Einleitung in die Kritische Gesamtausgabe Karlstadts (KGK), Teil VII

von Thomas Kaufmann

Der vorliegende Band umfasst die Briefe und Schriften Karlstadts aus dem Jahr 1524. Es ist dies ein Schlüsseljahr der frühen Reformationsgeschichte, in dem der aus Franken stammende Dissident der Wittenberger Reformation in einen offenen persönlichen und publizistischen Schlagabtausch mit Luther eintrat, aus Kursachsen ausgewiesen wurde und mit in Basel gedruckten Schriften den innerreformatorischen Abendmahlsstreit auslöste. Die Publikationsoffensive des Herbstes 1524 sollte die nachhaltigste Wirkung erzielen, die überhaupt von ihm ausgegangen ist. In den Texten dieses Jahres wird auch erstmals umfassend deutlich, dass Karlstadt zu einer zentralen Figur des sich formierenden Lagers der sogenannten radikalen Reformation (Kontakte zu Thomas Müntzer, dem Grebel-Kreis und Gerhard Westerburg) geworden war. Daneben bildeten die Auseinandersetzungen über seine Amtsstellung, die zwischen Karlstadt, dem Landesherrn, der Universität und dem Stiftskapitel geführt wurden und in die sich auch der Rat der Stadt Orlamünde einschaltete, ein weitgehend durchlaufendes Hintergrundthema, das bis zu seiner Ausweisung vital blieb. Nach einer weitgehenden Überlieferungslücke zu seiner Tätigkeit in Orlamünde zwischen Mitte 1523 und Frühjahr 1524 setzt nun ein mit der zeitweiligen Konsolidierung seiner Position im Saaletal verbundener intensiver Quellenfluss ein.

Mit der Interpretation von Röm 9,3 (Was Bann und Acht sei, KGK 250) setzte Karlstadt seine Ende 1523 wieder aufgenommene Publikationstätigkeit fort. Er ließ in der inzwischen in Jena angesiedelten Offizin des aus Erfurt gekommenen Druckers Michael Buchfürer drucken, und zwar so lange, bis Luther über die Landesherrschaft gegen dessen Tätigkeit intervenierte. Karlstadts Schrift spiegelt eine gottesdienstliche Innovation in Orlamünde: die Collatio, eine Zusammenkunft, in der Laien theologische Fragen offen diskutieren konnten – ein für Karlstadt zentrales Moment laikaler Partizipation und Mündigkeit. Die Schrift Was Bann und Acht sei bietet eine Auslegung von Röm 9,3; offenbar hatten Gemeindeglieder sich und Karlstadt gefragt, was der Apostel Paulus damit meine, von Christus für seine Brüder ein Verdammter zu sein. Implizit setzt sich Karlstadt mit Luthers in den Invokavitpredigten von März 1522 erhobenem Vorwurf auseinander, er habe die Schwachen nicht beachtet und ihnen ein Ärgernis bereitet. Im Kern gehe es Paulus darum, die Juden an der in Christus kulminierenden Seligkeit teilhaben zu lassen. In mystischer Terminologie interpretiert Karlstadt das Kreuz Christi als ein »das eigene Selbst Lassen«. Als wie Christus Verbannter wolle Paulus die Juden zu Christus bewegen. Deutlich distanziert sich Karlstadt nun auch von jeder Instanz, die zwischen Gott und die Seele treten könne, etwa das biblische Wort. Die Rolle der Schrift verlagert sich dahin, nachträglich zu bestätigen, was vorgängig als inneres Testimonium des Geistes im Christen ergangen ist. In Bezug auf den Bann tendiert Karlstadt dazu, irrende oder unsittlich lebende Gemeindeglieder eindeutig auszuschließen; gegenüber Luther und Wittenberg dürfte implizit ein Vorwurf der Laxheit bestanden haben. Die Umrisse inkommensurabler Positionen zwischen radikaler Gesinnungsgemeinde und reformatorischer Mehrheitskirche zeichnete sich ab. An der Bannthematik verdichteten sich 1523/24 grundlegende ekklesiologische Alternativen zwischen den gemeindereformatorisch orientierten und den an einer landesherrlichen Reformation ausgerichteten Reformationskonzepten in Kursachsen.

In seiner Schrift Ob Gott Ursache sei des teuflischen Falls (KGK 251) geht Karlstadt einem früher auch in einer Wittenberger Disputation behandelten Thema nach: Hat das Böse seinen Ursprung in der Allmacht Gottes? Nach Karlstadt schöpft der Teufel das Böse aus sich selbst heraus. Die Anwendung der aristotelischen Ursachenkategorien auf Gott lehnte er ab. Durch Gehorsam wäre Adam und Eva der Fall erspart geblieben; die Sünde wurzelt also in der Handhabung des freien Willens. Zufriedenheit mit den eigenen Kräften aber sei Ungelassenheit und insofern böse. Durch die Lösung von sich selbst wirke die von Gott in den Menschen eingesenkte Sehnsucht nach dem ewigen Licht in der eigenen Seele nach. Der auf die menschlichen Kräfte vertrauende freie Wille, der die Erlösung durch Christus abrogiere, sei der Ursprung des Bösen. Die Schrift spiegelt auch kontroverse Diskussionen mit Wittenberger Studenten, fügt sich also an die akademische Lehrtätigkeit Karlstadts an, verschränkt sie aber mit seinen der Laienbildung dienenden Orlamünder gemeindekonzeptionellen Initiativen. Interessanterweise gibt Karlstadt die Disputation in einer volkssprachlichen Abhandlung zum Teil wieder, zum Teil annonciert er, wo er über die Disputation hinausging.

