1. Überlieferung
Frühdrucke:
D. Andꝛee Carolſtatini docto-‖RIS ET ARCHIDIACONI VVITTEN-‖BVRGENSIS :ⅭⅭⅭⅬⅩⅩ: ET APOLOGE-ǁticę Cōclusiōes ꝓ ſacris literis & Vuitten-‖burge. ita editę vt & leoribus ‖ ꝓfuturę ſint. ‖ Puerulo legittime docente ‖ palinodiam cano. ‖ [Am Ende:] Vuittenburgij per Ioannē Viridimontanū, ‖ Anno salutis, M,D,XVIII, ‖
Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg, 1518.
4°, 20 Bl.; Sign: A4–E4.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, A: 97.5 Theol. (14).Weitere Exemplare: BSB München, 4° Polem. 2498, 7 (Provenienz: Christoph Tengler) — Nürnberg Familienbibliothek Scheurl, Neue Nr. 332 l. — UB Marburg, XIXa B 4 l (9).
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6203.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 3.
- Grossmann, Wittenberger Drucke, Nr. 45.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1919.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 7A.
- Eck, Defensio (Greving), A1.
DO.·ANǁDREAE CAROLOSTAǁdij & Archidiaconi VVitten=ǁburge. ccclxx & Apologeti=ǁcæ concluſiones pro ſacris ǁ literis & VVittenbur=ǁge. compoſitæ. ǁ Eiuſdem defenſio aduerſus Mo=ǁnomachiam D. Ioannis Eckij ǁ Theologiæ dooris. ǁ Inuenies deinde Epithome eiuſ=ǁdē de Impij iuſtificatione, quā ǁ non male ad inferos dedu=ǁū reduū uocaueris. ǁ [TE]
[Straßburg bzw. Schlettstadt]: [Schürer Offizin], [1519].
4°, 58 Bl.; (A4–D2) Sign: A4, B8, C4, D4, E8, F4, G8, H4, I8, K6.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 143.8° Helmst.Weitere Exemplare: SB München, 4° Polem. 540.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6204.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 14.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1920.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 7A.
- Eck, Defensio (Greving), A2.
Die vier Zierleisten auf dem Titelblatt von Druck [B:] stammen aus dem Material der Straßburger Offizin von Matthias Schürer5. Nach dessen Tod im Herbst 1519 gingen diese Bordüren in den Besitz seines Mitarbeiters und Neffen Lazarus Schürer über. Dieser erhielt Anfang Oktober 1519 in Schlettstadt Stadtrecht und richtete dort eine eigene Presse ein6. Lazarus Schürer verwendete die Bordüren, aus denen die Elemente stammen, die das Titelblatt dieser Karlstadt-Sammelausgabe schmücken, erst auf verschiedenen Drucken im Jahr 15207. Diese 58 Blatt starke Ausgabe kann frühestens nach Fertigstellung des Druckes von Karlstadts jüngstem darin enthaltenen Werk, der Epitome (Ende Januar 15198) in Angriff genommen worden sein. Anlass dazu könnte Karlstadts wachsender Bekanntheitsgrad im Vorfeld, bzw. im Nachhinein der Leipziger Disputation gegeben haben.
Auf dem Titelblatt des Wittenberger Erstdrucks [A:] werden 370 (CCCLXX) Verteidigungsthesen vermerkt. Auch das Vorwort nennt diese Gesamtzahl (»conclusiones ccclxx«). Die in lateinischen Ziffern durchgehende Nummerierung der Thesen im Werk zählt 380 (E3r: »ccclxxx«) und springt beim Seitenwechsel B1r/B1v von »lxxxvi« auf »lxxxviii«. Am Ende (E3v–E4r) fügte Karlstadt, die ursprüngliche Nummerierung weiterführend (»ccclxxxi« bis »ccccvi«), noch 26 Thesen hinzu. Der abschließende Gruß an die Leser (E4r) gibt die Gesamtzahl der im Werk enthaltenen Thesen mit 406 an (»Conclusiones CCCCVI«)9. Der Nachdruck [B:] verzeichnet auf dem Titelblatt »ccclxx & Apologeticae conclusiones«, und auch wie die Vorlage im Vorwort »conclusiones ccclxx«. Die in arabischen Ziffern durchgehende Nummerierung springt beim Seitenwechsel B4r/B4v von »159« auf »170«, beginnt aber nach »185«, beim Seitenwechsel B5r/B5v, dann wieder mit »176« und nummeriert weiter durch bis These »379« (D2r); die am Ende zugefügten 26 Thesen gehen von »380« bis »405«. Im abschließenden Gruß wird im Nachdruck [B:] die Gesamtzahl entsprechend mit »405« Thesen angegeben (D3r).
