Nr. 274
Wie sich Glaube und Unglaube gegen Licht und Finsternis, gegen Wahrheit und Lügen, gegen Gott und den Teufel halten
1524, [Anfang Oktober] (Entstehung: [1524, vor Ende August] )

Einleitung
Bearbeitet von Stefania Salvadori

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
WJe ſich der ge⸗∥laub vnd vnglaub gegen dem liecht vnd ∥ finſternus/ gegen warheit vn̄ lügen/ gegen got vnd ∥ dem teufel halten. ∥ Was der Frey will vermoͤge. ∥ Ob man als bald glaub/ als man gottes warheit gehoͤꝛet. ∥ Von dem einſpꝛechen Gottes. ∥ Wer augen hat der wirt mercken/ was die ſünd in ∥ den heiligen geiſt ∥ Item/ Wenn man tauffen. ∥ Item/ Wie ein erleuchtes/ vnd hohes leben des ∥ Chꝛiſteniſt. ∥ Die rouhen Chꝛiſten ſeind in dem kleinen vngetrew ∥ vnd vngelaſſen/ wie moͤchten ſie in dem groſſen ge∥laſſen vnd getrew ſein? ∥ Andꝛes Carolſtat. ∥ M. D. XXIIII. ∥
[Basel]: [Thomas Wolff], 1524.
4°, 16 Bl., a4–d4 (fol. a1v leer).
Editionsvorlage:
BSB München, 4° Asc. 184.
Weitere Exemplare: BSB München, Res/4 Polem. 3362,12. — UB Tübingen, Gf 1013.4. — HAB Wolfenbüttel, 115.2 Quod.(17) \AnmUeberlKS{(Titelblatt beschädigt)\AnmUeberlKSe}. — HAB Wolfenbüttel, 359 Theol.(4).
Bibliographische Nachweise:

Frühdruck:

[B:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Wie ſich der glaub vnd vn⸗∥glaub gegen dem lıecht vn̄ fınſternus/ ∥ gegen warheyt vnd lügen/ gegen Gott ∥ vnd dem Teüffel halten. ∥ ¶ Was der frey wıll vermoͤge. ∥ ¶ Ob man als bald glaub/ als man Gottes ∥ warheyt gehoͤꝛet. ∥ ¶ Von dem einſpꝛechen Gottes. ∥ ¶ Wer augen hat der wirt mercken/ was die ∥ ſünd in den heyligen geyſt. ∥ ¶ Item/ Wenn man tauffen. ∥ ¶ Item/ Wie ein erleüchtes/ vnd hohes leben ∥ des Chꝛiſten iſt. ∥ ¶ Die rouhen Chꝛiſten ſeind in dem kleynen ∥ vngetrew vnnd vngelaſſen/ wie moͤchten ſye ∥ in dem groſſen gelaſſen vnd getrew ſein? ∥ Andꝛes Carolſtatt. ∥ M. D. XXV. ∥
[Straßburg]: [Johann Prüss d. J.], 1525.
4°, 12 Bl., A4–C4 (fol. C4r–v leer).
Editionsvorlage:
SBPK Berlin, Cu 1367 R.
Weitere Exemplare: HAB Wolfenbüttel, 231.174 Theol. (5).
Bibliographische Nachweise:

Die erste Ausgabe der hier edierten Schrift erschien in Basel bei Thomas Wolff, der den Auftrag Ende September 1524 von Gerhard Westerburg erhalten hatte. Wolff druckte insgesamt vier Karlstadt-Werke: neben dem hier edierten auch KGK 273, KGK 275 und KGK 278.1 Diese erste Basler Ausgabe bildete die Grundlage für den späteren Nachdruck in Straßburg bei Johann Prüss d. J., wahrscheinlich Anfang 1525. Die beiden Ausgaben bieten im Wesentlichen denselben Text, abgesehen von geringfügigen lexikalischen Unterschieden, der Korrektur einiger Druckfehler in B – die Variante ist selbst nicht frei von Druckfehlern – und einer kleinen Auslassung in B gegenüber A auf der letzten Seite.

