Andreas Karlstadt an Thomas Müntzer, Orlamünde 19. Juli 1524 (KGK 262 (Textstelle)): »Sic itaque ad tuas litteras mihi alioqui longe charissimas respondeo.«
In der Schrift Entschuldigung des falschen Namens des Aufruhrs geht Karlstadt 1525 nochmals auf diesen Brief ein: »Das ist auch war, das Muntzer neben dem brieffe, wilchen er zu obgedachter gemein [Orlamünde] schrieb, mir auch hat geschriben und mir ein gleiche oder grossere torheit angemuet hat.«1
Literatur:
- Bräuer, Briefwechsel, 198–204.
- Bräuer/Vogler, Müntzer, 240f.
- Elliger, Müntzer, 467f.
- Zorzin, Gewalt, 78–82.
1. Inhaltliche Hinweise
Im Sommer 1524 befanden sich Müntzer und die reformatorische Bewegung in und um Allstedt in einer zunehmend bedrängten Situation. Der bereits seit 1523 schwelende Konflikt mit dem Kloster Naundorf hatte sich, ausgelöst durch den Brand der zu diesem Kloster gehörenden Wallfahrtskapelle in Mallerbach bei Allstedt am 24. März 1524, zugespitzt. Am 13. und 14. Juni widersetzten sich Allstedter Rat und Gemeinde den von den sächsischen Herzögen angeordneten Festnahmen einiger an diesem Brand beteiligter Allstedter und erklärten ihre Bereitschaft, notfalls auch mit Gewalt Widerstand zu leisten.2 Die Herzöge beharrten auf ihrer Position und Kurfürst Friedrich wies Rat und Gemeinde am 27. Juni erneut an, die Täter in Haft zu nehmen und zu bestrafen. Bereits seit Anfang des Jahres hatte Herzog Georg von Sachsen den Besuch des Gottesdienstes in Allstedt für seine Untertanen in der benachbarten albertinischen Stadt Sangershausen unter Strafe gestellt, was durch seine Amtleute nun auch zunehmend zur Durchführung gebracht wurde.3 Aus dieser Situation ergab sich aus Müntzers Sicht die Notwendigkeit, gleichgesinnte – »auserwählte« – Gemeinden, von denen nach seiner Aussage bereits mehr als 30 existierten,4 enger zu vernetzen und noch »weitere Orte für ein überlokales Defensivbündnis« gegen Übergriffe der obrigkeitlich-feudalen Kräfte zu gewinnen.5
In diesem Zusammenhang wandte sich Müntzer Ende Juni/Anfang Juli auch an Karlstadt.6 Dieses Schreiben ist heute verschollen, aus Karlstadts Antwort vom 19. Juli (KGK 262) lassen sich jedoch Rückschlüsse auf seinen Inhalt ziehen: Demnach scheint Müntzer – möglicherweise in der Hoffnung, Karlstadt würde seine Kontakte im Sinnes des angestrebten Bündnisses nutzen – diesen aufgefordert zu haben, die Schneeberger und weitere 15 Dörfer schriftlich zu einem solchen zu ermuntern,7 ob er in seinem Schreiben versuchte, Karlstadt mit seinen Anhängern von einem Bündnisbeitritt zu überzeugen, geht aus dem Antwortschreiben nicht hervor.8 Dieses Ansinnen bettete Müntzer – möglicherweise bewußt und unsicher, wie Karlstadt darauf reagieren würde – in freundschaftliche, persönliche Worte und ggf. die Bitte um eine Stellungnahme zu seinen in Allstedt vorgenommenen Gottesdienstreformen ein, auf die Karlstadt in seiner Antwort näher einging.9 Den Brief schloß er mit Grüßen an Karlstadts Frau, Anna von Mochau, und Bemerkungen zur Namensgebung des gemeinsamen Sohnes.10
Parallel zum Schreiben an Karlstadt wandte sich Müntzer wahrscheinlich im Namen der Allstedter Gemeinde mit einem heute ebenfalls verschollenen Schreiben an die Gemeinde zu Orlamünde, wohl mit dem Ziel, sie dazu zu bewegen, sich mit ihnen zu »verpinden oder verknupffen«, wie aus deren, vermutlich ebenfalls am 19. Juli verfassten, Antwort – gerichtet an die Gemeinde zu Allstedt – hervorgeht (Beilage zu KGK 262).11 Als Grund für die Notwendigkeit eines solchen Bündnisses gab er wohl die eingangs geschilderte bedrängte Situation der Anhänger der Allstedter Bewegung durch die Obrigkeit in den benachbarten albertinischen Territorien und die altgläubigen Adeligen der Umgebung an.12 Als biblische Grundlage seiner Argumentation zog er den Bund König Josias mit Gott und dem Volk (2. Kön 23,1–3) heran, was die Orlamünder in ihrer Antwort mit einer eigenen Auslegung dieser Bibelstelle zu entkräften versuchten.13
Beide Schreiben langten wohl gleichzeitig in Orlamünde an, es ist also von einer konzertierten Aktion auszugehen.14 Ihre Ankunft veranlasste Karlstadt, nicht nur selbst eine deutliche Antwort zu verfassen, sondern auch die Orlamünder ihrerseits zu einer scharfen Antwort auf den an sie ergangenen Brief zu bewegen.15 Wie aus Karlstadts Antwortschreiben vom 19. Juli hervorgeht, hatte das Schreiben aus Allstedt in Orlamünde Furcht vor den Konsequenzen ausgelöst, mit den »Aufrührern« in Verbindung gebracht zu werden.16 Aus diesem Grund entschied sich Karlstadt wohl gemeinsam mit den Orlamündern, nicht nur eine Kopie seines (lateinischen) Antwortschreibens in Orlamünde zu behalten, sondern auch die Antwort der Orlamünder in Form eines öffentlichen Sendbriefs in Wittenberg zum Druck zu bringen, um so die ablehnende Haltung gegenüber aufrührerischem Gedankengut von Beginn an öffentlich zu dokumentieren.17