Karlstadts Entschluss, die auch für damalige Verhältnisse ungewöhnlich hohe Anzahl von mehr als 400 Thesen in einer einzigen Druckausgabe als »Büchlein« publik zu machen, könnte durch das Vorbild des Giovanni Pico della Mirandola inspiriert sein.10 Der hatte 1486 Conclusiones sive Theses DCCCC drucken lassen. Picos im Jahr darauf gedruckte Apologia tredecim quaestionum11 , mit der er dreizehn von seinen Gegnern aus den 900 Thesen ausgewählte und bei der Kurie als häretisch denunzierte Thesen verteidigte, ist am Schluss in eine Reihe weiterer Thesen zusammengefasst, die als »apologeticae conclusiones«12 bezeichnet wurden.
2. Inhalt und Entstehung
Ab dem Sommersemester 1517 kommentierte Karlstadt in einem Kolleg AugustinsDe spiritu et littera. Seine diesen Augustintext erläuternden Scholien erschienen in drei gedruckten Lieferungen über die Jahreswende 1517/1518 und einer vierten Anfang 1519 bei Johann Rhau-Grunenberg in Wittenberg.13
Am 5. Februar 1518 schreibt Karlstadt an Georg Spalatin, er habe vor, ein zweites Büchlein zu veröffentlichen, in dem er von der Buße handeln will.14 Zwei Monate später, am 11. April 1518, schickte er ein »von Christi, bzw. den Zuhörern des Ritters Augustin« angefertigtes Gesuch an den Kurfürsten auf den Weg. Mit dieser Supplicatio – schreibt Karlstadt an Spalatin15 – würden die Studenten seiner Augustinvorlesung auch wieder sein eigenes Vorhaben zur Sprache bringen. Zu diesem Zeitpunkt spricht Karlstadt in seiner erhaltenen Korrespondenz mit Spalatin erstmals von bevorstehenden Herausforderungen, die ihn als Mitglied der Wittenberger Fakultät besonders in Anspruch nehmen könnten. Er suggeriert, dass seine Studenten mit ihrer Bitte an den Kurfürsten, ihn von kirchlichen Verpflichtungen zugunsten seiner akademischen Tätigkeiten zu entlasten, ahnten, was »zu befürchten, wie zu erwarten sei«: dass »einige gegen diese angesehene Universität schreiben werden«, zu deren Widerlegung »muntere und von Störung (turbatione) freie Kämpfer« nötig seien.16
Anhaltspunkte zur Entwicklung eines solchen Szenarios verdichteten sich während der Monate Februar und März 1518. Eine von Johann Tetzel17 und Konrad Wimpina18 ausgearbeitete Thesenreihe gegen Luthers Ablasskritik wurde Mitte Januar 1518 in Frankfurt a. d. O. publik.19EcksObelisken lagen Karlstadts Kollegen und Freund Luther seit Mitte März 1518 vor20. Auch über Kontakte Ecks zu hohen kirchlichen Würdenträgern, die sich für die Wittenberger negativ auswirkten, war Karlstadt unterrichtet.21 Eine Vorbereitung der Wittenberger theologischen Fakultät zur Abwehr solcher sich anbahnender Angriffe konnte mittels Disputationen über entsprechende Thesenreihen kollektiv angegangen werden. Auf die Ausarbeitung solcher Thesenreihen wird Karlstadt sich spätestens im Verlauf des Aprils 1518 verstärkt konzentriert haben.22
Karlstadts Vorwort zu seinen 370 und Verteidigungsthesen für die heilige Schrift und die Wittenberger ist undatiert.23 Den Abschluss der Thesen datierte er auf den 9. Mai 151824; das Datum ließ Karlstadt stehen, als er noch einen Schlussteil mit weiteren 26 Verteidigungsthesen hinzufügte. Laut Aussage im Vorwort sollte über die Thesensammlung in mehreren Disputationen über den Sommer 1518 in Wittenberg debattiert werden. Am 14. Mai respondierte Nikasius Claji25 unter Karlstadts Vorsitz vermutlich über den ersten Teil der Thesen (Thesen 1 bis 101)26. Die Druckbögen des ersten Teils des zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggedruckten Werks schickte Karlstadt noch am selben Tag an Spalatin.27 Die Drucklegung der ausgedehnten Thesensammlung als Büchlein in Quartformat war vor dem 11. Juni 1518 abgeschlossen.28 Möglicherweise wurde kurz nach dem 7. Juli über die explizit gegen Johannes Eck gerichteten Thesen 102–213 disputiert, aus Anlass der Promotion des Bartholomeus Bernhardi29 zum Baccalaureus formatus.30
