Nr. 262
Andreas Karlstadt an Thomas Müntzer
Orlamünde, 1524, 19. Juli

Einleitung
Bearbeitet von Stefanie Fraedrich-Nowag

1. Überlieferung

Handschrift:

[a:]Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka Moskva, Fonds 218, Nr. 390, fol. 93r–v (Autograph)

Am oberen linken Rand des Blattes finden sich von Karlstadts Hand die durchgestrichenen Zeilen »Von manigfeltigkeit der ergernus.«

Editionen:

Beilage: Sendbrief der Orlamünder an die Allstedter, [Orlamünde], 1524, [um 19. Juli]

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Der von Orlemund ∥ schrifft an die zu Al⸗∥stedt/ wie man Chri⸗∥stlich fechten soll. ∥
Wittenberg: Hans Lufft, 1524.
4, 2 Bl.; a2.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 25.8° Helmst.
Weitere Exemplare: ULB Halle, Pon Vg 667, QK– Ev. Ministerium Erfurt, U 421.
Bibliographische Nachweise:

Editionen:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Mit dem hier edierten Brief antwortete Karlstadt auf ein verschollenes Schreiben Thomas Müntzers, in dem dieser ihn u.a. aufgefordert hatte, in Schneeberg und 15 weiteren Dörfern (pagos) für ein christliches (Defensiv-)Bündnis zu werben (KGK 261). Der Inhalt dieses verschollenen Schreibens ließ Karlstadt nach eigener Aussage in seiner 1525 erschienenen Entschuldigung des falschen Namens des Aufruhrs so erschrecken, dass er den Brief zunächst zerriss, sich dann jedoch dafür entschied, sich mit den Stücken zu dem im naheliegenden Dorf Heilingen als Pleban wirkenden, ehemaligen Wittenberger Mathematikprofessor Bonifatius von Roda2 zu begeben, um sich mit ihm zu beraten. Dieser sei – nachdem sie den Brief wieder zusammengesetzt und gelesen hätten – ebenso erzürnt gewesen, so dass sich Karlstadt umgehend nach Orlamünde zurückbegeben und nicht nur einige Mitglieder der Gemeinde aufgefordert habe, Müntzer eine scharfe Antwort zu erteilen, sondern auch selbst eine lateinische Antwort an Müntzer verfasst habe.3 Da sich Karlstadt bereits am 22. Juli nachweisbar in Wittenberg aufhielt,4 liegt nach seinem Bericht von 1525 die Vermutung nahe, dass der vorliegende Brief sowie das als Beilage edierte Sendschreiben der Orlamünder im Aufbruch nach Wittenberg entstanden. Diese Eile und Emotionalität würde auch erklären, warum Karlstadt den Brief scheinbar auf dem Papier verfasste, das er gerade zur Hand und eigentlich zur Abfassung der Schrift »Von Mannigfaltigkeit des Ärgernisses« vorgesehen hatte, die er in dem Traktat Ob man gemach fahren soll (KGK 273) in Aussicht stellte.5 Mit Blick auf die wohlkomponierte Antwort Karlstadts erscheint es jedoch fast plausibler, dass die beiden Schreiben zwar recht bald nach Erhalt des Briefes, jedoch möglicherweise bereits vor dem 19. Juli und mit weit mehr Bedacht verfasst wurden, als von Karlstadt ein Jahr später dargestellt.6

In seinem Schreiben erteilte KarlstadtMüntzers Idee eines Defensivbündnisses eine klare Absage, die er jedoch in freundschaftliche, fast väterliche Worte einbettete: So beschwört er gleich zu Beginn seines Schreibens ihre gegenseitige Verbundenheit und leitet seine Ausführungen mit Verweis auf Spr 27,67 fast schon entschuldigend ein. Anschließend nähert er sich der Sammlung der Gläubigen ausgehend von Jes 5,26 und Sach 10,8, wonach die »Schafe Christi« kaum durch ein anderes Zeichen glücklicher gesammelt werden könnten als durch den Ruf Gottes. Auch wenn hier die Ablehnung einer nicht allein auf Gottes Wort beruhenden Versammlung bereits klar zu Tage tritt, bezieht sich Karlstadt an dieser Stelle wohl in erster Linie auf Müntzers Gottesdienstreform – möglicherweise hatte dieser in seinem Schreiben davon berichtet – und insbesondere sein Abendmahlsverständnis, was durch die Mahnung, die Hostie nicht mehr zu erheben, sowie den Verweis auf den Gesang im Gottesdienst deutlich wird.8

