Im Nachwort zu der auf den 6. November 1524 datierten Rechtfertigungsschrift Ursachen seiner Vertreibung aus Sachsen (KGK 281) nannte Karlstadt die drei theologischen Themenbereiche (»Artikel«), bei denen er und Luther kontroverse Lehrauffassungen vertraten: »In dreyen artickeln ist. D. L. wider mich und die warheyt/ einer ist von dem Sacrament/ der ander von der Tauff/ der dritt von der lebendigen stymm gottes/ In dem ersten hab ich syben buͤchlin gemacht/ die nu gar nah alle gedruckt. In dem andern ist ein schlechter dialogus unther der pressen/ unnd wirt das recht bald hernach kommen.«1
Die Verhöraussagen der Basler Drucker Johann Bebel und Thomas Wolff (Beilage) belegen allerdings, dass diese »schlichte« Dialogflugschrift über die Frage der Kindertaufe entgegen der Erwartung Karlstadts nicht zur Veröffentlichung gelangte. Die Drucklegung des Manuskripts, das Karlstadt selbst gegen Ende Oktober 1524 nach Zürich in den Kreis um Konrad Grebel und nach Basel gebracht hatte, kam nicht zustande.
Beilage: Verhöraussagen der Basler Drucker Johann Bebel und Thomas Wolff, Basel, [1524, vor 10. Dezember]
Handschrift:
Zwei Manuskripte auf unfoliiertem, gefaltetem Blatt, niedergeschrieben von zwei verschiedenen Händen, vermutlich eigenhändig von den beiden Druckern.
Edition:
- Dürr, Aktensammlung 1, 174–176 Nr. 307.
Literatur:
- Oekolampad, Briefe und Akten 1, 328f. Nr. 226.
- Staehelin, Lebenswerk Oekolampads, 274.
- Zorzin, Karlstadts Dialogus, 28–37.
1. Hinweise zur Drucklegung und Entstehung
Der von Karlstadt verfasste Dialogus »von der Tauff« erschien erst im Jahr 1527 im Druck,2 und zwar in Worms bei Peter Schöffer d.J.3 Die Edition dieser Flugschrift,4 die möglicherweise eine bearbeitete Fassung des ursprünglichen Manuskripts darstellte, erfolgt in KGK VIII. Anhand der hier als Beilage edierten Verhöraussagen der Drucker Johann Bebel und Thomas Wolff5 sollen die historischen Vorgänge um die Drucklegung von KarlstadtsDialogus von der Kindertaufe Ende Oktober / Anfang November 1524 in Basel nachgezeichnet werden. Im Anschluss daran geht es um Aspekte zur Entstehung dieser Schrift im Spätsommer 1524. Die Verhöraussagen bieten darüberhinaus wertvolle Informationen zur Veröffentlichung auch der anderen Karlstadt-Schriften in Basel.
Die im Herbst 1524 in Basel gedruckten6 und rasch verbreiteten Schriften Karlstadts lösten, wo immer sie gelesen wurden, heftige theologische Debatten aus, besonders in Oberdeutschland, vor allem aber in der Nachbarmetropole Straßburg.7 Der Rat der Freien Stadt Basel, die seit 1501 der Schweizer Eidgenossenschaft angehörte, untersuchte angesichts des Aufsehens, das die Karlstadt-Schriften erregten, Anfang Dezember 1524 die Umstände ihrer Drucklegung und zog die beiden Drucker Johann Bebel (alias Welsch Hans) und Thomas Wolff zur Rechenschaft.8 In Haft genommen, waren beide natürlich bemüht, sich selbst zu entlasten. Darum sind ihre schriftlich niedergelegten Verhöraussagen,9 die gleichwohl aufschlussreiche Informationen zum Druck, zu den Auflagenhöhen und zu den ausgehandelten Kosten der verschiedenen Abendmahlsschriften Karlstadts bieten, quellenkritisch auszuwerten.
