Nr. 266
Verschollen: Andreas Karlstadt an Martin Luther
[Jena], [1524, 22. August]

Einleitung
Bearbeitet von Stefanie Fraedrich-Nowag

Acta Jenensia (KGK 267): »Dise und dergleichen wort der predigt/ als sy doctor Karlstadt hoͤret (dann er selb in der predigt war) behertziget er/ befand sich etzlicher sachen halben wie unden angezeigt/ hyerrinne getroffen/ Schreyb ein brieff an Doctor Luther/ den etzliche in obgemelter herberg zum schwartzen Bern uber der mittag malzeit gelesen.«1

1. Inhaltliche Hinweise

Zwischen dem 21. und 24. August unternahm Luther eine Predigt- und Visitationsreise ins mittlere Saaletal, in deren Verlauf er diejenigen Städte besuchte, in denen Karlstadt über eine wachsende Anhängerschaft verfügte, die er durch wortgewaltige Predigten, möglicherweise nach dem Vorbild seiner Invokavitpredigten, zu disziplinieren suchte.2 Die erste Station seiner Reise bildete Jena, wo Luther am 22. August 1524 die Morgenpredigt in der Michaeliskirche hielt, in der er »wider der geister leer unnd fruchte« predigte und polemisierte. Als zentrale Merkmale dieses aufrührerischen Geistes hob er dabei – wie bereits in seinem Ende Juli erschienen Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist3 – die Entfernung der Bilder und die Abschaffung der Sakramente Abendmahl und Taufe hervor, die Ausfluss eines teuflischen Geistes seien.4 Obgleich Luther sich hierbei eines direkten Angriffs auf Karlstadt enthielt, und explizit nur auf Müntzer und die Vorgänge in Allstedt und Zwickau einging,5 fühlte sich Karlstadt, der dieser Predigt inkognito beiwohnte,6 durch seine Worte getroffen und in ungerechtfertigter Weise in eine Reihe mit Müntzer und den Anhängern der radikalen Reformation gestellt.7

Er sah sich daher veranlasst, einen Brief zu verfassen, in dem er um eine Unterredung mit Luther bat. Diesen ließ er in Luthers Quartier – das Gasthaus zum Schwarzen Bären – bringen, wo ihn »etzliche […] uber der mittag malzeit gelesen.«8 Der Brief scheint also eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit erlangt zu haben; möglicherweise wurde er von Karlstadts Boten im Gastraum angeschlagen oder herumgereicht. Luther ließ Karlstadt daraufhin mündlich ausrichten, »So doctor Karlstat komen wolt zu im/ moͤcht ehrs wol leyden/ wue nicht moͤcht ers wol lassen.«9

Über den weiteren Inhalt dieses Briefes ist nichts bekannt, aus dem Ende September im Druck erschienenen Bericht über das am Nachmittag desselben Tages stattgefundene Treffen zwischen den beiden Kontrahenten, den sog. Acta Jenensia (KGK 267), lassen sich jedoch einige inhaltliche Rückschlüsse ziehen, die auch die zitierte, wenig höfliche Reaktion Luthers erklären. Dieser bezeichnete das Schreiben Karlstadts nämlich als »spytzigen brieff«, den er ihm nicht hätte schreiben dürfen, da Luther ihm nichts getan habe.10 Diese Äußerung legt nahe, dass Karlstadt sich in seinem Schreiben ebenso vehement und pointiert gegen die Gleichsetzung mit den »mörderischen Geistern« gewandt hatte, wie er es im Folgenden im Gespräch mit Luther tat.11


2Vgl. Hasse, Visitationsreise, 175f. Zu Genese und Verlauf dieser Reise siehe die Einleitung zu KGK 267 sowie nochmals Hasse, Visitationsreise, 172–176.
3Vgl. WA 15, 199–221.
4Vgl. Luther im Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist: »Wie wyr denn auch disen lügen geyst kennen und urteylen/ das er das ym synn hat/ Er will die schrifft und das mündlich Gottes wort auffheben/ und die sacrament der tauff und alltars austilgen« (WA 15, 216,28–31) sowie KGK 267 (Textstelle). Die gleichen Vorwürfe hatte Kaspar Glatz Anfang August gegen Karlstadt erhoben, vgl. KGK 264 (Textstelle).
6Vgl. den Bericht Johannes Kesslers über die Ereignisse in Jena: »Und als er [Luther] zu Ihen in Thüringen by anderthalb stund prediget und dieser himelschen propheten [Thomas Müntzer und seine Anhänger] mord, ufrur und ander ir frucht erzellet, ist Carolostadt in ainem filzhut, damit er nit möcht erkennt werden, by der predig gestanden, ufmerkend, wo hierin er von Martino getroffen wurde« (Kessler, Sabbata, 137). Auf welche Quellen sich Kessler stützte, ist nicht bekannt, er selbst befand sich zum Zeitpunkt des Gesprächs in St. Gallen.
7Vgl. KGK 267 (Textstelle). Dieser Vorwurf musste aus Sicht Karlstadts umso schwerer wiegen, da er und die Orlamünder sich erst kurze Zeit zuvor öffentlich gegen Müntzers Idee eines Defensivbündnisses ausgesprochen hatten; vgl. KGK 261 und KGK 262 mit Beilage.
11Hierzu vgl. nochmals KGK 267.

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