Nr. 268
Verschollen: Andreas Karlstadt an Konrad Grebel und seinen Kreis in Zürich
[Orlamünde], [1524, nach 24. August]

Einleitung
Bearbeitet von Wolfgang Huber

DerZürcher Humanist Konrad Grebel, der zunächst ein Anhänger des führenden Reformators Huldrych Zwingli gewesen war, dann aber aus einer radikaleren Haltung heraus eine kritische Position ihm gegenüber entwickelt hatte, berichtete in einem Brief vom 14. Oktober 1524 seinem Schwager Joachim Vadian in St. Gallen:1 »Quemadmodum in proximis ad te literis Wittenbergensis Academiae ducibus scripturos nos dixeramus,2 ita et factum esse3 scito; et quia Carolostadio nos aliquot ante non multos adeo dies scripseramus,4 redditae sunt ab eo nuper literae,5 tum libelli plus minus octo legendi gratia nobis cum nuncio6 exhibiti,7 qui quomodo Carolostadium et Lutherium conveniat, quomodo congressi ante nondum exactum sesquimensem inter se discesserint,8 quomodo Carolostadius acceperit aureum nummum a Luthero, ut contra se scribat, et narravit9 et legit, sex diebus apud nos Tiguri agens.10 Nuncii nomen est Gerardus Westerburg, si forte legisti eius de Sopore Animarum libellum.11 Ubi libelli isti et istorum conflictatio impressa12 hisce, ut spero, diebus ad nos pervenerint, ut eundorum tibi copia fiat, nisi tu nolis, curatum dabo. […] Quod hic fit,13 Wittenbergae quoque fit;14 sed iudicabit aequus lector e Carolostadianis libellis quam retrogradiatur Lutherus quamque insignis sit cunctator et strenuus propugnator scandali sui.«15


Beilage 1: Räte Herzog Johanns von Sachsen an Gerhard Westerburg, [Weimar], 1524, 1. Oktober

Handschrift:

[a:]LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 622, fol. 1r–v

Beilage 2: Protestschreiben Gerhard Westerburgs an Herzog Johann, [Jena], 1524, 26. November

Handschrift:

[a:]LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 622, fol. 2r–3v
Editionen:

Literatur:

Beilage 3: Räte Herzog Johanns von Sachsen an Gerhard Westerburg, [Weimar], 1524, 28. November

Handschrift:

[a:]LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 622, fol. 4r–v
Edition:

Literatur:

1. Erläuternde Hinweise

Karlstadt hat nach den Auseinandersetzungen mit Luther in Jena und Orlamünde (am 22. bzw. 24. August 1524) seinen Boten (»nuncius«) Gerhard Westerburg (1486–1558) mit etwa acht Manuskripten (»libelli plus minus octo«) ausgestattet, um diese in seinem Auftrag außerhalb Sachsens zum Druck zu bringen.16 Zu diesem Zweck sollte Westerburg zu Konrad Grebel und seinem Kreis nach Zürich reisen. Zu diesen »Brüdern« bestand anscheinend bereits seit Mai 1524 eine Korrespondenz.17Karlstadt hatte Westerburg auch ein Schreiben an die Zürcher Brüder mitgegeben, das diesen vermutlich als seinen Beauftragten empfahl. Mitte September 1524 traf Westerburg in Zürich ein und überreichte diesen Brief (»redditae sunt ab eo nuper literae«). Karlstadt hatte das Schreiben vermutlich unmittelbar vor Westerburgs Abreise verfasst, die nach den Streitgesprächen mit Luther in Jena und Orlamünde erfolgte, also gegen Ende August 1524.18

Zur Dokumentation der Motive und des Selbstverständnisses Gerhard Westerburgs bei seiner Mission für Karlstadt wird Westerburgs Protestschreiben vom 26. November 1524 an Herzog Johann von Sachsen an dieser Stelle als Beilage ediert, der Vollständigkeit wegen zusammen mit den beiden historisch dazugehörenden kurzen Schreiben der herzoglichen Räte an Westerburg vom 1. Oktober bzw. 28. November 1524, die den Befehl zum Verlassen des Landes und zum Verkauf der Güter enthielten bzw. bestätigten. Außerdem ermöglicht dieses Protestschreiben Westerburgs vom 26. November 1524 – eine sehr wichtige historische Information –, seine drei Monate zurückliegende Abreise in Richtung Schweiz als den ungefähren Terminus ante quem für der Entstehung der meisten Basler Publikationen anzunehmen.