In den Verhöraussagen der beiden Drucker ist von KarlstadtsDialogus von der Kindertaufe zunächst keine Rede.10 Er gehörte offenbar nicht zu jenen »plus minus« acht Manuskripten, die Gerhard Westerburg im Auftrag Karlstadts in der zweiten Septemberhälfte 1524 zunächst nach Zürich – wo er sich sechs Tage aufhielt – und dann nach Basel brachte, um sie dort drucken zu lassen.11 Vielmehr gelangte der Dialogus von der Kindertaufe wohl erst gegen Ende Oktober 1524 durch Karlstadt selbst nach Basel – zusammen mit der Auslegung der Abendmahlsworte Christi (KGK 279), an deren Abschluss Karlstadt noch arbeitete, als ihn der am 18. September 1524 ergangene Befehl zum Verlassen des Landes erreichte.12Karlstadts Reise führte ihn, nachdem er Kursachsen gegen Ende September verlassen hatte, wahrscheinlich durch Franken und Oberschwaben, auf dem kürzesten Weg seinem »Boten«Gerhard Westerburg folgend, nach Zürich. Hier suchte er den Kreis der radikalen Zwingli-Kritiker um Konrad Grebel auf, zu denen er bereits gegen Ende August Westerburg mit Druck-Manuskripten gesandt hatte. Nach einem nur kurzen Zwischenaufenthalt reiste Karlstadt mit seinen Manuskripten weiter nach Basel, wo Westerburg unterstützt von dem ZürcherFelix Mantz (um 1500–1527) die mitgebrachten Karlstadt-Schriften Ende September 1524 zum Druck gebracht hatte.13 Nun, gegen Ende Oktober 1524, sollten also die Auslegung der Abendmahlsworte Christi (KGK 279) und der Dialogus von der Kindertaufe am Druckort Basel zur Veröffentlichung gelangen.14
Nach Aussage des Druckers Johann Bebel, der bei den Zeitangaben vage blieb, war es aber erneut Westerburg, der ihm die beiden Karlstadt-Manuskripte aushändigte. Die Auslegung der Abendmahlsworte Christi (KGK 279) verursachte bei Bebel offenbar keine Bedenken – trotz ihrer am Ende drastisch gesteigerten Polemik gegen Luther. Er schilderte deren Druck so, als folgte die Auslegung der Abendmahlsworte Christi als »drittes Büchlein« ganz selbstverständlich den beiden Abendmahlsschriften, die er tatsächlich bereits Wochen vorher, Anfang Oktober 1524, nach erteilter Genehmigung durch den Theologen Johannes Oekolampad gedruckt hatte:15 den Traktat Von dem Missbrauch des Herren Brot und Kelch (KGK 276) und den Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments (KGK 277). Bebel lag also offenkundig daran, die Veröffentlichung der Auslegung der Abendmahlsworte Christi als durch die anfängliche Begutachtung durch Oekolampad gedeckt hinzustellen.
Hinsichtlich der Drucklegung des Dialogus von der Kindertaufe widersprechen sich die Aussagen des Druckers Johann Bebel und die Auskünfte des Theologen Johannes Oekolampad (1482–1531). Bebel erweckte den Anschein, als sei auch der Druck der Auslegung der Abendmahlsworte Christi (KGK 279), deren polemischen Charakter er in seiner Aussage wohlweislich überging, im Zusammenhang mit den ersten beiden Schriften erfolgt, deren Veröffentlichung Oekolampad seiner Darstellung nach genehmigt habe. Tatsächlich hatte Oekolampad zumindest das Manuskript des ersten Teils des Traktats Von dem Missbrauch des Herren Brot und Kelch (KGK 276) begutachtet und dessen Veröffentlichung gestattet. Dass er auch die anderen Teile des Traktats und den Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments (KGK 277) in Augenschein genommen hat, wurde von Bebel freilich nicht explizit behauptet. Auch das Faktum, dass