Die Thesensammlung besteht aus fünf Teilen.31 Der erste (Thesen 1–101) behandelt Autoritätenfrage und Schrifthermeneutik vor dem Hintergrund ekklesiologischer Themen und dem Problem kirchlicher Normen. Der zweite Teil (Thesen 102–213) setzt sich mit einigen von EcksObelisci auseinander, die dieser gegen Luthers 95 Thesen geschrieben hatte. Auch im dritten Teil (Thesen 214–324) skizziert Karlstadt sein sich Eck gegenüber abgrenzendes Verständnis von Gnaden- und Prädestinationslehre; dabei stellt er den Gegensatz zwischen christlicher Theologie und aristotelischer Philosophie (bzw. Ethik) stark in den Vordergrund (Thesen 221–249). Im vierten und fünften Teil wendet sich Karlstadt gegen den Dominikaner Johannes Tetzel. Dabei richtet er sich in den Thesen 325–343 in Sachen Ablass und Buße gegen die von Konrad Wimpina verfassten und von Tetzel im Januar 1518 in Frankfurt a. d. O. verteidigten Thesen.32 In den Thesen 344–379 befasst sich Karlstadt mit Fragen des Ketzerrechts und der Exkommunikation, womit er Tetzels jüngst aufgestellte Thesenreihe zu dieser Thematik angreift.33 Nachdem er den ganzen Thesenkomplex abgeschlossen (These 380 als Schlussthese) und mit Datum versehen hatte, fügte er noch einen Nachtrag von 26 Thesen hinzu, ebenfalls die Gnadenlehre, deren schriftmäßige Begründung bzw. deren kritikwürdige scholastische Formulierung betreffend (Thesen 381–406).
Die Inhaltsübersicht zeigt, dass der Kontext für die zweite bis fünfte Thesenreihe die durch Luthers 95 Thesen einsetzende, zunächst um die Themen Ablass, Buße, Gnade konzentrierte Kontroverse ist. In der ersten Thesenreihe (1–101) spielen die ekklesiologischen Themen und das Problem der kirchlichen Normen eine so zentrale Rolle, wie sie sie von antilutherischer Seite erst durch den Dialogus in praesumptuosas Martini Lutheri conclusiones de potestate papae des Silvester Prierias34 bekamen. Durch Karlstadts Kontakte nach Rom35 könnten ihn schon früh Informationen über Silvester Prierias’ Verteidigung der päpstlichen Autorität erreicht haben36; Karlstadt hatte den Kurientheologen während seinem römischen Aufenthalt 1515/16 persönlich erlebt.37 Es ist möglich, dass Karlstadt deshalb diese Fragestellung in den Thesen 12–22 aufgriff. Die in dieser 1. Thesenreihe postulierte Verbindung von Jurisprudenz und Theologie38 lässt sich in den größeren Rahmen einer neuen »Wissenschaftstheorie« einordnen, in der Karlstadt den Bezug der traditionellen Wissenschaften zur Theologie neu zu bestimmen versuchte. Während das Thema Jurisprudenz und Theologie die 1. Thesenreihe (1–101) bestimmt, bildet das Thema Philosophie und Theologie eine Grundstruktur der dritten Thesenreihe (214–325). Das juristo-theologische Programm wird inhaltlich an der Autoritätenfrage und der Schrifthermeneutik deutlich gemacht, das antischolastisch-antiphilosophische an der Gnadenlehre. Die erste und dritte Thesenreihe können demnach auch als Beitrag zu der damals in Wittenberg erörterten Neuordnung des akademischen Lehrbetriebs verstanden werden.39Spalatin hatte etwa Anfang Februar 1518 an Luther und Karlstadt die Frage gerichtet, welchen Wert die Logik bzw. Dialektik für die Theologie habe. Beide antworteten übereinstimmend, dass jene keinen Nutzen für das Theologiestudium habe. Karlstadt wollte Spalatin über eine beispielhafte Neuordnung der Universität mündlich berichten. Am 11. März 1518 schickte Luther nach einer Besprechung im Hause Karlstadts einen Entwurf über die Reform des Studiums an Spalatin, der uns nicht erhalten ist. Karlstadt hat die Frage nach dem Wert der Dialektik nicht isoliert, sondern im Rahmen einer breiteren Neugestaltung des Wissenschaftssystems durchdacht. Die theoretischen Grundlagen für seine Überlegungen zur Studienreform hat er in der ersten und dritten Thesenreihe vom Mai 1518 vorgelegt.