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Wann und in welchem spezifischen Zusammenhang die hier edierte Schrift entstanden ist, muss offenbleiben. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie, wie andere im Oktober 1524 in Basel gedruckte Texte, nach Karlstadts Ankunft in Orlamünde (Sommer 1523) und vor Westerburgs Abreise aus Jena (Ende August 1524) verfasst wurde.2 Die von Barge formulierte These, dass diese Schrift und der in ihr entwickelte Glaubensbegriff »das positive Gegenstück« zu den kritischen Ausführungen der Abendmahlstraktate darstellen soll,3 ist eine mögliche interpretative Hypothese. Noch deutlicher zeigt sich dennoch der Zusammenhang zwischen der hier edierten mystisch ausgeprägten Darstellung einiger zentraler Themen der Karlstadtschen Theologie mit den Traktaten des vorangegangenen Jahres, insbesondere Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes (KGK VI, Nr. 239) und Was gesagt ist: Sich gelassen (KGK VI, Nr. 241).

Wie sich Glaube und Unglaube halten weist einige Besonderheiten auf. Das Titelblatt zeigt eine Reihe von Themen an (vom Glauben bis zum freien Willen, von der göttlichen Stimme4 bis zur Sünde gegen den Heiligen Geist,5 von der Taufe bis zum erleuchteten Leben der Christen), die weit über das an erster Stelle des Titels genannte Thema (eine Erläuterung dessen, was rettender und verdammender Glaube seien) hinausgehen.6 Dieser Widerspruch lässt sich nicht auf den Druckvorgang zurückführen. Thomas Wolff hatte während seines Verhöres behauptet, er könne keinen der Titel der von ihm gedruckten Werke nennen; er hatte einfach »wan wo die grosse gschrifft vornen stat, […] getruckt«.7 Das Titelblatt gibt also vermutlich die Überschrift wieder, die auf dem von Gerhard Westerburg Ende September an die Presse übergebenen Manuskript angebracht war.8 Es handelt sich zudem nur scheinbar um einen Widerspruch: Wie sich Glaube und Unglaube halten berührt eigentlich alle im Titelblatt genannten Themen mehr oder weniger am Rande,9 um sie dann jeweils gezielt auf den zentralen, an erster Stelle definierten Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube zurückzuführen.

Auch wenn kein inhaltlicher Widerspruch besteht, bleibt unbestreitbar, dass das Titelblatt weiterreichende und differenziertere Bezüge erweckt als die inhaltliche Zusammenfassung der Schrift im ersten Absatz. Ob dies auf Karlstadts eigene Werbezwecke zur Verbreitung seiner Schriften – etwa das Interesse auf unterschiedliche Fragestellungen auszuweiten und dadurch ein breiteres Publikum zu gewinnen – oder auf den gezielten, theologisch begründeten Versuch zurückzuführen ist, im Titelblatt die inhaltliche Dichte des im Text erörterten Glaubensbegriffes aufzuzeigen, bleibt unklar. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Titel ursprünglich auf eine Vorstudie hinwies, von der Karlstadt nur den ersten Teil – eben den zu Glaube und Unglaube – abschloss, die anderen, nicht eingehend erörterten Themen dagegen unbearbeitet ließ. Eindeutig ist aber, dass Wie sich Glaube und Unglaube halten keinerlei polemischen Akzent besitzt, vielmehr ist ein pädagogischer Ton vorherrschend. Die Entscheidung, alle im Titelblatt erwähnten Themen immer wieder auf den zentralen Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube zurückzuführen, lässt die Absicht erkennen, den Lesern (und vielleicht auch den Zuhörern) ein tiefes und durchdachtes Verständnis einiger weniger, aber entscheidender Konzepte von Karlstadts theologischem Programm zu eröffnen. Dieses pädagogische Vorgehen begründet Karlstadt im biblischen Text und insbesondere im Johannesevangelium. Vor allem Joh 3,19–21; 8,12; 12,35f.46 bieten den bildlichen Rahmen für die Begriffe Glaube und Unglaube, Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, die als gegensätzliche Pole definiert und als solche aufeinander bezogen sind und zwischen denen sich in Karlstadts Augen der menschliche Weg zur Erlösung abspielt. Gerade die zentrale Stellung der johanneischen Muster und der pädagogische, nicht polemische Charakter der Schrift erlauben es, die Überlegung zu formulieren, ob die Entstehungsgeschichte von Wie sich Glaube und Unglaube halten mit den öffentlichen Collationes zusammenhängt, die Karlstadt an den Feiertagen des Sommers 1524 in Orlamünde gehalten hat und die nach eigenem Zeugnis dem Johannesevangelium gewidmet waren.10 Diese Hypothese kann bei der aktuellen Quellenlage zwar nicht bestätigt werden, erscheint aber durchaus plausibel und könnte einen Ansatzpunkt für eine präzisiere Datierung der Entstehung der Schrift auf den Sommer 1524 bieten.

