfur er geachtet wirdet, so groß geirret und wider den Christenlichen Glauben gehandelt sol haben, das wir ihm auch seiner Person und Geschicklichkeit halben nit gönten.« (Barge, Karlstadt 1, 47f.) Zu den drei im ThHStA Weimar unter Reg. N 31 befindlichen Schriftstücken aus dem Briefwechsel des Kurfürsten, die Reuchlins Auseinandersetzung mit der Kölner Theologischen Fakultät zum Thema haben, s. die Angaben in RBW 2, 417f., Anm. 4.
31Vgl. WA.B 1, 20, Brief (ohne Datum) von Spalatin an Johann Lang: »Praeterea ex te scire cupio, an D. Martinus viderit Doctoris nostri Capnionis de perdendis Iudaeorum libris [= Reuchlins Ratschlag vom 6. Okt. 1510]. Quod si non legit, nihil in praesentia magis peterem quam ut pellegeret meque faceret de sua sententia certiorem.«
32Vgl. WA.B 1, 23f. Ein Vergleich der Stellungnahmen beider Wittenberger Theologieprofessoren zum Gutachten Reuchlins bei Bubenheimer, Luther, 65.

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