Die wie die beiden vorausgegangenen gleichfalls zu Beginn des Jahres 1524 bei Michael Buchfürer in Jena publizierte Schrift Von dem Sabbat (KGK 252), die drei Nachdrucke erreichte, interpretiert den geistlichen Sabbat als Aspekt der mystisch gedeuteten Heiligung des Menschen. Zugleich geht Karlstadt die Frage der Bedeutung der kirchlichen Feiertage an. Er setzt mit einer Erläuterung des hebräischen Wortes Schabbat ein – eine für den »Reuchlinisten« Karlstadt typische Verfahrensweise. Das Sabbatgebot diene der Heiligung und solle die Menschen ihrer imago dei erinnern; zudem diene der Sabbat der Nächstenliebe, da er den Dienenden und Arbeitenden einen Ruhetag beschere. Der geistliche Sabbat bereite auf die Befolgung des ersten Gebotes und die geistliche Beschneidung vor. Karlstadt spiritualisiert das alttestamentliche Gesetz im Sinne einer lebensdienlichen, auf Gelassenheit und den Verzicht auf eigene Werke und die Vereinigung mit Christus abzielende gute Ordnung. Nur Ungläubige zwängen ihre Diener am Feiertag zur Arbeit. Nach Christus steht unverbrüchlich fest, dass der Sabbat um des Menschen willen gemacht sei. Der innere Sabbat diene dem Ruhm Gottes und der Ruhe der Seele, der äußere Sabbat fördere die Gesundheit des Menschen. Interessant ist der Hinweis, dass Karlstadt Diskussionen voraussetzt, die eine Veränderung der traditionellen Sonntagsheiligung der römischen Tradition vorsehen. Sabbat sei täglich zu halten; bei der Festlegung des äußeren Sabbats sei Freiheit gegeben, die aber sozial verantwortlich zu gestalten sei. Gegen die Verweigerung der Dienstfreiheit ist Widerstand berechtigt. In der Formulierung seiner mystischen Heiligungs- und Erlösungsvorstellungen werden Einflüsse Taulers, der Theologia Deutsch und Seuses wirksam; in der Anknüpfung an kabbalistische Auslegungen des Sabbats folgt er Reuchlins De arte cabalistica. Die Sabbatschrift ist Teil eines komplexen frühreformatorischen Diskurses um die Reformation der Sonntags- und Feiertagsheiligung.

Karlstadts Kontakte ins böhmische Joachimsthal bestanden fort (s. KGK 253 und KGK 254). Dem ist zu entnehmen, dass er als kommunikativer Bezugspunkt von Wittenberg abweichender gemeindereformatorischer Vorstellungen galt. In seiner erst im Herbst 1524 gedruckten Schrift Ob man gemach fahren soll (KGK 273) spiegeln sich die entsprechenden Diskussionsstände. Bis Herbst 1524 zogen sich die Auseinandersetzungen um Karlstadts amtliche Stellung in Orlamünde hin. In die entsprechenden Korrespondenzen waren die Universität und das Stiftskapitel in Wittenberg, der Landesherr, der Orlamünder Rat und Karlstadt selbst involviert. Nachdem er ca. ein Jahr in Orlamünde unbehelligt geblieben zu sein scheint, fordern ihn Universität und Stiftskapitel Ende März auf, an seinen Dienstort Wittenberg zurückzukehren und seine dortigen Aufgaben (Predigten in der Stiftskirche; Vorlesungen an der Universität) wieder aufzunehmen. Die kurfürstliche Administration wurde davon unterrichtet (KGK 255). Auf die dem Karlstadtschen Archidiakonat inkorporierte Stelle, die bisher durch einen Vikar vertreten worden sei, sei er nicht berufen worden. Dass die Wittenberger in dieser Weise aktiv wurden, hing gewiss damit zusammen, dass die Reformationsprozesse in Orlamünde und im Saaletal an Dynamik gewonnen hatten und Karlstadt durch die Buchfürersche Presse in Jena einen als gefährlich eingeschätzten konkurrierenden Einfluss zu entfalten begann. Außer Bildentfernungen dürften Karlstadts Orlamünder Reformen eine deutsche Abendmahlsfeier sub utraque specie und die Einstellung der Kindertaufe umfasst haben sowie Maßnahmen zur Intensivierung laikaler theologischer Reflexions- und Diskussionsprozesse, unter anderem durch tägliche Bibelvorlesungen. In Abwehr der Rückberufung nach Wittenberg reiste Karlstadt im April 1524 zur Verhandlung seiner causa in die Universitätsstadt; im Juni 1524 legte er sein Archidiakonat nieder. Karlstadt, der wohl in enger Verbindung mit dem Orlamünder Rat agierte und dessen Vertrauen besaß, mobilisierte Solidarität aus einigen Dorfschaften, die sich gegenüber Herzog Johann von Sachsen für seinen Verbleib als Pfarrer in Orlamünde einsetzten. In Bezug auf das Gespräch mit den Vertretern von Universität und Stift in Wittenberg Anfang April lässt sich aus Karlstadts Schreiben an den Herzog (KGK 256) folgern, dass man ihm zugestanden hatte, der Messverpflichtungen im Kontext seines Archidiakonats ledig zu sein. Ein in dieser Sache abgefasstes Schreiben der Universität an den Kurfürsten, welches über Karlstadt lief, fand allerdings sein Missfallen, so dass er es entsprechend gegenüber dem Hof in Weimar korrigierte. Dabei ging es vor allem um Schulden, deren zügige Begleichung gegenüber der Universität Karlstadt unmöglich schien. Die Einnahmen der Orlamünder Pfarrei stellten sich als sehr überschaubar dar.