Inhaltlich verweist Westerburg in seinem Protestschreiben zunächst auf seine Unbescholtenheit als christlicher Mitbürger in Jena, wo er seit 1523 lebte. Was »den Glauben und das Wort Gottes« angeht, habe er, da er nicht dazu berufen gewesen sei, weder gepredigt noch gelehrt. Er hätte es lediglich gern gesehen und dafür alle seine Mittel eingesetzt, dass der Streit zwischen Luther und Karlstadt durch eine öffentliche Anhörung oder Disputation entschieden und geschlichtet worden wäre. Westerburg sei ausschließlich für die Wahrheit engagiert, die nicht mit Gewaltmaßnahmen wie einer Ausweisung unterdrückt werden dürfe. Darum warne er Herzog Johann vor Gottes Zorn und bittet, ihm die Gründe für seine Ausweisung zu nennen. Die »Gotteslästerer und Widerstreber« des Wortes Gottes, vor allem in seiner Heimat Köln, sollten keinen Anlass erhalten, seine Person und Gottes Wort zu schmähen. Zuletzt ersucht Westerburg auch mit Blick auf seine Familie um Aufschub der Ausweisung, beteuert aber seine Gottergebenheit.


1Vadianische Briefsammlung 3, 88f. Nr. 407; QGTS 1, 21f. Nr. 15.
2Gemeint ist der Brief Grebels an Vadian vom 3. September 1524; Vadianische Briefsammlung 3, 84–86 Nr. 404; QGTS 1, 11f., Nr. 13. Zum Kreis der radikalen Zwingli-Kritiker um Grebel vgl. Locher, Zwinglische Reformation, 236–245; Stayer, Radikalismus, 168–172; Strübind, Eifriger; Goertz, Grebel (zu Karlstadt S. 50; 53; 55); zuletzt prägnant Kaufmann, Täufer, 24–31.
3Zum Brief des Grebel-Kreises an Luther siehe KGK 269 (Textstelle) mit KGK 269 (Anmerkung).
4Welches vorhergehende Schreiben Grebel hier meinte, ist unklar. An sich konnte die Antwort Karlstadts auf ein Schreiben der Zürcher nicht in weniger als sechs Wochen vorliegen, so dass die Formulierung »aliquot ante non multos adeo dies« nicht zu eng verstanden werden sollte. In Frage kommt von der Aussage im Plusquamperfekt her (Vorzeitigkeit) ein nicht erhaltener, aber zu postulierender Brief des Grebel-Kreises von Anfang Juli 1524, der an Karlstadt die Bitte richtete, eine Schrift über die Kindertaufe (KGK 280) zu verfassen. Darauf deutet in der Quelle (Referenz) die Verwendung der kausal zu verstehenden Konjunktion »quia« hin; vgl. Georges, Handwörterbuch (1995); Niermeyer, Lexicon. Ganz entsprechend bekundeten die Zürcher in Briefen an Thomas Müntzer vom 5. September 1524 (TMA 2, 347–366 Nr. 103, 1 u. 2) ihre Erwartung, dass dieser in brüderlicher Übereinstimmung mit Karlstadt publizistisch im Sinne einer radikalen Reformation tätig würde; vgl. KGK 269. Die Formulierung »aliquot ante non multos adeo dies« lässt jedoch auch an die Möglichkeit eines zeitlich nur kurz zurückliegenden Schreibens des Grebel-Kreises an Karlstadt denken, das vielleicht erst nach der Weiterreise Westerburgs von Zürich nach Basel (Ende September 1524) abgesandt wurde. Zum Überblick über die nur hypothetisch rekonstruierbare Korrespondenz zwischen dem ZürcherGrebel-Kreis und Karlstadt siehe KGK 268 (Anmerkung). Freilich könnte Grebel bei seiner rasch niedergeschriebenen Darstellung gegenüber Vadian, was die exakte zeitliche Abfolge des inhaltlichen Austauschs in der Korrespondenz betrifft, bei den Angaben auch ein Versehen unterlaufen sein.
5Gemeint ist das mit diesem Stück unserer Edition nachgewiesene, nicht überlieferte Schreiben Karlstadts an Grebel (und seinen Kreis), verfasst gegen Ende August 1524, das Westerburg mit nach Zürich gebracht hatte.