die Drucklegung der Karlstadt-Schriften bei Bebel in zwei zeitlich etwa vier Wochen auseinanderliegenden Vorgängen, nämlich Ende September 1524 unter Einbeziehung Oekolampads und Ende Oktober offenbar unter Übergehung Oekolampads stattfand, verschleierte Bebel in seiner Aussage. Anfang November 1524, als die vorher gedruckten Abendmahlsschriften Karlstadts schon in aller Munde waren, wurde Bebel beim Satz des Dialogus von der Kindertaufe, des letzten Karlstadt-Manuskripts, das noch zu drucken war, die Angelegenheit doch zu brisant. Er schilderte den Hergang der Dinge so, als habe er pflichtschuldig, nachdem ihn der Setzer bereits bei der ersten Seite auf die darin angeblich enthaltene grobe Polemik gegen Luther hinwies,16 die Drucklegung unterbrochen und sogleich – wie vorher bei den Karlstadtschen Abendmahlsschriften etwa einen Monat vorher – erneut Oekolampad zur Prüfung des Manuskripts aufgesucht. Nach Bebels Darstellung beanstandete Oekolampad den Inhalt des Dialogus von der Kindertaufe ebenfalls als »viel zu grob« und forderte, seinen Druck zu unterlassen. Dieser Anweisung sei Bebel gefolgt und habe das Manuskript zusammen mit noch bei ihm befindlichen Exemplare der anderen Karlstadt-Drucke an Felix Mantz zurückgegeben.17
Oekolampad schilderte die Dinge anders. In einem Brief an Zwingli vom 21. November 1524 – also gut zwei Wochen nach dem angeblichen Abbruch der Drucklegung bei Bebel – berichtete er, dass er zwar, wie offenbar auch Zwingli, von KarlstadtsDialogus von der Kindertaufe gehört, das Manuskript aber bisher nicht gelesen habe und er bezweifle, dass es bereits gedruckt sei.18 Überhaupt liegt von Oekolampad kein Zeugnis darüber vor, diesen Karlstadt-Text zu Gesicht bekommen zu haben. Am 21. November 1524 war die Drucklegung des Dialogus von der Kindertaufe – wenn diese überhaupt begonnen wurde – jedenfalls schon seit mindestens zwei Wochen unterbrochen. Dabei blieb es auch: Der Dialogus von der Kindertaufe erschien nicht im Druck. Offenbar versuchte Johann Bebel mit seiner Aussage Anfang Dezember 1524 über die beiden Initiativen zur Drucklegung der Karlstadt-Schriften, Ende September und Ende Oktober, glaubhaft zu machen, dass er dabei selbst nicht eigenmächtig gehandelt und nicht gegen das Verbot des Basler Rates, Polemik zu drucken, verstoßen habe.
Vom Scheitern der Drucklegung seines Dialogus von der Kindertaufe erhielt Karlstadt keine Kenntnis, weil er die Stadt Basel zusammen mit Westerburg schon wieder verlassen hatte. Er ging, wie die auf den 6. November 1524 datierte Rechtfertigungsschrift Ursachen seiner Vertreibung aus Sachsen (KGK 281) zeigt, davon aus, dass auch der Dialogus von der Kindertaufe»unter der pressen« sei, sein Erscheinen also unmittelbar bevorstehe. Darum konnte er bereits auf diese vermeintliche Veröffentlichung hinweisen.19 Offenbar verlief vorher die Drucklegung der anderen von Karlstadt selbst nach Basel mitgebrachten Schrift,20 der Auslegung der Abendmahlsworte Christi (KGK 279), problemlos, denn Karlstadt selbst konnte Exemplare von ihr bereits auf seine Weiterreise nach Straßburg und Heidelberg mitnehmen und weiterverbreiten.21 Der von Karlstadt und Westerburg mit der Begleitung der Drucklegung betraute Felix Mantz bemühte sich, nachdem sich Bebel verweigerte, noch »auf das allerletzt«, Thomas Wolff zum Druck des Dialogus von der Kindertaufe zu bewegen. Freilich lehnte auch dieser das Ansinnen ab – unter Hinweis auf das Zensurregime des Basler Stadtrates. Mantz, der Wolff angeblich drei Tage lang mit seinem Anliegen bedrängte, nahm schließlich das Manuskript sowie beim Drucker übrig gebliebene Exemplare der Karlstadt-Schriften mit sich und reiste nach Zürich zurück.22 Das Manuskript ist seither verschollen.23