In einem lebhaften Briefwechsel zwischen Johann von Sachsen, Friedrich III. von Sachsen, der Universität, dem Stiftskapitel, dem Rat und der Gemeinde zu Orlamünde und einigen Landgemeinden, die Karlstadt versorgte, zeigte sich, dass er sich hinsichtlich seiner Gemeindearbeit eines großen Rückhaltes erfreute. Dabei beriefen sie sich entgegen dem bestehenden Nominationsrecht von Stift und Universität auf Grundsätze des von Luther 1523 theologisch ausgearbeiteten Rechts der Gemeinde auf die Pfarrerwahl. Allerdings verbanden sie dieses Konzept der äußeren Vokation mit der von Karlstadt propagierten Vorstellung einer Prävalenz der Erwählung bzw. Berufung durch den Geist Gottes. In einem entsprechenden Schreiben versuchte die Gemeinde ihr »Recht« gegenüber Stift und Universität durchzusetzen. Der Landesherr erteilte einem Pfarrwahlrecht der Gemeinde eine deutliche Absage. Daraufhin ließen Stiftskapitel und Universität gegenüber den Gemeinden keinen Zweifel, dass Karlstadt zu gehen habe. Karlstadts Herzog Johann vorgetragene Bitte, bis zum Ende des Sommers 1524 in Orlamünde bleiben zu dürfen, blieb unbeantwortet. Deshalb wandte er sich im Mai 1524 an Kurfürst Friedrich III. (KGK 257). Der Brief lässt erkennen, dass Karlstadt wegen der finanziellen Lage und der Unsicherheit seiner Stellung arg angefochten war; erneut sekundierten ihm die Gemeinden. Wohl selten in der frühen Reformationszeit prallten Grundsätze landesherrlicher und gemeindereformatorischer Vorstellungen so deutlich aufeinander wie im Konflikt um Karlstadt in Orlamünde. Der Kurfürst lehnte Karlstadts Gesuch ab (KGK 258) und forderte ihn auf, seinen Verpflichtungen als Archidiakon in Wittenberg nachzukommen; auch den Gemeinden im Saaletal antwortete er entsprechend. Im Schreiben an die Orlamünder Gemeinde teilten Universität und Stift mit, dass sie die Rechtsauffassung des Kurfürsten teilten. Karlstadt reagierte gegenüber Friedrich III. (KGK 259), indem er von seinem Wittenberger Amt zurücktrat und um die Erstattung noch ausstehender Gehaltsforderungen bat.

Er begründete diesen Schritt damit, dass er die durch sein Amt geforderte Verstrickung in das Pfründensystem aus Gewissensgründen nicht akzeptierten könne. Eine persönliche Erklärung eines Amtsverzichts gegenüber Universität und Stift und eine Klärung der finanziellen Sachverhalte erfolgte Ende Juli 1524. Die Bestätigung der Karlstadtschen Resignation durch Kurfürst Friedrich von Sachsen erfolgte umgehend (KGK 260) und wurde als Ausscheiden aus dem Orlamünder Pfarramt verstanden. Allerdings deutet manches darauf hin, dass Karlstadt in Orlamünde bleiben und sich und seine Familie als Bauer ernähren wollte. Offenbar hatte Karlstadt sich etwas später auch erboten, seine Lehre gegenüber dem Landesherrn und Luther zu verantworten (KGK 263), worauf dieser sich nicht einließ (KGK 264); eher solle er Kursachsen verlassen.

Zu den besonders dramatischen Scheidungen, die sich im Jahr 1524 ergaben, zählt auch die zwischen Karlstadt und Müntzer bzw. den Gemeinden von Orlamünde und Allstedt. Ausschlaggebend war die Frage der Gewalt. Unter den Wittenberger Theologen stand Müntzer Karlstadt besonders nahe. Die wenigen Zeugnisse ihrer Verbindung, die sich erhalten haben, zeugen von großer persönlicher Vertrautheit und intensivem theologischen Austausch (KGK 261 und KGK 262). Der nach dem Brand der Mallerbacher Kapelle einsetzende Konflikt mit Kurfürst Friedrich führte bei Müntzer und den Allstedtern zu einer wachsenden Gewaltbereitschaft, der sich Karlstadt und die Orlamünder in einem in Wittenberg im Druck erschienenen Sendbrief widersetzten. Die Eskalationen im Horizont der Gewaltfrage trugen auch zur weiteren Zuspitzung im Verhältnis zwischen den Wittenbergern und Karlstadt bei. Die antireformatorischen Maßnahmen Herzog Georgs von Sachsen gegen reformationsgesinnte Untertanen veranlassten Müntzer, die Suche nach koalitionswilligen Gemeinden zu verstärken. Er wollte offenbar Karlstadts Autorität in der Region nutzen. Die Orlamünder versuchten nicht nur, der Müntzer drohenden obrigkeitlichen Gewalt zu entgehen; ihre tendenziell gewaltverneinende Position hatte tiefe theologische Wurzeln. In seiner 1525 in Wittenberg edierten Entschuldigung des falschen Namens des Aufruhrs (ed. in ) wird Karlstadt deutlich machen, wie sehr ihn Müntzers Anfrage aufwühlte; er zerriss den Brief und ritt zu einem befreundeten Kollegen, um sich auszusprechen und diesen einzuweihen. Interessant ist freilich, dass Karlstadt in seinem Antwortbrief an Müntzer einen freundlich-väterlichen Ton anstimmt, bei aller Entschiedenheit in der Sache also die Motive der Wertschätzung akzentuiert. Die Absage an menschliche Bündnispläne war tief in Karlstadts Gelassenheitstheologie verwurzelt. Aufgrund von Informationen des Kaspar Glatz, der Karlstadts Nachfolge in Orlamünde anstrebte, wird erkennbar, dass der Wittenberger Dissident das Abendmahl des Opfercharakters beraubt hatte, es sub utraque feierte und die Säuglingstaufe einstellte (KGK 264, Beilage 1).

