1. Überlieferung
Handschrift:
Am oberen linken Rand des Blattes finden sich von Karlstadts Hand die durchgestrichenen Zeilen »Von manigfeltigkeit der ergernus.«
Editionen:
- Seidemann, Müntzer, 128f. Beilage Nr. 21.
- MBrW 69 Nr. 56.
- TMBW.L Nr. 42.
- MSB 415f. Nr. 56.
- TMA 2, 287–292 Nr. 86.
Beilage: Sendbrief der Orlamünder an die Allstedter, [Orlamünde], 1524, [um 19. Juli]
Frühdruck:
Der von Orlemund ∥ schrifft an die zu Al⸗∥stedt/ wie man Chri⸗∥stlich fechten soll. ∥
Wittenberg: Hans Lufft, 1524.
4, 2 Bl.; a2.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 25.8° Helmst.Weitere Exemplare: ULB Halle, Pon Vg 667, QK– Ev. Ministerium Erfurt, U 421.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 ZV 4357.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. [63].
- Claus, Bauernkrieg, 85.
Editionen:
- Seidemann, Müntzer, 128f. Beilage Nr. 21.
- MBrW 69 Nr. 56.
- TMBW.L Nr. 42.
- MSB 415f. Nr. 56.
- TMA 2, 292–296 Nr. 87.
Literatur:
- Barge, Karlstadt 2, 115–117.
- Bräuer, Briefwechsel, 204–207.
- Zorzin, Gewalt, 78–80.
- Joestel, Ostthüringen, 100–103.
- Elliger, Müntzer, 467–470.
2. Entstehung und Inhalt
Mit dem hier edierten Brief antwortete Karlstadt auf ein verschollenes Schreiben Thomas Müntzers, in dem dieser ihn u.a. aufgefordert hatte, in Schneeberg und 15 weiteren Dörfern (pagos) für ein christliches (Defensiv-)Bündnis zu werben (KGK 261). Der Inhalt dieses verschollenen Schreibens ließ Karlstadt nach eigener Aussage in seiner 1525 erschienenen Entschuldigung des falschen Namens des Aufruhrs so erschrecken, dass er den Brief zunächst zerriss, sich dann jedoch dafür entschied, sich mit den Stücken zu dem im naheliegenden Dorf Heilingen als Pleban wirkenden, ehemaligen Wittenberger Mathematikprofessor Bonifatius von Roda2 zu begeben, um sich mit ihm zu beraten. Dieser sei – nachdem sie den Brief wieder zusammengesetzt und gelesen hätten – ebenso erzürnt gewesen, so dass sich Karlstadt umgehend nach Orlamünde zurückbegeben und nicht nur einige Mitglieder der Gemeinde aufgefordert habe, Müntzer eine scharfe Antwort zu erteilen, sondern auch selbst eine lateinische Antwort an Müntzer verfasst habe.3 Da sich Karlstadt bereits am 22. Juli nachweisbar in Wittenberg aufhielt,4 liegt nach seinem Bericht von 1525 die Vermutung nahe, dass der vorliegende Brief sowie das als Beilage edierte Sendschreiben der Orlamünder im Aufbruch nach Wittenberg entstanden. Diese Eile und Emotionalität würde auch erklären, warum Karlstadt den Brief scheinbar auf dem Papier verfasste, das er gerade zur Hand und eigentlich zur Abfassung der Schrift »Von Mannigfaltigkeit des Ärgernisses« vorgesehen hatte, die er in dem Traktat Ob man gemach fahren soll (KGK 273) in Aussicht stellte.5 Mit Blick auf die wohlkomponierte Antwort Karlstadts erscheint es jedoch fast plausibler, dass die beiden Schreiben zwar recht bald nach Erhalt des Briefes, jedoch möglicherweise bereits vor dem 19. Juli und mit weit mehr Bedacht verfasst wurden, als von Karlstadt ein Jahr später dargestellt.6