Nach Abwägung aller Quellenaussagen ist die Darstellung Johann Bebels, er habe tatsächlich mit dem Druck des Dialogus von der Kindertaufe begonnen, habe dessen Manuskript aber, den obrigkeitlichen Zensurvorgaben pflichtgemäß folgend, nochmals Oekolampad zur Begutachtung vorgelegt und dann auf seine Anweisung hin den Druck abgebrochen, kritisch zu beurteilen. Die Vorgänge sind nicht mehr im Detail zu klären. Karlstadts»schlichter« Dialog »von der Tauff« blieb jedenfalls im November 1524 unveröffentlicht. Gleichwohl herrschte unter den führenden Theologen Straßburgs, Basels und Zürichs Klarheit darüber, dass Karlstadt auch in diesem wesentlichen »Artikel« in kontroverser Weise von Luther abwich.24Karlstadt, Westerburg und die Zürcher Radikalen hatten die Kunde vom Dissens mit Luther bereits verbreitet und auf den Dialogus von der Kindertaufe hingewiesen, mit dessen Erscheinen sie rechneten. Karlstadt wurde offenbar erst allmählich bewusst, dass die Dialogflugschrift nicht im Druck erschienen war. Daher musste er sich später, als er unter Luthers Fürsprache doch wieder in Kursachsen unterkam, auch nicht zu dieser unveröffentlicht gebliebenen Schrift »von der Tauff« erklären.25 Das Manuskript des Dialogus von der Kindertaufe wurde in der Folgezeit im Kreis der Schweizer Brüder aufbewahrt und wohl auch rezipiert.26 Zum Druck gelangte es erst im Laufe des Jahres 1527 als anonyme Flugschrift bei Peter Schöffer d. J. in Worms.27
Die Thematik des Verhältnisses von Glaube und Taufe sowie das besondere Problem der Taufe von Kindern, die eben noch kein Verständnis der sakramentalen Handlung besitzen konnten, wurde bereits im Frühjahr 1522 intensiver diskutiert.28 Die Auseinandersetzung war anscheinend durch das Auftreten der sog. Zwickauer Propheten angestoßen worden.29 Etwa in dieser Zeit hatte sich auch, wie ein undatiertes Schreiben Martin Luthers erkennen lässt, ein nur mit seinem Vornamen Christoph genannter Briefschreiber bei Karlstadt über die »quaestiones« der Gewissheit der Erwählung, der Rechtfertigung, des »fremden Glaubens«, der Taufe der Kleinkinder und des Beharrens der Glaubenden im Heiligen Geist erkundigt.30 Er knüpfte mit seinen Fragen offenbar auch an Gedanken Luthers in dessen Traktat De captivitate babylonica ecclesiae über die Kindertaufe und über den »fremden Glauben« an.31 Von Christophs Anfrage bei Karlstadt erhielt Luther Kenntnis und gab dem Briefschreiber, den er selbst damals anscheinend nicht persönlich kannte – es handelte sich wahrscheinlich um den vormaligen Wittenberger Promovenden Christoph Hoffmann32 – den dringenden Rat, sich vor solchen theologischen Fragen in Acht zu nehmen. Sie rührten, wie Luther erklärte, von den Zwickauer Propheten her, »denen auch Herr Karlstadt wegen seiner Offenheit oder Gutmütigkeit noch nicht entgegengetreten sei«.33 Möglicherweise konnte Karlstadt bei der Abfassung des Dialogus von der Kindertaufe auf Überlegungen zurückgreifen, die er bereits im Zuge der Anfrage von Christoph (Hoffmann) angestellt hatte.