Neben der immer wiederkehrenden Bezugnahme auf das Johannesevangelium entfaltet Wie sich Glaube und Unglaube halten den Versuch, Bibelstellen aus dem Neuen und Alten Testament miteinander in Einklang zu bringen, um deren substanzielle Harmonie und ihren unübersehbaren Bezug zur alltäglichen Lebenspraxis eines jeden Christen aufzuzeigen. Auf diese Arbeit am biblischen Text ist auch die im Vergleich zu früheren Schriften Karlstadts ungewöhnliche Verwendung von Randbemerkungen zurückzuführen, in denen Verse nicht deshalb angegeben werden, weil sie die verwendeten Kommentarstellen belegen, sondern weil sie zusätzliche biblische Vergleichsstellen zur dargelegten theologischen Argumentation bieten.11 Ob diese Bibelstellen in den Marginalien einfach dem Interesse und dem Studium der anonymen Leserschaft überlassen blieben oder ob sie während der Karlstadtschen Collationes in Orlamünde12 Gegenstand einer öffentlichen Diskussion und Erläuterung waren, ist nicht bekannt.

Inhaltlich bietet die hier edierte Schrift, wie bereits erwähnt, eine Begriffsbestimmung des Gegensatzes zwischen Glaube und Unglaube,13 die mehrfach und unter verschiedenen Gesichtspunkten wiederholt wird. Nach der kurzen inhaltlichen Zusammenfassung führt Karlstadt im zweiten Abschnitt argumentativ das Thema ein, indem er einen scheinbaren Widerspruch in der Bibel feststellt. Denn einerseits heißt es im Johannesevangelium, dass man nur durch den Glauben gerettet wird und dass diejenigen, die nicht glauben, bereits gerichtet, d.h. verdammt sind (Joh 5,24 in Verbindung mit Joh 3,15–21). Andererseits sagt Paulus, dass ihm Barmherzigkeit widerfahren sei, während er unwissend, im Unglauben als Lästerer, Verfolger und Frevler gelebt habe (1. Tim 1,13f.).14 Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich nach Karlstadt erklären, wenn man die unterschiedlichen Bedeutungen versteht, die dem Begriff des Unglaubens zukommen und die sich nur ergeben, wenn man ihn in Beziehung zu seinem Gegenteil, dem Begriff des Glaubens, betrachtet. Die Opposition zwischen den beiden Begriffen sei absolut und wird in Anlehnung an das dritte Kapitel des Johannesevangeliums beschrieben: Der Glaube sei und suche das Licht und die Wahrheit, während der Unglaube die Finsternis und die Lüge annehme. Noch grundlegender: Der Glaube suche Gott selbst, der als wahres und ungeschaffenes Licht beschrieben wird, und lasse sich von ihm erfüllen, während der Unglaube ihn meide und ablehne.15 Eine solche radikale Opposition gelte vollständig und endgültig nur für die Begriffe Glaube und Unglaube, die die letzten und äußersten Zustände des geistigen Lebens bezeichnen. Zwischen diesen beiden Polen liegen unterschiedliche Arten von Glaube und Unglaube, die Karlstadt als »mittlere« oder »zeitliche« definiert und in denen der Mensch je nach dem Grad seiner spirituellen Entwicklung mehr oder weniger lange ringe, bevor er schließlich zur endgültigen Erlösung oder Verdammnis gelange. In diesem Zwischenstadium könne der Mensch nur eine unvollkommene, menschliche und daher blinde und törichte Erkenntnis der göttlichen Wahrheit gewinnen, weshalb auch Christus ihn nicht verdamme.