Die kursächsische Administration (KGK 264 und KGK 265) schien im Sommer 1524 aufgrund der ihr zugekommenen Informationen zu Karlstadts Orlamünder Reformen geteilter Meinung gewesen zu sein. Während Kurfürst Friedrich auf eine Ausweisung des Dissidenten setzte, war Herzog Johann, Karlstadts Ansinnen, seine Lehre gegenüber den Fürsten und Luther zu verantworten, nicht abgeneigt; freilich blieb dies am Ende ohne Resonanz. Die definitive Entscheidung gegen die Disputationsoption dürfte infolge der konfrontativen Gespräche zwischen Luther und Karlstadt in Jena bzw. zwischen Luther und der Gemeinde in Orlamünde getroffen worden sein (Acta Jenensia, KGK 267). Gegen Luthers entschiedene Urteile über seinen ehemaligen Kollegen gegenüber dem Landesherrn drangen weder Karlstadt selbst noch der Orlamünder Rat durch (KGK 270 und KGK 271).

Luthers Predigt- und Visitationsreise ins mittlere Saaletal (21.–29. August 1524) hatte vor allem dazu gedient, den Einfluss Karlstadts einzuschätzen und ihm entgegenzutreten. Karlstadt hörte Luthers Morgenpredigt in Jena und forderte ihn daraufhin brieflich zu einem Gespräch auf (KGK 266). Er fühlte sich dadurch von Luther diskreditiert, dass dieser zwischen ihm und dem »Allstedter Geist«, also Müntzer, nicht hinreichend unterschieden habe. Der im Jenaer Umkreis Karlstadts, vermutlich durch seinen Schwager Gerhard Westerburg und Martin Reinhart möglicherweise in Absprache und Kooperation mit Karlstadt abgefasste und in der zweiten Septemberhälfte bei Georg Erlinger in Bamberg oder Wertheim in den Druck gegebene Bericht des Jenaer Gespräches dokumentiert die Tiefe des zwischen Luther und Karlstadt eingetretenen Zerwürfnisses; es markiert die dann auch in eine breitere Öffentlichkeit gelangte definitive Scheidung der beiden. Obschon die Darstellung des Jenaer Gespräches zwischen Karlstadt und Luther (22. August) und des Auftritts des Wittenberger Reformators in Orlamünde (24. August) eine gewisse Tendenz zugunsten Karlstadts erkennen lässt, ist an der sachgerechten Wiedergabe des Verlaufs und des Inhaltes kaum zu zweifeln. Die Rückblicke zeigen, dass die Erfahrungen, die er nach der Rückkehr Luthers von der Wartburg im März 1522 gemacht hatte, traumatische Qualität besaßen. Luthers spektakuläre Übergabe eines Goldguldens als Unterpfand seiner Aufforderung, die Auseinandersetzung fortan publizistisch zu führen, wird man wohl primär so zu verstehen haben, dass er sich einer öffentlichen Disputation mit Karlstadt nicht stellen wollte. Die Orlamünder Gemeinde hatte sich direkt an Luther gewandt und um ein Gespräch gebeten; ein entsprechender Brief ging in die Publikation der Acta Jenensia ein. Darin warfen die Orlamünder Luther vor, ohne Fundierung durch die Bibel voreingenommen zu urteilen. In der direkten Konfrontation mit Luther bestanden sie auf ihrem Recht, den Pfarrer selbst zu wählen. Luther verweigerte eine neuerliche Begegnung mit Karlstadt. Die lebhafte Auseinandersetzung des Wittenberger Professors mit den von Karlstadt instruierten Laien markiert die innere Dissonanz der Wittenberger Reformation wie kaum ein anderes Ereignis. Die thematische Konzentration auf die Bilderfrage dürfte den Punkt bezeichnen, an dem der reformationspraktische Bruch zwischen Luther und Karlstadt am deutlichsten geworden war. Die forcierte Ausgrenzungsdynamik, die im Folgenden an Karlstadt exekutiert wurde, war gewiss auch eine Folge der laikalen religiös-theologischen Selbstbehauptung in Orlamünde, vor der Luther kapitulierte.

Der folgenreichen Reise von Karlstadts Schwager Gerhard Westerburg in die Schweiz kommt eine in ihrer Wirkung kaum zu überschätzende Bedeutung zu: Nach einem Kurzaufenhalt in Zürich gelang es ihm, in Basel weitere Schriften Karlstadts zu publizieren, die den innerreformatorischen Abendmahlsstreit auslösten. Der Zielort Zürich ergab sich daraus, dass bereits zuvor eine Korrespondenzbeziehung zwischen Karlstadt und dem Grebel-Kreis (KGK 268 und KGK 269) bestanden hatte. Die Gruppe war sehr gründlich über die Entwicklung der innerreformatorischen Dissoziationsprozesse in Mitteldeutschland informiert. Der Kontakt zu Karlstadt scheint dem zu Müntzer vorangegangen zu sein. Die Verbindung zu dem Buchführer Andreas Castelberger, der der frühen Täufergruppe in Zürich angehörte, dürfte für die Drucklegung durch Thomas Wolff und Johannes Bebel entscheidend gewesen sein. Dass Karlstadt den nach Zürich gesandten »Boten« Westerburg mit insgesamt acht Manuskripten ausgestattet hatte, deutet darauf hin, dass er die mit Luthers Überantwortung des Goldguldens in Jena erfolgte Ermächtigung zum publizistischen Widerspruch gegen den ehemaligen Wittenberger Kollegen nur außerhalb Kursachsens zu verwirklichen für möglich hielt. An der Zahl der Manuskripte zeigte sich auch, dass Karlstadt seit geraumer Zeit an Schriften gegen Luther oder einzelne Aspekte von dessen Theologie und Reformation geschrieben hatte, diese Texte aber nicht in den Druck zu befördern vermochte. Für Karlstadt stand gewiss die Erfahrung im Hintergrund, dass Nickel Schirlentz nach Lockungen Luthers 1522 seine Tätigkeit für ihn eingestellt hatte, die Wittenberger Universitätszensur gegen ihn aktiviert worden war und man auch Buchfürers Wirken in Jena unmöglich gemacht hatte. Da Luther über die typographische Infrastruktur Kursachsens »herrschte«, blieb nur das Ausweichen. Deutet der weite Weg Westerburgs, der wohl auch Georg Erlinger nicht dazu hatte bewegen können, Karlstadts Abendmahlsschriften zu drucken, darauf hin, dass Luthers Einfluss auf das Druckwesen im Herbst 1524 deutlich über Kursachsen hinausreichte?