6Zu Gerhard Westerburg (1486–1558), Dr. jur. utr., der mit einer Schwester der Ehefrau Karlstadts verheiratet war (KGK 280 (Anmerkung)), vgl. Woodbridge, Westerburg; BBKL 23, 1565–1569; MennLex. Zu Westerburgs Einsatz als »Bote«Karlstadts und seinen Motiven siehe Westerburgs Protestschreiben gegen seine Ausweisung aus Sachsen (1. Oktober 1524) vom 26. November 1524, siehe KGK 268 (Textstelle). Vgl. auch Pater, Westerburg (mit unhaltbarer Behauptung der Verfasserschaft Westerburgs am Dialogus von der Kindertaufe, KGK 280).
7Für einen Überblick über die von Westerburg nach Zürich mitgebrachten »plus minus octo« Manuskripte Karlstadts siehe KGK 273 (Textstelle).
8Diese ungefähre Zeitangabe im Rückblick auf das vergangene Streitgespräch zwischen Luther und Karlstadt in Jena (am 22. August 1524), dokumentiert in den Acta Jenensia (KGK 267), trifft zu.
9Grebel hält – nach dem mündlichen Bericht Westerburgs – die wesentliche Übereinkunft des Jenaer Gesprächs fest, die Luther seinerseits durch die an Karlstadt gegebene Münze zeichenhaft verbürgte; siehe Acta Jenensia (KGK 267 (Textstelle)).
10Westerburg hielt sich also sechs Tage in Zürich auf und reiste dann in Begleitung von Felix Mantz nach Basel, um dort die Karlstadtmanuskripte drucken zu lassen; siehe KGK 273 (Textstelle). Westerburg war – in seinem Schreiben an Herzog Johann von Sachsen vom 26. November 1524 (Beilage 2) sprach er von einer dreimonatigen Abwesenheit aus Jena (KGK 268 (Textstelle)) – gegen Ende August 1524 aufgebrochen. Dass Westerburg auf seinem Weg nach Zürich auch die Acta Jenensia (KGK 267) im fränkischen Wertheim zum Druck beförderte, ist möglich; dies könnte aber auch Martin Reinhart geleistet haben. Wenn etwa vier Wochen später Karlstadt, der weitere eigene Manuskripte zur Realisierung seiner Publikationsoffensive selbst mit sich führte, eine Chance haben wollte, zu seinem ebenfalls mit Druckmanuskripten vorausgesandten »Boten«Westerburg aufzuschließen, musste er denselben Weg zum Grebel-Kreis in Zürich einschlagen wie Westerburg vorher. Dieser Weg führte ihn sehr wahrscheinlich von Orlamünde durch Franken auf möglichst direktem Weg nach Zürich, vermutlich über Ulm. Dafür brauchten Westerburg und Karlstadt etwa vier Wochen; vgl. die insgesamt plausiblen Überlegungen von Burnett, Eucharistic Controversy, 143–145; 201–203, die mit Recht für die Reise nach Zürich den Umweg über Straßburg für unwahrscheinlich hält; vgl. KGK 242. Für die ältere Forschung, die einen solchen Reiseweg Karlstadts mit einem heimlichen mehrtägigen Zwischenaufenthalt in Straßburg Anfang Oktober 1524 annahm, vgl. Barge, Karlstadt 2, 140f. sowie Müsing, Karlstadt, 176–181 und Looß, Aspekte, wiedergegeben bei Kaufmann, Abendmahlstheologie, 181–183.
11Zu Westerburgs Fegefeuer-Traktaten, erschienen 1523 bzw. 1524, siehe KGK V, Nr. 233, S. 335f. mit Anm. 70.
12Gemeint sind die Acta Jenensia (KGK 267), welche die zwischen Luther und Karlstadt getroffene Abmachung dokumentieren, ihren Konflikt nun in Publikationen auszutragen (siehe KGK 268 (Anmerkung)). Westerburg brachte also anscheinend kein gedrucktes Exemplar der Acta Jenensia mit nach Zürich. Grebel erwartete die Zusendung von Karlstadt-Drucken aus Basel und der Acta Jenensia dann von Wertheim her.
13Gemeint ist das in Grebels Augen sträfliche Hinauszögern unbedingt gebotener Reformen in Zürich und die Auseinandersetzungen darüber mit den Kritikern, die – wie Grebel und sein Kreis – marginalisiert wurden.