Unter Verwendung des Gleichnisses vom Sämann und den verschiedenen Böden nach Mt 13 beschreibt Karlstadt die Natur dieses mittleren Glaubens als wurzellos und daher bereit, vom Teufel entwurzelt oder von der vollen Sonne des Vaters verdorrt zu werden.16 Im Gegensatz zum Glauben der Auserwählten sei dieser »mittlere Glaube« keine vollständige Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern typisch für diejenigen, die, wie die Schrift in beiden Testamenten lehrt, glauben zu sehen, in Wahrheit aber weder etwas sehen noch verstehen. Der »mittlere Glaube« sei mit seiner gänzlich äußerlichen und unvollkommenen Erkenntnis mit der Weisheit der menschlichen Schulen und Akademien vergleichbar, ebenso stolz wie nutzlos in Hinsicht auf die Weisheit der von Gott erleuchteten Einfältigen.17 Der mittlere Glaube bleibe auf den Lippen und erreiche nie das Herz, er verharre bei der äußeren Schale und dem Buchstaben, ergreife aber niemals das Mark und den tiefen Kern der göttlichen Wahrheit.18 In diesem Sinne sei der mittlere Glaube Torheit, äußere und nutzlose Weisheit, also Finsternis und Lüge. Abschließend hebt Karlstadt hervor, dass der mittlere Glaube auch als Unglaube bezeichnet werden könne, wie im Fall der Juden, die zwar glaubten, als sich das Rote Meer über ihren Verfolgern, den Ägyptern, schloss (2. Mose 14,26–31), die Gott aber als ein Volk ohne Glauben bezeichnete, weil ihnen noch kein verständiges Herz gegeben worden war (5. Mose 29,1–3).19

Der grundlegende Unterschied zwischen diesem mittleren Glauben und dem wahren, rettenden Glauben beruhe also auf zwei verschiedenen Arten von Verständnis und Wissen.20 Während ersterer sich bestenfalls einer äußerlichen, intellektuellen und rein menschlichen Erkenntnis rühmen könne, habe der wahre Glaube seinen Hauptsitz im Herzen, das unmittelbar von Gott erleuchtet sei. Ein einziger Funke dieses von Gott gegebenen Glaubens besitze mehr Kraft und Halt als der wurzellose mittlere Glaube, der deshalb kein Heil garantiere. Aus ähnlichen Gründen könne in Karlstadts Augen auch der mittlere Unglaube nicht endgültig verdammen, denn Christus wolle erst richten, wenn alle sein Wort gehört und ihn erkannt hätten.21Wie sich Glaube und Unglaube halten beschreibt also das Leben der Menschen als einen Zwischenzustand, in dem sie weder völlig gerettet noch völlig verdammt seien, sondern ständig zwischen Glaube und Unglaube hin- und hergerissen, immer wieder geprüft würden, wenn auch auf unterschiedliche Weise.22 Diejenigen, die bereits eine »subtile« Natur besitzen – eine kleine Minderheit nach Karlstadt – würden leicht bewegt und derart verfeinert, dass sie schneller zu einem vollständigen Verständnis der göttlichen Wahrheit und Gerechtigkeit kämen.23 Die Mehrheit der Menschen besitze jedoch eine so rohe (d.h. materielle, fleischliche) Natur, dass sie die Erschütterungen, Wunden und Prüfungen, die Gott ihnen auferlege, lange und mühsam ertragen müssten, bevor sie die volle Erkenntnis und ein starkes Verlangen nach Gerechtigkeit und Wahrheit entwickelten.24 Wie die Menschen durch diese Zeit der Prüfung, Erschütterung und sogar des Leidens gehen und – als Gegenstück – wie Gott in dieser Zwischenphase des mittleren Glaubens und Unglaubens in ihnen wirkt, entscheide darüber, wer gerettet und wer verdammt werde, worauf Karlstadt in den folgenden Abschnitten näher eingeht.