Die Taufe bildete zunächst kein Hauptthema für Karlstadt; gleichwohl lassen sich verstreute Aussagen über sie bis 1519 zurückverfolgen.34 In der Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes (KGK VI, Nr. 239), die im März 1523 erschien, äußerte sich Karlstadt ausführlicher:35 Als Zeichen bewirke oder vermittle die Taufe selbst nichts, sie stelle auch keine Verbindung mit Gott her, vielmehr bekenne der Getaufte mit diesem Zeichen äußerlich seinen Glauben. Diese ganz eigene Auffassung der Taufe, die seinem ebenfalls von Luther abweichendem Verständnis des Abendmahls entsprach, verlangte Konsequenzen für die Taufpraxis. Seit Karlstadt im Sommer 1523 die Aufgaben des Pfarrers in Orlamünde übernahm, machte er seine theologische Kritik an der Taufe unmündiger Kinder wahrscheinlich auch bald in der Gemeinde bekannt.36 Es geht wohl auf seinen Einfluss zurück, dass zumindest manche Eltern ihre Neugeborenen nicht taufen ließen, sondern mit der Taufe warteten, bis die Kinder ein Alter erreichten, in dem sie fähig zur Erinnerung waren.37 Der Nachfolger Karlstadts als Orlamünder Pfarrer berichtete im August 1524, dass in der Gemeinde mehrere Kinder ungetauft geblieben waren.38 Man wird tatsächlich davon ausgehen können, dass Karlstadt recht bald nach Übernahme der pfarramtlichen Aufgaben in Orlamünde die Säuglingstaufe einstellte.39Karlstadt begründete dies theologisch mit seiner Auffassung von einem für die Taufe unabdingbar nötigen persönlichen Glauben als »Erkenntnis« Christi, zu der Kleinkinder noch nicht fähig waren. Eine dafür herangezogene »fides aliena«, der »fremde Glauben« der Paten oder der Kirche, könne dieses entscheidende Defizit nicht beheben. Weitere historische Einzelheiten zu Karlstadts konkreter Praxis sind freilich nicht bekannt, etwa ob Karlstadt es duldete, dass Eltern ihre Kinder außerhalb Orlamündes taufen ließen, wenn sie nicht vom Gedanken des Aufschubs der Taufe überzeugt waren.
Obwohl Karlstadt bereits intensiv mit der Problematik der Kindertaufe beschäftigt gewesen war, erhielt er die Aufforderung dazu, eine eigene Schrift über die Kindertaufe zu verfassen, anscheinend von dem Kreis der Zürcher Radikalen um Konrad Grebel. Diese nahmen nicht nur Anstoß am konservativen Charakter von Luthers Schriften über das Abendmahl, sondern auch an Luthers Taufbüchlein von 1523, das die Schweizer besonders entsetzte.40 Daneben hatte sie Zwinglis Abwarten bei den Reformen, aus Rücksicht auf den politisch abwägenden Zürcher Rat, dazu bewogen, vermutlich Anfang Mai 1524 an Karlstadt heranzutreten und ihn um sein Urteil zu bitten.41 Die Brüder um Konrad Grebel konnten davon ausgehen, dass Karlstadt ebenfalls mit Luthers substantiell-evangelischer, zugleich ostentativ maßvoller Reform der äußeren Gestalt der Liturgien der Messe und der Taufe nicht einverstanden war. Der Brief des ZürcherGrebel-Kreises an Thomas Müntzer vom 5. September 1524 beweist, dass die Brüder von Müntzer und Karlstadt, die sich die Brüder zu ihren eigenen reformatorischen Leitfiguren erkoren hatten, eine grundsätzliche Publikation zur Frage der Kindertaufe erwarteten. In diesem Brief baten sie Müntzer – wie vermutlich bereits vorher Karlstadt –, um eine Schrift, die »gnügsam« alle notwendigen Überlegungen präsentierte, »wie und warum man taufen solle«. Sie wünschten eine Veröffentlichung, die umfassend und theologisch überzeugend wider die Kindertaufe argumentierte.42KarlstadtsDialogus von der Kindertaufe leistete diesem Ansinnen Genüge. Dagegen ist von Müntzer keine solche Schrift über die Taufe überliefert. Die Koinzidenz der Abfassung des Dialogus von der Kindertaufe durch Karlstadt und die Aufforderung an Müntzer, ebenfalls eine entsprechende Schrift zu verfassen, wird jedenfalls kaum zufällig sein, sie lässt sich vielmehr plausibel in den hypothetisch rekonstruierten Rahmen der Korrespondenz einordnen. Schließlich deutet auch die Namensgebung des in der Reformationszeit (außerhalb Zürichs) nicht sehr gebräuchlichen Namens Felix für den einen der beiden Gesprächspartner im Dialogus von der Kindertaufe auf Zürich: Felix ist der populäre Schutzheilige der Stadt.