14Gemeint ist die Ausgrenzung radikaler Kritiker (Karlstadt und Müntzer) durch die in Kursachsen dominierenden Reformatoren (Luther und sein Kreis).
15Vermutlich Anspielung auf Karlstadts Traktat Ob man gemach fahren soll (KGK 273) mit seiner Kritik an Luthers anstößig zögerlichen Haltung zur Einführung biblisch gebotener Reformen.
16Möglicherweise gehörten dazu auch die Acta Jenensia (KGK 267), die Dokumentation über die Streitgespräche mit Luther, deren Drucklegung bei Georg Erlinger in Wertheim erfolgte.
17Die nicht erhaltene Korrespondenz zwischen dem Grebel-Kreis in Zürich und Karlstadt in Orlamünde (Beförderungsdauer der Briefe: mindestens 3 bis 4 Wochen) lässt sich hypothetisch etwa so rekonstruieren: Brief 1: Die »Brüder« um Konrad Grebel wandten sich mit einem ersten Schreiben etwa Ende April 1524 an Karlstadt und baten um seine gutachtliche Stellungnahme zu den neu erschienenen »Deutschen Messen« und seine Beurteilung der von ihnen geschilderten Situation der Reformation in Zürich; vgl. KGK 275. Brief 2: Karlstadt antwortete um den 26. Mai 1524 mit dem erbetenen Briefgutachten, das später unter dem Titel Wider die alte und neue papistische Messe zum Druck kam (KGK 275). Dieses Schreiben mag Ende Juni oder Anfang Juli 1524 in Zürich eingetroffen sein. Brief 3: Der Kreis um Grebel hat die Zusendung des Briefgutachtens vermutlich mit einem Dankesbrief erwidert, der wohl in der ersten Julihälfte 1524 abgeschickt wurde. Bei dieser Gelegenheit bekundeten die »Brüder« des Grebel-Kreises vielleicht ihr Interesse an einer festeren Beziehung und publizistischer Zusammenarbeit – zu der es im September 1524 tatsächlich auch kam. Man darf weiter annehmen, dass es just dieser Brief war, mit dem der Grebel-Kreis Karlstadt aufforderte, seine Position in der Frage der Kindertaufe darzulegen – so wie der Grebel-Kreis dies auch etwas später in den beiden Briefen vom 5. September 1524 gegenüber Thomas Müntzer getan hat. Treffen diese Überlegungen einigermaßen zu, dann hat die Zürcher Bitte, eine Schrift über die Kindertaufe (KGK 280) zu verfassen, Karlstadt in Orlamünde etwa Anfang August 1524 erreicht – was wiederum gut zu den Erkenntnissen über die Abfassung der Abendmahlsschriften passt. Brief 4: Karlstadt hat vermutlich den Empfang dieses Auftrags zur Abfassung einer Schrift über die Kindertaufe (KGK 280) mit einem weiteren Brief Anfang August 1524 bestätigt. Brief 5: Es war dann wohl dieser in Zürich eingetroffene Brief, den Grebel wiederum am 3. September 1524 beantworten wollte (»rescribo«) – was aber Andreas Castelberger am 5. September erledigte (KGK 269). Brief 6: Inzwischen hatte Karlstadt seinem Boten Westerburg bei dessen Abreise in Richtung Schweiz, die gegen Ende August 1524 stattfand, wiederum ein Schreiben an die Zürcher»Brüder« mitgegeben – eben den hier mit diesem Stück in unserer Edition nachgewiesenen, nicht überlieferten Brief (KGK 268). Brief 7: Möglicherweise hat der Grebel-Kreis noch einen weiteren Brief »aliquot ante non multos adeo dies« an Karlstadt gesandt, wie Grebel gegenüber Vadian am 14. Oktober 1524 mitteilte, der wohl von der Abreise Westerburgs aus Zürich nach Basel berichtete (vgl. KGK 268 (Anmerkung)).
18Siehe Acta Jenensia (KGK 267) und KGK 268 (Textstelle).

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