Die Erschütterungen und Prüfungen, zu denen die Christen berufen seien, können sie in die Verzweiflung treiben, ja sogar in die gefährliche Versuchung zu denken, sie seien von Gottes Gnade verlassen.25 Gebe man dieser Versuchung jedoch nicht nach und rufe auch im Leiden vertrauensvoll zum Vater, entgehe man der Verdammnis und zerbreche tatsächlich die Schale, die das Herz gefangen hält, sodass die Seele bereit werde, die göttliche Gnade zu empfangen. Wie die Heilige Schrift bezeugt, bewegt, erschüttert und prüft Gott die Menschen mit verschiedenen Mitteln: dem Wind als Manifestation des Geistes; Wundern, die den Glauben wecken; aber auch Versuchungen und Strafen, die das Herz reinigen und es für das Einwirken des Vaters empfänglich machen; schließlich und vor allem mit dem Wort Gottes. Das Wort beschreibt die Bibel vielfältig, u.a. wie ein Schwert, das verteidigt, bis die Wahrheit vollständig offenbart sei, und schneidet, bis die Gerechtigkeit jeden Überrest der fleischlichen Natur gänzlich vernichtet habe.26 Nur diejenigen, die standhaft bleiben, dieses göttliche Schwert ertragen und auch annehmen, würden gerettet und im Geist getauft. Diejenigen hingegen, die es ablehnten und ihrer eigenen menschlichen Weisheit den Vorzug gäben, würden für immer verdammt.27

Nach dieser langen Argumentation über die Auserwählten und die Verdammten greift Karlstadt das Hauptthema seiner Abhandlung erneut auf und beschreibt den Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube, indem er den Begriff der »Annemligkeit«28 – d.h. Selbstgefallen, Ichhaftigkeit und Ungelassenheit – verwendet, was den Einfluss der mystischen Tradition, wie schon zuvor in den Schriften des Vorjahres, offenbart.29 Je mehr man vorziehe, in sich selbst, in seinen eigenen Gedanken und Wünschen verankert zu bleiben, indem man Schmerz und Leiden ablehne und meide, desto tiefer versinke man in Unglaube und Verdammnis. Dagegen werde derjenige gerettet, der alles mit dem reinen Wunsch annehme, sich dem Willen des Vaters unterwerfe und anpasse und damit in Gelassenheit und Selbstverleugnung lebe. Diese beiden gegensätzlichen Haltungen lassen erkennen, woher Glaube und Unglaube kommen, nämlich – nach dem mehrmals verwendeten johanneischen Modell – aus der Wahrheit und dem Licht das eine, aus der Lüge und der Finsternis das andere. Und so gegensätzlich wie ihre Quellen seien auch ihre Wirkungen: Während der Glaube das Herz rechtschaffen, frei, gut und bereit mache, sich Gott anzuvertrauen und alles, was er auferlege, in der Erkenntnis seiner Wahrheit gelassen zu durchleiden, mache der Unglaube das Herz ungerecht, verkehrt, unwillig, den Vater anzunehmen und stattdessen eher geneigt, den lügenhaften Wegen des Teufels zu folgen.30

Damit niemand diesen Widerspruch der freien Entscheidung des Menschen zuschreibe, legt Karlstadt in den folgenden Abschnitten dar, wie der wahre Glaube entstehe und eine direkte Wirkung Gottes sei. Denn nur Gott – in der deutschen Mystik als ungeteilte und ungeschaffene Einheit beschrieben – könne den wahren Glauben schenken, indem er ihn in die Herzen der Menschen gieße und ihre Seele mit seiner ewigen, leuchtenden Wahrheit erleuchte.31 Der Glaube sei also das Werk der göttlichen Offenbarung, vollzogen durch die ungeschaffene und leuchtende Stimme Gottes, die aus der Tiefe der geschaffenen Seele spreche und belehre.32 Der wahre, rettende Glaube, der auch die einzig wahre Gotteserkenntnis sei,33 steht im radikalen Gegensatz zu weltlichen Überzeugungen und menschlicher Vernunft und Verstand.34 Ohne dieses göttliche Werk, d.h. ohne diese Offenbarung im Inneren und ohne den darin eingeprägten Glauben, erwachse keine bedingungslose Liebe zum himmlischen Vater. In seiner durch Gegensätze geprägten argumentativen Struktur beschreibt Wie sich Glaube und Unglaube halten auch die Genese und die Folgen des Unglaubens.35 Der Gegensatz zwischen den beiden Prinzipien ist so radikal dargestellt, dass der Ungläubige, der in der Lüge und in der Finsternis verharre, von der Wahrheit und dem Licht so sehr erschreckt und entsetzt werde, dass er sie meide und nicht in sich wirken lasse, obwohl er sie erkennt.36 Im Rekurs auf das Johannesevangelium argumentiert Karlstadt, dass der Ungläubige bereits endgültig verdammt sei, da es ihm unmöglich sei, sich zu öffnen, weich zu machen und die göttliche, freie Gnade anzunehmen.