Die Zürcher Brüder haben ihre Bitte um eine Publikation zur Kindertaufe anscheinend im Juli 1524 an Karlstadt abgesandt, nachdem sie das um den 26. Mai verfasste Briefgutachten – die vermutliche Urfassung der Flugschrift Wider die alte und neue papistische Messe (KGK 275) – auf ihre erste Kontaktaufnahme hin erhalten hatten. Stellt man eine Beförderungsdauer zwischen Zürich und Orlamünde von drei bis vier Wochen in Rechnung, dann traf Karlstadts Antwortbrief gegen Ende Juni 1524 in Zürich ein. Er muss die Brüder um Grebel – so klingt es jedenfalls mehrmals im späteren Brief an Müntzer an, in dem sie von Karlstadt in hoher Wertschätzung schreiben – ihres beiderseitigen theologischen Einverständnisses versichert haben. Gut denkbar ist darum, dass sie bereits im Juli 1524 Karlstadt aufforderten, über die Kindertaufe zu publizieren. Der entsprechende Brief konnte Karlstadt frühestens Ende Juli erreichen. Karlstadt nahm also wohl im Laufe des Monats August 1524 die Abfassung des Dialogus von der Kindertaufe in Angriff,43 wahrscheinlich erst nach dem Jenaer Gespräch am 22. August.44 Konzeptionell, so scheint es, folgte der Dialogus von der Kindertaufe dem vor dem Jenaer Gespräch am 22. August 1524 entstandenen, wesentlich umfangreicheren Dialogus von dem Missbrauch des Sakraments (KGK 277). Dessen Manuskript, mit einem Vorwort ausgestattet, konnte Gerhard Westerburg bereits gegen Ende August 1524 mit auf die Reise nach Zürich nehmen und dann gegen Ende September in Basel zum Druck bringen45 – während Karlstadt am Dialogus von der Kindertaufe wohl bis zu seiner Ausweisung Mitte September 1524 noch schrieb.46
Karlstadt wählte die Gattung der populären Dialogflugschrift, um die breite Öffentlichkeit, auch jenseits der Gebildeten, anzusprechen.47 Das Gespräch zwischen zwei fiktiven Dialogpartnern sollte die theologischen Argumente auch für Laien verständlich präsentieren. Zur ungefähren Datierung des Entstehens des Dialogus von der Kindertaufe im August und September 1524 passt, dass er auf Luthers Sendschreiben An die Ratsherren aller Städte, dass sie christliche Schulen aufrichten sollen (WA 15, 27–53) hinweist.48 Diese Luther-Publikation war wohl im Februar 1524 erschienen.49 Auch weitere Bezüge auf verwendete Literatur deuten auf etwa diesen Terminus post quem hin.50 Der Dialogus von der Kindertaufe wurde etwa Mitte September 1524 beendet, als Karlstadt den Befehl zum Verlassen des Landes Kursachsens erhielt. Das im Titel der Schrift angekündigte Thema des »Glaubens der Kirche« reißt Karlstadt am Ende nur noch an, um dann ausdrücklich auf dessen Behandlung zu verzichten.
Möglicherweise erfuhr der Dialogus von der Kindertaufe beim Druck im Jahr 1527 eine Bearbeitung. Eine ursprünglich vorhandene Vorrede oder Einleitungspassage Karlstadts könnte weggelassen worden sein, weil diese sich konkreter auf die Situation im Jahr 1524 bezog.51 Darin könnte sich auch die beanstandete grobe Polemik gegen Luther befunden haben, die der Druck von 1527 so nicht aufweist.52