Karlstadts offizielle Ausweisung aus Kursachsen datiert auf den 18. September 1524 (KGK 271); dass er seiner Pfarrei in Orlamünde ledig sei, bekräftigten die herzoglichen Räte aufgrund der Wahl des Kaspar Glatz durch die Universität. Zugleich wurde Karlstadt zugesichert, dass publizistische Angriffe auf Luther ungestraft bleiben würden. Karlstadt traf die nicht sachlich begründete Ausweisungsverfügung unerwartet. Entscheidend wird wohl gewesen sein, dass die kurfürstliche Administration ihn aufgrund der Lutherschen Agitation für einen Müntzer gleichwertigen Aufrührer hielt. An der Entscheidung zur Ausweisung Karlstadts war Luther direkt wohl nicht beteiligt. Nach seiner Flucht schrieb Karlstadt an seine ehemalige Gemeinde (KGK 272); seine schwangere Frau Anna von Mochau und der kleine Sohn blieben zunächst in oder bei Orlamünde zurück und trafen erst im Februar 1525 wieder mit Karlstadt zusammen. Spuren seines Wirkens in Orlamünde lassen sich noch einige Jahre später nachweisen.

Das wohl älteste der seit Ende September in Basel gedruckten Manuskripte Karlstadts betrifft die seit der »Wittenberger Bewegung« (1521/22) akut gewordene Frage, ob man eindeutig als »Ärgernis« erkannte Missstände um der »Schwachen« willen noch aufrecht erhalten könne oder umgehend zu Veränderungen übergehen müsse. Die Schrift Ob man gemach fahren soll (KGK 273) war eine von vier Schriften, die der Basler Drucker Thomas Wolff unfirmiert publizierte. Vermutlich lag sie, wie sich aus einer Anspielung Capitos ergibt, in der ersten Oktoberhälfte im Druck vor. Dass diese Schrift trotz ihrer Brisanz nicht nachgedruckt wurde, erklärt sich vielleicht vor allem von der thematischen Wucht der Abendmahlsfrage her. Voraussetzung von Ob man gemach fahren soll sind die Orlamünder Reformen, auf die so ein gewisses Licht fällt: Bildentfernungen, Gottesdienstreformen und Neustrukturierung der Armenversorgung können als zentrale Anliegen Karlstadts vorausgesetzt werden. Vielleicht war die dem Joachimsthaler Stadtschreiber Barthel Bach gewidmete Schrift auch als eine Art Reformationskonzeption nach »Orlamünder Modell« gedacht, die das moderate Vorgehen in der böhmischen Grenzstadt kritisieren wollte. Beim Handeln habe man sich Karlstadts Überzeugung nach allein an den in der Schrift überlieferten Willenskundgaben Gottes zu orientieren. Wenn man eine bestimmte Einsicht gewonnen habe, dürfe man mit ihrer Umsetzung nicht zögern. In Bezug auf Götzenbilder sei Eile geboten, wie Karlstadt daran verdeutlicht, dass man auch einem arglosen Kind das Spiel mit einem scharfen Messer untersage.

Auch die Schrift Wie sich Glaube und Unglaube halten (KGK 274) gehört zu jenen, die Westerburg in Basel in den Druck gab. Der unpolemisch-pädagogische Charakter der Schrift, die auf dem Johannesevangelium basiert, macht es wahrscheinlich, dass der Sitz im Leben die Lehrvorträge (Collationes) waren, mit denen Karlstadt den Orlamündern Grundsachverhalte seiner Theologie nahebrachte. Biblische Randannotationen dienen der Ausweitung der theologischen Argumentationsbasis. Im Zentrum der Schrift steht die Verhältnisbestimmung von Glauben und Unglauben, die im Anschluss an Johannes mit dualistischen Begriffspaaren (Licht – Finsternis; Gott – Teufel; Geist – Buchstabe) expliziert wird. Der absoluten Opposition von Glaube und Unglaube sind unterschiedliche Intensitätsgrade der Gläubig- oder Ungläubigkeit ein- und untergeordnet. Der wahre Glaube wohne im Herzen; eine Form des Glaubens sitze im Verstand. Die menschliche Lebenssituation sei als ein Hin und Her zwischen Glauben und Unglauben zu bestimmen. In Anknüpfung an die mystischen Texte des Jahres 1523 (Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes in und Was gesagt ist: Sich gelassen in ) bestimmt Karlstadt in der vollständigen Subordination unter den Willen des Vaters, in Gelassenheit und Selbstverleugnung den sukzessive fortschreitenden Weg der Abtötung aller Begierden und natürlichen Kräfte. Der göttliche Lichtfunke im Menschen müsse von allen irdischen Kontaminationen befreit werden; dies geschieht durch den von Gott gewirkten Glauben.