In seinem Schreiben erteilte KarlstadtMüntzers Idee eines Defensivbündnisses eine klare Absage, die er jedoch in freundschaftliche, fast väterliche Worte einbettete: So beschwört er gleich zu Beginn seines Schreibens ihre gegenseitige Verbundenheit und leitet seine Ausführungen mit Verweis auf Spr 27,67 fast schon entschuldigend ein. Anschließend nähert er sich der Sammlung der Gläubigen ausgehend von Jes 5,26 und Sach 10,8, wonach die »Schafe Christi« kaum durch ein anderes Zeichen glücklicher gesammelt werden könnten als durch den Ruf Gottes. Auch wenn hier die Ablehnung einer nicht allein auf Gottes Wort beruhenden Versammlung bereits klar zu Tage tritt, bezieht sich Karlstadt an dieser Stelle wohl in erster Linie auf Müntzers Gottesdienstreform – möglicherweise hatte dieser in seinem Schreiben davon berichtet – und insbesondere sein Abendmahlsverständnis, was durch die Mahnung, die Hostie nicht mehr zu erheben, sowie den Verweis auf den Gesang im Gottesdienst deutlich wird.8
Mit der Aussage, dass er die Aufforderung, den Schneebergern und 15 weiteren Orten etwas Ermunterndes zu schreiben,9 nicht gutheißen könne, leitet Karlstadt dann zum eigentlichen Kern seines Schreibens über – der Ablehnung von Müntzers Idee eines (Defensiv-)Bündnisses. Ein solcher Bund, so Karlstadt zur Begründung weiter, widerspreche dem Willen Gottes und würde dem »vom Geist der Furcht10 beschmutzten Herzen« Schaden zufügen, indem er ihm – statt des gesegneten Vertrauens auf Gott – verfluchtes Vertrauen auf Menschen einflöße.11 Diese furchtsame Abkehr vom Willen Gottes mache – so Karlstadt ganz im Sinne seiner Gelassenheitstheologie – den Menschen unfähig, die Stimme des Herrn zu hören und – unausgesprochen – die Vereinigung mit Gott zu erreichen. Karlstadt gibt seinem Wunsch Ausdruck, Müntzer und seine Anhänger hätten sich von solchen Briefen und Zusammenschlüssen ferngehalten, die bei seinen Anhängern Furcht vor den Folgen einer Vermengung mit den Aufrührern ausgelöst und ihn selbst erschrocken und erzürnt hätten.12 Mit einer solchen Vereinigung oder Unternehmung wolle er nichts gemein haben – Karlstadt lehnt also eine Beteiligung an Müntzers Bündnisplänen klar ab. Stattdessen fordert er Müntzer und seine Anhänger zur Umkehr auf und rät ihnen, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen, der sie vor ihren Feinden beschützen werde – die Bedrohungssituation, in der sich die Anhänger der Allstedter Reformation zu diesem Zeitpunkt befanden,13 sieht er also sehr wohl. Trotz der Ablehnung der Bündnispläne versichert KarlstadtMüntzer dennoch abschließend seiner tatkräftigen Unterstützung, sofern dieser die Wahrheit Gottes verkünde.14
Am Ende seiner Ausführungen kehrt er wieder auf die freundschaftliche Ebene zurück, wenn er Müntzers Frau grüßen lässt und um eine Erklärung bittet, warum Müntzer»Abraham« als Namen für Karlstadts Sohn vorziehen würde.15 Auch wenn die hier dargestellte Korrespondenz wohl das Ende der Beziehungen zwischen den beiden Männern markieren dürfte, scheint Karlstadt einen weiteren Kontakt zu Müntzer nicht ausgeschlossen zu haben. Möglicherweise sah er sich ihm – bei allen Differenzen – weiterhin freundschaftlich verbunden und hoffte, ihn von seinem – aus Karlstadts Sicht – falschen Weg abzubringen.