Mit der Aussage, dass er die Aufforderung, den Schneebergern und 15 weiteren Orten etwas Ermunterndes zu schreiben,9 nicht gutheißen könne, leitet Karlstadt dann zum eigentlichen Kern seines Schreibens über – der Ablehnung von Müntzers Idee eines (Defensiv-)Bündnisses. Ein solcher Bund, so Karlstadt zur Begründung weiter, widerspreche dem Willen Gottes und würde dem »vom Geist der Furcht10 beschmutzten Herzen« Schaden zufügen, indem er ihm – statt des gesegneten Vertrauens auf Gott – verfluchtes Vertrauen auf Menschen einflöße.11 Diese furchtsame Abkehr vom Willen Gottes mache – so Karlstadt ganz im Sinne seiner Gelassenheitstheologie – den Menschen unfähig, die Stimme des Herrn zu hören und – unausgesprochen – die Vereinigung mit Gott zu erreichen. Karlstadt gibt seinem Wunsch Ausdruck, Müntzer und seine Anhänger hätten sich von solchen Briefen und Zusammenschlüssen ferngehalten, die bei seinen Anhängern Furcht vor den Folgen einer Vermengung mit den Aufrührern ausgelöst und ihn selbst erschrocken und erzürnt hätten.12 Mit einer solchen Vereinigung oder Unternehmung wolle er nichts gemein haben – Karlstadt lehnt also eine Beteiligung an Müntzers Bündnisplänen klar ab. Stattdessen fordert er Müntzer und seine Anhänger zur Umkehr auf und rät ihnen, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen, der sie vor ihren Feinden beschützen werde – die Bedrohungssituation, in der sich die Anhänger der Allstedter Reformation zu diesem Zeitpunkt befanden,13 sieht er also sehr wohl. Trotz der Ablehnung der Bündnispläne versichert KarlstadtMüntzer dennoch abschließend seiner tatkräftigen Unterstützung, sofern dieser die Wahrheit Gottes verkünde.14

Am Ende seiner Ausführungen kehrt er wieder auf die freundschaftliche Ebene zurück, wenn er Müntzers Frau grüßen lässt und um eine Erklärung bittet, warum Müntzer»Abraham« als Namen für Karlstadts Sohn vorziehen würde.15 Auch wenn die hier dargestellte Korrespondenz wohl das Ende der Beziehungen zwischen den beiden Männern markieren dürfte, scheint Karlstadt einen weiteren Kontakt zu Müntzer nicht ausgeschlossen zu haben. Möglicherweise sah er sich ihm – bei allen Differenzen – weiterhin freundschaftlich verbunden und hoffte, ihn von seinem – aus Karlstadts Sicht – falschen Weg abzubringen.

Parallel zum Schreiben Karlstadts an Müntzer erging auch eine Antwort der Orlamünder an die Allstedter, an deren Abfassung er nach eigener Aussage beteiligt gewesen war,16 was auch an der verwandten Argumentationsweise deutlich wird. Ähnlich wie Karlstadts Schreiben an Müntzer wurde diese Antwort wohl umgehend, aber mit Bedacht verfasst und möglicherweise mit jenem um den 19. Juli nach Allstedt übersandt. Sie erschien Ende Juli / Anfang August bei Hans Lufft in Wittenberg als Druck; die Ausfertigung ist heute verschollen. Höchstwahrscheinlich gab Karlstadt das Schreiben der Orlamünder persönlich bei seinem Aufenthalt in Wittenberg am 22. Juli17 in Druck. Es folgt der Form eines Sendbriefes, so dass die Vermutung naheliegt, dass es von Beginn an in apologetischer Absicht zum Druck vorgesehen war.18