Das inhaltliche Zentrum der Karlstadtschen Publizistik des Jahres 1524 bildet das Verständnis des Abendmahls. Die mit fünf Ausgaben besonders erfolgreiche Schrift Wider die alte und neue papistische Messe (KGK 275) war wohl bereits Ende Mai 1524, möglicherweise als Antwort an den Grebel-Kreis, abgefasst worden. Im Unterschied zu den übrigen Abendmahlsschriften der von Basel aus gestarteten Publikationsoffensive enthält sie noch keine expliziten Fundamentalangriffe auf die leibliche Realpräsenz. Für Karlstadts höchst polemische Schrift ist der Ansatzpunkt entscheidend, den Wittenberger Theologen, insbesondere Luther, vorzuwerfen, dass sie weiterhin die Messopfervorstellung beibehielten. Als Beweis diente ihm die auch in Luthers Formula missae et communionis beibehaltene Elevation. Karlstadt griff die zu Beginn des Jahres 1524 erschienenen Traktate auf; theologisch liegt Wider die alte und neue papistische Messe zwischen Von dem Priestertum und Opfer Christi () und jenen weiteren Traktaten zum Abendmahl, in denen er dann seine markante exegetische Position zur Deutung der Einsetzungsworte – Christus habe auf sich selbst verwiesen als er sprach: »das ist mein Leib« – entfaltet hat. Neben Luthers liturgischer Ordnung war es vor allem seine die leibliche Realpräsenz akzentuierende Schrift Von Anbeten des Sakraments des heiligen Leichnams Christi, die Karlstadt bzw. seine mutmaßlichen Adressaten im Grebel-Kreis im Visier hatten. Karlstadt stellt gegenüber seinen Empfängern, die den fortgesetzten Gebrauch der Messe inkriminiert zu haben scheinen, heraus, dass die Volkssprache bei der Messzelebration zwingend sei. Das Messopfer müsse überwunden werden, deshalb sei auch die Elevation aufzugeben. Der eigentliche Zweck des Mahles besteht Karlstadt zufolge im Gedächtnis.

Die mutmaßlich erste Abendmahlsschrift Karlstadts, die die leibliche Realpräsenz Christi in Brot und Wein bestritt, dürfte der Traktat Von dem Missbrauch des Herren Brot und Kelch (KGK 276) gewesen sein. Freilich blieb dieses Thema auch in ihm noch eher am Rand – ein Argument für die relative chronologische Einordnung der Schrift. Aus dem Verhörprotokoll der Basler Drucker Wolff und Bebel ergibt sich, dass Westerburg zusammen mit Felix Mantz gegen Ende September 1524 bei den Druckern erschienen war und die Übernahme der Druckkosten zusagte. Im Falle der Bebelschen Drucke sind auch Angaben zu Auflagenhöhen überliefert. Im Falle dieser und der anderen Abendmahlsschriften Karlstadts erfolgten die Nachdrucke außerordentlich zügig. Die Brisanz des Inhaltes war also der entscheidende Beschleunigungsfaktor; in Nürnberg wurden Exemplare der Schrift eingezogen. Vermutlich stellt Von dem Missbrauch des Herren Brot und Kelch die redaktionelle Zusammenstellung dreier andernorts erwähnter kleiner Einzelschriften Karlstadts durch Gerhard Westerburg dar. Luthers als des entscheidenden Gegners Name fällt nicht. Das Gedächtnis trat in dem Traktat Karlstadts an die Stelle der sakramental zugeeigneten Sündenvergebung in Luthers Abendmahlstheologie. Gegenüber diesem widerspricht Karlstadt der These, dass das Abendmahl Sünden vergebe; auch ein Unterpfand der Sündenvergebung sei es nicht. Die einleitende rhetorische Form der Protestatio dient Karlstadt dazu, gegen die allgemein verbreiteten Irrlehren in Sachen Abendmahl anzutreten. Das Schriftwort soll nach Karlstadt das innere Zeugnis des Geistes im Gläubigen bestätigen. Durch das Gedächtnis tritt der Glaubende in eine »brünstige« Erkenntnis Christi ein, die den Christen rechtfertige. Ohne die rechte Erkenntnis Christi sei das Abendmahl gefährlich und zu meiden.

Der Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments (KGK 277) stellt Karlstadts ersten literarischen Versuch in der populären, in Wittenberg freilich nicht sonderlich geschätzten Gattung der Dialoge dar. Die literarische Form bietet eine quasi mustergültige Umsetzung der laientheologischen Ideale Karlstadts, denn die Hauptfigur, der inspirierte Laie »Peter Lay«, gewinnt ein Verständnis des Abendmahls, wie es den »verkehrten Gelehrten« verwehrt ist. Der Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments war als zweite und umfangreichste Abendmahlsschrift der Basler Produktionsphase Anfang Oktober erschienen, erreichte drei Ausgaben und entfaltete Karlstadts Abendmahlslehre bzw. ihre exegetische Begründung – den Selbstverweis des seiner Kreuzigung entgegengehenden Christus auf den eigenen Leib – in einer Form, die auch für Laien zugänglich und verständlich sein sollte. Die Dialogform dürfte auch durch eine Schrift Emsers, in der Karlstadt attackiert worden war, veranlasst sein; im Namen des Gelehrten »Gemser«, der im Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments auftritt, wird gewiss auch auf den Dresdner Hoftheologen angespielt.