Parallel zum Schreiben Karlstadts an Müntzer erging auch eine Antwort der Orlamünder an die Allstedter, an deren Abfassung er nach eigener Aussage beteiligt gewesen war,16 was auch an der verwandten Argumentationsweise deutlich wird. Ähnlich wie Karlstadts Schreiben an Müntzer wurde diese Antwort wohl umgehend, aber mit Bedacht verfasst und möglicherweise mit jenem um den 19. Juli nach Allstedt übersandt. Sie erschien Ende Juli / Anfang August bei Hans Lufft in Wittenberg als Druck; die Ausfertigung ist heute verschollen. Höchstwahrscheinlich gab Karlstadt das Schreiben der Orlamünder persönlich bei seinem Aufenthalt in Wittenberg am 22. Juli17 in Druck. Es folgt der Form eines Sendbriefes, so dass die Vermutung naheliegt, dass es von Beginn an in apologetischer Absicht zum Druck vorgesehen war.18
Inhaltlich handelt es sich um eine theologisch begründete Absage an den Beitritt zu einem militärischen Defensivbündnis (»weltlicher were«). Ausgangpunkt der Argumentation bildet Mt 26,52 – der Befehl Christi an Petrus, sein Schwert einzustecken und im Angesicht des bevorstehenden Leidens nicht für ihn zu kämpfen. Auch wenn die Zeit gekommen sei, für die Gerechtigkeit Gottes zu leiden, widerspreche es dem Willen Gottes, »zu Messern und speissen« zu greifen. Stattdessen sollten sie auf Gott vertrauen und sich mit dem starken und stählernen Harnisch des Glaubens wappnen (Eph 6,10–17), dann werde ihnen kein Haar gekrümmt (Lk 21,15–19).19 Dem von den Allstedtern vorgebrachten Ansinnen, sich mit ihnen nach dem Vorbild des in 2. Kön 23 beschriebenen Bundes König Josias»mit Gott und dem Volk« ein Bündnis einzugehen, begegnen die Orlamünder mit einer alternativen und diffizilen Auslegung dieser Bibelstelle. Während dort König und Volk ein Bündnis mit Gott eingegangen seien, würden sie sich durch das vorgeschlagene Bündnis an Menschen binden und damit in den Zwiespalt eines Dienstes an zwei Herren (Mt 6,24) geraten. In diesem Fall seien sie keine freien Christen mehr, da sie nicht mehr nur Gott, sondern auch ihren menschlichen Bündnispartnern verpflichtet seien.20 Ein Bündnis würde den Eindruck erwecken, sie hätten den Glauben an Gottes Stärke und Schutz verloren, darum würden sie eigene Gemeinschaften bilden und für Empörung und Aufruhr sorgen, was den unchristlichen Herrschern wiederum den Vorwand geben würde, gewaltsam gegen sie vorzugehen. Dann müssten sie aus diesem Grund und nicht für die Gerechtigkeit Gottes sterben.21 Vor diesem Hintergrund rufen die Orlamünder die Allstedter dazu auf, lieber weiterhin auf Gott zu vertrauen und allein auf sein Wort zu hören – ein jeder nach seinem Vermögen (Lk 19,11–27) – und keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob sich die unchristliche Gewalt gegen sie erhebe. Auch Christus und die Apostel seien davon nicht verschont worden.22 Abschließend signalisieren die Orlamünder den Allstedtern trotz der deutlichen Absage an ein Bündnis dennoch ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Unterstützung: Sofern ihre Lehre Gottes Willen entspreche, wollten sie gerne Zeugnis dieser Lehre geben und ungeachtet der Konsequenzen den wahren Glauben im Vertrauen auf die Hilfe und Stärke Gottes bis in den Tod zu verteidigen.23
Wie die Allstedter diesen öffentlichen Brief aufnahmen, ist nicht bekannt. Müntzer dagegen zeigte sich in einem Schreiben an die Allstedter Anfang August enttäuscht und verärgert über den öffentlichen Brief aus Orlamünde, der »der menschen forcht also eynen viserlechen deckel gybt, das es wunder ist etc.« und mahnte die Allstedter, nicht deren Beispiel zu folgen und sich von dem Bündnisvorhaben abzuwenden.24