Inhaltlich handelt es sich um eine theologisch begründete Absage an den Beitritt zu einem militärischen Defensivbündnis (»weltlicher were«). Ausgangpunkt der Argumentation bildet Mt 26,52 – der Befehl Christi an Petrus, sein Schwert einzustecken und im Angesicht des bevorstehenden Leidens nicht für ihn zu kämpfen. Auch wenn die Zeit gekommen sei, für die Gerechtigkeit Gottes zu leiden, widerspreche es dem Willen Gottes, »zu Messern und speissen« zu greifen. Stattdessen sollten sie auf Gott vertrauen und sich mit dem starken und stählernen Harnisch des Glaubens wappnen (Eph 6,10–17), dann werde ihnen kein Haar gekrümmt (Lk 21,15–19).19 Dem von den Allstedtern vorgebrachten Ansinnen, sich mit ihnen nach dem Vorbild des in 2. Kön 23 beschriebenen Bundes König Josias»mit Gott und dem Volk« ein Bündnis einzugehen, begegnen die Orlamünder mit einer alternativen und diffizilen Auslegung dieser Bibelstelle. Während dort König und Volk ein Bündnis mit Gott eingegangen seien, würden sie sich durch das vorgeschlagene Bündnis an Menschen binden und damit in den Zwiespalt eines Dienstes an zwei Herren (Mt 6,24) geraten. In diesem Fall seien sie keine freien Christen mehr, da sie nicht mehr nur Gott, sondern auch ihren menschlichen Bündnispartnern verpflichtet seien.20 Ein Bündnis würde den Eindruck erwecken, sie hätten den Glauben an Gottes Stärke und Schutz verloren, darum würden sie eigene Gemeinschaften bilden und für Empörung und Aufruhr sorgen, was den unchristlichen Herrschern wiederum den Vorwand geben würde, gewaltsam gegen sie vorzugehen. Dann müssten sie aus diesem Grund und nicht für die Gerechtigkeit Gottes sterben.21 Vor diesem Hintergrund rufen die Orlamünder die Allstedter dazu auf, lieber weiterhin auf Gott zu vertrauen und allein auf sein Wort zu hören – ein jeder nach seinem Vermögen (Lk 19,11–27) – und keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob sich die unchristliche Gewalt gegen sie erhebe. Auch Christus und die Apostel seien davon nicht verschont worden.22 Abschließend signalisieren die Orlamünder den Allstedtern trotz der deutlichen Absage an ein Bündnis dennoch ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Unterstützung: Sofern ihre Lehre Gottes Willen entspreche, wollten sie gerne Zeugnis dieser Lehre geben und ungeachtet der Konsequenzen den wahren Glauben im Vertrauen auf die Hilfe und Stärke Gottes bis in den Tod zu verteidigen.23

Wie die Allstedter diesen öffentlichen Brief aufnahmen, ist nicht bekannt. Müntzer dagegen zeigte sich in einem Schreiben an die Allstedter Anfang August enttäuscht und verärgert über den öffentlichen Brief aus Orlamünde, der »der menschen forcht also eynen viserlechen deckel gybt, das es wunder ist etc.« und mahnte die Allstedter, nicht deren Beispiel zu folgen und sich von dem Bündnisvorhaben abzuwenden.24