Mit dem Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments, dessen Entstehungszeit in die Wochen vor dem Jenaer Gespräch mit Luther fallen dürfte, rückte das Thema der leiblichen Realpräsenz ins Zentrum des abendmahlstheologischen Interesses Karlstadts. Die Überblendungen der Äußerungen des römisch-katholischen Hoftheologen »Gemser« mit Auffassungen Luthers entsprechen der Wertungstendenz Karlstadts, in den Wittenbergern »neue Papisten« zu sehen. Ein kundiger evangelischer Laie namens Victus drängt auf die Volkssprache und ermöglicht so Peter Lays Teilhabe. In wundersamer Weise vermag Peter mit den biblischen Sprachen zu argumentieren; in dieser Person verdichtet Karlstadt sein konzeptionelles Verständnis einer quasiapostolischen Laienemanzipation. Im Kern attackiert der Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments kultische Praktiken, in deren Zentrum die mit dem Leib Christi identifizierte Hostie steht. Den Skopus dieser konsequent antisakramentalen Zielsetzung sieht Karlstadt darin, die von ihm selbst längere Zeit vertretene Vorstellung einer Gegenwart Christi in den Elementen des Abendmahls aufzugeben. Die Deutung der Einsetzungsworte als Selbstverweis Christi ist Peter Lay durch den Heiligen Geist offenbart worden; von einer Gegenwart Christi nach seiner menschlichen Natur könne demnach nicht mehr gesprochen werden. Die in Joh 6,63 formulierte Antinomie von Geist und Fleisch erhält nun eine organisierende Funktion in Karlstadts Abendmahlslehre. »Brünstiges« Erkennen bzw. Gedenken Christi und der Nachvollzug seines Leidensweges wird zum religiösen Kern des Abendmahls; eine Sündenvergebung durch den äußeren Vollzug des Mahles oder Festigung des Glaubens durch denselben sind ausgeschlossen.

Mit dieser wohl erstmals im Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments ausgearbeiteten Abendmahlstheologie bricht Karlstadt definitiv mit seiner eigenen, 1521/22 in kritischer Auseinandersetzung mit Luther entwickelten Konzeption, die auf der Wirksamkeit und dem unveräußerlichen Zusammenhang von äußerem Zeichen und geistlicher Verheißung basierte. Den exklusiven Modus der Präsenz Gottes auf Erden bildet das Kreuz, auf das sich der Gläubige kommemorativ und nachfolgend bezieht. In der in engem werkbiographischen Zusammenhang mit dem Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments entstandenen Schrift Ob man mit Hl. Schrift zu erweisen vermag, dass Christus im Sakrament sei (KGK 278) zielt Karlstadt prononciert darauf ab, dass die in der kirchlichen Lehr- und kultischen Praxistradition tief verwurzelte Vorstellung einer leiblichen Gegenwart Christi in den Elementen des Abendmahls durch die Heilige Schrift nicht gedeckt sei. Möglicherweise stand die Entstehung der Schrift im Zusammenhang mit Karlstadts Vorschlag gegenüber Herzog Johann (14. August 1524), seine Auseinandersetzung mit Luther in einer öffentlichen Disputation zu führen. Auch die thetische Form, in der sich die primär an gebildete Laien gerichtete Schrift präsentiert, spricht für einen Zusammenhang mit der geplanten Disputationsinitiative. Dabei changierte der Text zwischen Motiven der Verteidigung und der Bestreitung der Realpräsenz; ob Karlstadt hier mit Absicht eine uneindeutige Sprecherrolle einnahm?

Die Schrift Ob man mit Hl. Schrift zu erweisen vermag, dass Christus im Sakrament sei vor die Jenaer Konfrontation mit Luther zu datieren, verdeutlicht auch, wie sehr Karlstadt seinerseits auf eine literarische Auseinandersetzung mit Luther, die dann ja auch vereinbart wurde, aus war. Dass er alle Vertreter der leiblichen Realpräsenz als »Papisten« bezeichnete, war ein polemisches Mittel, mit dem er auch die autoritative Weise, in der Luther seine Auffassung durchsetzte, bloßstellen wollte. In inhaltlicher Hinsicht ist die Nähe zum Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments evident; dass Ob man mit Hl. Schrift zu erweisen vermag, dass Christus im Sakrament sei vor der Auslegung der Abendmahlsworte Christi (KGK 279) entstanden sein wird, ergibt sich aus dem dort bereits vorausgesetzten Ausweisungsbeschluss des sächsischen Kurfürsten, der Karlstadt außer Landes trieb. Bei Ob man mit Hl. Schrift zu erweisen vermag, dass Christus im Sakrament sei ging es Karlstadt darum, bisher übliche liturgische Praktiken (Segnung des Kelches; Sakraments- und Eucharistiesemantik; Testamentsbegriff etc.) und theologische Kategorien, die die Vorstellung einer leiblichen Realpräsenz begünstigten oder gar transportierten, zu kritisieren und zu delegitimieren. Ziel des Mahls sei das »brünstige Gedächtnis«, aus dem liebende, tätige Nachfolge erwachse. Dem Sprechen der Worte Christi wohne nicht die Kraft inne, Christi Leib in die Elemente zu bringen. Das Testamentswort beweise keine Identität von Christi Blut und Wein, sondern sei auf das Blutvergießen am Kreuz zu beziehen. Der Begriff der Eucharistie (Danksagung) impliziere keine Verwandlung der Elemente. Die Ermahnungen des Paulus zum würdigen Empfang des Abendmahls in 1. Kor 11 zielen auf ein andächtiges Gedenken des Leidens Christi ab. Das griechische Demonstrativum »tuto« verweise auf das neutrische »soma«. Die Metapher des »Leibes Christi« sei nicht auf das Abendmahl zu beziehen; entscheidend sei die manducatio spiritualis. Der auferstandene Christus sei im Himmel, nicht im Sakrament; Christi Hingabe »für uns« beziehe sich auf das Kreuz.