Nachdem Karlstadt den substanziellen Zusammenhang zwischen der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und dem Unglauben/Glauben hergestellt hat, kehrt er in den letzten beiden Abschnitten der Schrift noch einmal zum Gegensatz zwischen den beiden Prinzipien zurück, wobei er dieses Mal auf ihre Folgen für das ewige Heil bzw. die Verdammnis eingeht. Da im Johannesevangelium die Gotteserkenntnis auch dem ewigen Leben entspricht, folgt für Karlstadt daraus, dass die Seele durch den Glauben (der wahre Gotteserkenntnis sei)37 mit Gott vereint werde, an der göttlichen Natur teilhabe und so das ewige Leben erlange. Wer den wahren Glauben und dadurch das ewige Leben einmal gekostet habe, könne ihnen nicht mehr entrissen werden. Weil der Glaube ewiges Leben sei und schenke, führe er den Menschen in einem Prozess der allmählichen Verfeinerung furchtlos durch den leiblichen Tod und schließlich zu einem geistigen Leben von höherem Wesen und Grad.38 Aus Gott, dem ungeschaffenen Licht, und aus seinem Sohn, dem vom Vater ausgehenden ungeschaffenen Strahl,39 seien neue Kreaturen geboren, Kinder des Lichts, die in der vollen Erkenntnis der Wahrheit zu unerschütterlicher Liebe und ständiger Sehnsucht nach dem Vater entflammt sind. Diejenigen, die diese letzte Stufe des Glaubens erreichen, leben in Gott in einem unzerstörbaren Zusammenhang von Wahrheit, Erkenntnis, Gerechtigkeit und Liebe. Im radikalen Gegensatz dazu stehe der Weg derjenigen, die, nachdem sie eine Zeit lang im mittleren Unglauben versucht und geprüft wurden, schließlich die göttliche Wahrheit, obwohl sie sie erkannt haben, ablehnen und es vorziehen, in der Finsternis zu wandeln. Ihre Weigerung, das Licht des Vaters anzunehmen und in ihrer natürlichen Kraft und Vernunft verankert zu bleiben, stürze sie in Sünde und Verdammnis. Bevor sie jedoch diese beiden Extreme erreichen, müssen alle postlapsarischen Menschen, die eine Mischung aus Licht und Finsternis darstellen, durch die Prüfungen und Schwierigkeiten des mittleren Glaubens und Unglaubens gehen, damit sie entweder gereinigt und verfeinert oder noch eigensinniger und sündiger werden.40

Zusammenfassend entwickelt Wie sich Glaube und Unglaube halten keine Themen, die für Karlstadts theologisches Programm jener Jahre neu waren, sondern nimmt zentrale Aspekte auf und vertieft sie durch eine biblisch zentrierte Argumentation. Sehr deutlich tritt der mystische Charakter hervor, mit einem klaren Gegensatz zwischen Gott, seiner ungeschaffenen und ungeteilten Natur, unendlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, und dem natürlichen Menschen, seiner geschaffenen, geteilten Natur und seinem Gefallensein in die Sünde. Den Prozess, der den natürlichen Menschen zur Wiedervereinigung mit seinem Schöpferprinzip, nämlich mit Gott, führt, beschreibt Karlstadt, wie in den Schriften des vergangenen Jahres, als Arbeit an der Gelassenheit, einem fortschreitenden Werk der Zerstörung aller Begierden und natürlichen Eigenkräfte. Der wahre Gläubige müsse seiner fleischlichen Natur entkleidet werden, müsse die Schale der Finsternis und der Lügen zerstören, die den göttlichen Lichtfunken, den geistigen Kern, verbergen, damit dieser durch Gottes unmittelbares Wirken nach und nach belebt, gereinigt und gestärkt werden könne, bis zur geistlichen Wiedergeburt. Das zentrale Mittel, durch das dieser Prozess verwirklicht wird, ist der Glaube, dessen Untersuchung die hier edierte Schrift in erster Linie gewidmet ist: Glaube, der kein menschliches Werk ist, sondern eine göttliche Gabe und Wirkung, eine Offenbarung der Wahrheit und des ewigen Lichts im Inneren der Menschen, eine Entzündung der wahren Liebe. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Glaube einen theoretischen Dreh- und Angelpunkt bietet, um das gesamte geistliche Leben der Christen zu beschreiben, so dass Wie sich Glaube und Unglaube halten eine wirksame Zusammenfassung der höchstwahrscheinlich von Karlstadt auch in Orlamünde gepredigten Theologie darstellt und gleichzeitig einige der Gründe für den im Sommer 1524 unüberwindbar gewordenen Gegensatz zum theologischen Programm Luthers offenlegt.41