1Unter Nutzung der Vorarbeiten von Alejandro Zorzin.
2Bonifatius von Roda (um 1480–1560); 1502–1505 Studium in Krakau; 1505 imm. Wittenberg; 1509 Übernahme der Professur für Geographie; 1513 Wechsel an die Philosophische Fakultät; ab 1514 Professur für Mathematik und Astronomie; 1518/19 Pfarrer in Heilingen bei Orlamünde; 1531 Pfarrer in Pößneck; vgl. Joestel, Magister Bonifatius.
3So Karlstadt 1525 in Entschuldigung des falschen Namens des Aufruhrs; vgl. WA 18, 440,5–23 (wird in KGK VIII neu ediert). Auch wenn dieser Bericht vor dem Hintergrund der Ereignisse des Bauernkriegs und der Hoffnung auf Wiederaufnahme in Sachsen in apologetischer Absicht und bewusst übertrieben verfasst sein dürfte, ist – wie aus dem hier edierten Schreiben deutlich hervorgeht – die Ablehnung der Bündnispläne Müntzers durch Karlstadt unzweifelhaft.
5Vgl. KGK 273 (Textstelle) und KGK 273 (Textstelle). Diese Schrift kam wahrscheinlich nie zur Ausführung; vgl. KGK 273 (Anmerkung). Die am oberen rechten Rand des Briefes von Karlstadts Hand vermerkten und gestrichenen Worte »Von manigfeltigkeit der ergernus.« lassen jedoch darauf schließen, dass Karlstadt zumindest vorhatte, sie zu verfassen.
6Obgleich zumeist davon ausgegangen wird, dass Müntzers Brief unter dem Eindruck der sog. Fürstenpredigt nach dem 13. Juli 1524 entstand und somit erst am 18./19. in Orlamünde eingetroffen sei, ist es durchaus möglich und plausibel, dass er bereits Anfang Juli verfasst und abgesandt wurde und Karlstadt somit früher vorlag. Hierzu siehe KGK 261 (Anmerkung).
7Spr 27,6 Vg »meliora sunt vulnera diligentis quam fraudulenta odientis oscula.«
9Gemeint ist hier die schriftliche Ermunterung zu einem Bündnisschluss, möglicherweise – wie im Falle des verschollenen Schreibens der Allstedter an die Orlamünder – in Form eines von Karlstadt im Namen der Orlamünder verfassten Bündnisangebots. Ob das Schreiben Müntzers an Karlstadt eine solche Aufforderung enthielt, bleibt offen, vgl. KGK 261 (Anmerkung).
13Hierzu siehe die Einleitung zu KGK 261.
15Müntzer hatte sich in seinem Schreiben wohl dahingehend geäußert. Auch wenn eine Korrespondenz zwischen Müntzer und Karlstadt zwischen Juli 1523 (KGK VI, Nr. 245) – zu diesem Zeitpunkt war Müntzer wohl noch nicht verheiratet – und Juli 1524 nicht nachweisbar ist, scheinen sie wechselseitig Kenntnis von den Lebensumständen des anderen gehabt zu haben. Zur Bedeutung der Namensgebung bei Müntzer und den Kindern Karlstadts siehe KGK 262 (Anmerkung).
16Vgl. Entschuldigung des falschen Namens des Aufruhrs: »Zu dem selben briff gab ich ungeferlich ein zeil oder zwo« (WA 18, 439,38f.; wird in KGK VIII neu ediert).
17Hierzu siehe KGK 260.
18Hans Lufft (zu ihm siehe Reske², BuchdruckerReske\textsp{2\spe}, Buchdrucker, 1083) gehörte zu den bevorzugten Druckern Luthers. Bräuer, Briefwechsel, 205 sieht in der Wahl des Druckers eine bewusste Entscheidung Karlstadts.
23Vgl. KGK 262 (Textstelle). Gemeint ist hier eine gewaltlose Verteidigung ihrer Lehre im Rahmen einer mündlichen Auseinandersetzung, wie beispielsweise wenig später beim Besuch Luthers in Orlamünde; vgl. KGK 267.
24»Nuhn yhr also forchsam seit, das yhr den bund Gottis, welchen yhr das alte und newe testament heysset, dorffet umb der gotlosen willen mit den von Orlamunda vorleugken, do kann ich nit czu, wisset yhr doch wol, das eynscreyben widder keine herschafft angericht, allein widder dye unvorschempte tyranney« (TMA 2, 337,8–13 Nr. 93).

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