Die letzte der Abendmahlsschriften der Publikationsserie aus dem Herbst 1524 ist die Auslegung der Abendmahlsworte Christi (KGK 279). An diesem Text schrieb Karlstadt noch, als ihn der Ausweisungsbefehl des 18. September 1524 erreichte; er wird die Schrift vermutlich zusammen mit dem Dialogus von der Kindertaufe (KGK 280) selbst in die Schweiz mitgenommen haben; vor Ende Oktober kann sie kaum gedruckt vorgelegen haben. Die Schlusspassage der Schrift, die bereits auf die Ausweisung Bezug nahm, bot eine scharfe Polemik gegen Luther. Sie zeigt, dass sich Karlstadts Verbitterung gegen Luther nach Jena bzw. infolge der Ausweisung dramatisch gesteigert hatte. Karlstadt versteht Christi Abendmahlsworte als Ankündigung des Kreuzestodes; bei der Passahfeier mit seinen Jüngern habe er nicht Brot und Wein, sondern seinen menschlichen Leib bezeichnet. Die Mahlfeier solle an Christi Kreuzeshingabe erinnern; sie dient also dem Gedächtnis. Um das Selbstopfer des leidenden Gottesknechtes zu verstehen, sei das Sakrament nicht zwingend notwendig. Das Sakrament erlöse nicht, allein das Kreuz tue dies; das Gedächtnis sei der maßgebliche Aneignungsmodus des Heils. Diejenigen, die dem Sakrament eine soteriologische Bedeutung zuschreiben, lösen die Bedeutung des Kreuzes auf. Unwürdig sei eine nicht auf das Gedächtnis des Todes Christi zentrierte Sakramentsfrömmigkeit. Karlstadt macht die »alten« und die »neuen« Papisten dafür verantwortlich, dass der Großteil der Christenheit der Abgötterei verfallen sei. Karlstadts Bekenntnis zur Martyriumsbereitschaft unterstreicht sein immenses Wahrheitsbewusstsein, offenbart aber auch, wie tief die Verwerfungen innerhalb des Wittenberger Lagers inzwischen waren.

Dass Karlstadt im Nachgang des Jenaer Gesprächs bzw. seiner Vertreibung aus Kursachsen auch die Kinder- bzw. Säuglingstaufe angriff, die im Kontext der frühen Reformation erstmals durch die sogenannten Zwickauer Propheten thematisiert worden war, zeigt, dass er keinerlei Rücksichten mehr nahm. Dass die Drucklegung des Dialogus von der Kindertaufe (KGK 280) in Basel begonnen wurde oder geplant war, ist eindeutig bezeugt. Die Aussagen der wegen der Karlstadtdrucke ins Visier der Basler Obrigkeit geratenen Drucker Bebel und Wolff (Beilage zu KGK 280) geben gewisse historische Aufschlüsse zur Druckgeschichte. Demnach waren nach Aussage des Druckers Bebel dem Basler Reformator Johannes Oekolampad ca. vier Wochen zuvor einige Abendmahlsschriften Karlstadts zur Begutachtung vorgelegt worden. Anfang November soll Bebel Oekolampad über Karlstadts Taufdialog informiert haben. Aufgrund von dessen Votum sei der Druckprozess, der bereits im Gange war, abgebrochen worden. Karlstadt setzte voraus, dass der Druck des Dialogus von der Kindertaufe bereits begonnen worden war, als er die Stadt verließ. Die Substanz des Textes von 1524 wird sich aber wohl in einem erst 1527 bei Peter Schöffer in Worms gedruckten Dialogus von dem fremden Glauben und der Kindertaufe erhalten haben (ed. in KGK VIII). Im November 1524 hatte Mantz noch vergeblich versucht, den Basler Drucker Wolff für die Drucklegung zu gewinnen. Inwiefern die unbekannte »Urfassung« von Karlstadts Dialogus von der Kindertaufe, der die Säuglingstaufe bestritten haben dürfte, da fraglich sei, ob Kleinkinder glaubten, auf die Entstehung des Täufertums einwirkte, ist eine offene Frage. Manches spricht dafür, dass Karlstadt während seiner Orlamünder Tätigkeit die Kindertaufe eingestellt hatte.

Nach seiner Abreise aus Basel begab sich Karlstadt Anfang November 1524 nach Straßburg, wo er seine vorerst letzte Schrift Ursachen seiner Vertreibung aus Sachsen (KGK 281) – zusammen mit den früher entstandenen Predigten Von Engeln und Teufeln () und Von den beiden höchsten Geboten der Liebe () – in den Druck gab. Den Kern der Publikation bilden fünf Schreiben, die zwischen dem 14. August und dem 25. September 1524 zwischen Karlstadt, Herzog Johann, der kurfürstlichen Administration und dem Orlamünder Rat gewechselt worden waren. Vermutlich wollte er durch diese Publikation Gerüchten begegnen, die seiner Person wegen umliefen und für die er – wie auch für seine Ausweisung – letztlich Luther verantwortlich machte. Bei Karlstadts weiterer peregrinatio der kommenden Monate wurde Rothenburg ob der Tauber zeitweilig zu einem gewissen Fixpunkt. In Wider die himmlischen Propheten (Teil 1) rechtfertigte Luther die Ausweisung des Aufrührers Karlstadt und sprach der Orlamünder Gemeinde das Recht ab, ihren Pfarrer selbst zu wählen. Mit Ursachen seiner Vertreibung aus Sachsen ließ er die »Öffentlichkeit« in einem umfassenden Sinne an seinem Schicksal teilhaben und lieferte zugleich historisch-kontextuelle Informationen, um seine Publikationen insbesondere zum Abendmahl einordnen zu können.

Im November erbat Karlstadt von der kursächsischen Administration abermals, die Gründe für seine Entlassung zu erfahren (KGK 282 und KGK 283). Wahrscheinlich wollte er freies Geleit erhalten, um seine finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Sachsen regeln und seine Familie – seine Frau war hochschwanger – abholen zu können. Doch das Gesuch wurde abgelehnt; eine Mitteilung über die Gründe seiner Ausweisung wurde ihm verweigert. Luther hatte sich offenbar kurz vor Jahresende 1524 an Karlstadt gewandt und einen versöhnlicheren Ton angeschlagen (KGK 284). Das entsprechende Dokument ist verschollen und steht in einer schwer vermittelbaren Spannung zu dem in zwei Teilen erschienen Traktat Wider die himmlischen Propheten, der Karlstadts Anathematisierung vollendete. Der einst geachtete Wittenberger Theologieprofessor war in eine verzweifelte Situation geraten.


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