1Drei mit einer Auflage von eintausend Exemplaren, eines mit einer Auflage von achthundert Exemplaren, wie Wolff behauptete, als er im Dezember wegen der Drucklegung der Schriften Karlstadts festgenommen und verhört wurde. An die Titel der von ihm gedruckten Werke erinnerte sich Wolff jedoch nicht, sodass die genaue Auflagenhöhe der hier veröffentlichten Schrift nicht ermittelt werden kann. Zu den Aussagen von Thomas Wolff und Johannes Bebel über die Veröffentlichung von Karlstadts Schriften in rascher Folge in Basel ab Anfang Oktober 1524 sowie über die Beteiligung von Gerhard Westerburg siehe die Einleitungen zu KGK 273, KGK 276, aber auch zu KGK 279 und v.a. die Beilage.
2Ponader, Caro, 227f. datiert die Schrift versuchsweise – aber ohne dabei zu argumentieren – »über die Vertreibung hinaus«. Zur Abreise Westerburgs unmittelbar nach dem sogenannten Jenaer Gespräch (vgl. KGK 267) mit Handschriften Karlstadts (darunter offensichtlich auch die hier edierte), die er dann in Basel Anfang Oktober in Druck gab, sowie zur Abreise Karlstadts aus Sachsen Ende September und seiner Ankunft zunächst in Zürich, danach in Basel und schließlich in Straßburg, bevor er nach Heidelberg weiterreiste, siehe KGK 268, KGK 273 u. KGK 280. Zum Beginn der Tätigkeit Karlstadts in Orlamünde siehe KGK VI, Nr. 242f., 246 und 249.
4Es ist unklar, ob Karlstadt sich in Ursachen seiner Vertreibung aus Sachsen (KGK 281 (Textstelle)) auf die hier edierte Schrift oder evtl. auf andere Schriften wie z.B. den Sermon von Engeln und Teufeln (KGK VI, Nr. 246) bezieht. Siehe auch die Einleitung zu KGK 281.
5Vgl. Mt 12,31 u.ö. Traditionsgemäß assoziiert man damit Verzweiflung, d.h. die Überzeugung, von der göttlichen Barmherzigkeit ausgeschlossen zu sein.
6Vgl. neben dem Titelblatt auch den ersten Abschnitt, KGK 274 (Textstelle).
7Vgl. KGK 280 (Textstelle). Es ist unklar, ob dies nur eine Verteidigungsstrategie war.
8Siehe nochmals KGK 273 u. KGK 280.
13Im ersten Abschnitt, siehe KGK 274 (Anmerkung).
15Die Lichtmetaphorik ist bereits in der Bibel – siehe z.B. 1. Joh 1,5 – verwendet, wurde danach in der Patristik entwickelt und bis in die mittelalterliche Theologie auch in der Opposition ungeschaffenes/geschaffenes Licht rezipiert, gewann eine zentrale Bedeutung zur Kennzeichnung einer ontologischen, nicht nur erkenntnistheoretischen Unvereinbarkeit zwischen Gott und dem postlapsarischen Menschen in der deutschen Mystik, die den Hintergrund der von Karlstadt hier entfalteten Argumentation bildet. Siehe KGK 274 (Textstelle).
17Die Polemik gegen die Schultheologie und die menschliche Gelehrsamkeit im Gegensatz zu der Weisheit, die Gott direkt in den Herzen der wahren Christen, auch den Bauern und Laien, offenbarte, war bereits im vorhergehenden Jahr ausführlich entwickelt worden. Siehe in diesem Zusammenhang v.a. die Einleitung zu Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes, KGK VI, Nr. 239 und Was gesagt ist: Sich gelassen, KGK VI, Nr. 241, v.a. S. 144, Z. 18 – S. 152, Z. 4.
20Auch hier ist die Quelle das Johannesevangelium mit seiner engen Verbindung zwischen Glaube, Wahrheit und Wissen.
22Siehe hier auch KGK VI, Nr. 239, S. 48–51.
25Das ist die Sünde in dem heiligen Geist; vgl. KGK 274 (Textstelle).
26Das Bild des Schwertes zur Beschreibung der Wirkung des vollmächtigen, nämlich richtenden und rettenden Wortes Gottes kommt in Karlstadts Schriften häufig vor. Siehe z.B. Reich Gottes, KGK IV, Nr. 191, S. 268, Z. 9 – S. 270, Z. 10.
29Vgl. z.B. Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes, KGK VI, Nr. 239, S. 49, Z. 1–15 oder Was gesagt ist: Sich gelassen, KGK VI, Nr. 241, S. 112, Z. 3 – S. 113, Z. 6.
33Karlstadt weist jedoch darauf hin, dass diese Offenbarung und Erkenntnis nicht dasselbe ist wie das direkte Sehen Gottes in seiner Fülle, denn man hört nur seine Stimme, die nach innen spricht. Aus der Offenbarung durch die in der Seele eingeprägte Stimme kennt der Mensch Gott, so wie man aus dem in Wachs eingeprägten Bild eines Siegels auf die Form des Siegels selbst zurückschließt, obwohl man es nie gesehen hat. Karlstadt verwendet den Vergleich mit dem Wind – den man hören oder spüren, aber nicht sehen kann –, um das Offenbarungswirken des göttlichen Wortes zu beschreiben, wobei letzteres jedoch ein ungeschaffener Wind ist, der die Fähigkeit hat, in der Seele des Menschen ein neues geistiges Geschöpf zu erzeugen, das ihn erkennen kann. Siehe KGK 274 (Textstelle). Siehe auch Von den zwei höchsten Geboten der Liebe, KGK VI, Nr. 247, S. 240, Z. 2 – S. 241, Z. 5.
36Sowohl Glaube als auch Unglaube sind im Grunde ein Wissen über die göttliche Gerechtigkeit. Während der Gläubige die Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes annimmt, sich zu eigen macht und deshalb gerettet wird, lehnt der Ungläubige sie ab, ringt mit ihr und wird deshalb verdammt. Diese Überlegung basiert auf der zuvor formulierten Annahme, dass es ohne vollständige Gotteserkenntnis weder Erlösung noch Verdammnis geben kann, so dass selbst die Verdammten die Wahrheit irgendwie noch erkennen müssen, um sie abzulehnen und die Strafe zu verdienen. Eine unvollkommene Kenntnis der Wahrheit Gottes, wie im Beispiel des Paulus, das zu Beginn der Abhandlung zitiert wird, kann als Entschuldigung für die Sünde dienen und gehört zum mittleren und zeitlichen Glauben und Unglauben. Siehe KGK 274 (Textstelle).
38So formuliert und beschreibt Karlstadt die Wiedergeburt der geistlichen Kreatur in den Auserwählten, die sich ganz auf das göttliche Wirken verlassen. Er beschreibt aber nicht konkret, was z.B. unter einem »geystlichen leben eines hohern wesens und gradts« (KGK 274 (Textstelle)) zu verstehen sei. Siehe KGK 274 (Textstelle).
39Auch wenn die Bilder von Sonne, Strahl und Licht schon der Alten Kirche bekannt waren, ist hier v.a. die mystische Begrifflichkeit wirksam; vgl. KGK 274 (Anmerkung).
41Zum Konflikt mit Luther siehe u.a. KGK 267.

Downloads: XML · PDF (Druckausgabe)
image CC BY-SA licence
»