Nr. 271
Räte Herzog Johanns von Sachsen an Andreas Karlstadt
Weimar, 1524, 18. September

Einleitung
Bearbeitet von Stefanie Fraedrich-Nowag

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Copien der Raͤthe zů Weymar
in:
Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Vꝛſachen der halben An⸗∥dres Carolſtatt auß den landen ∥ Ʒů Sachſen vertryben. ∥
[Straßburg]: [Johann Prüss d. J.], 1524, fol. A4r–v.
4°, 6 Bl.
Editionsvorlage:
BSB München, Res/4 H.ref. 802,34.
Weitere Exemplare: BSB München, 4 H.ref. 163a. — UB München, 0014/W 4 Theol. 5463(2) 20. — ÖNB Wien, 20.Dd.369. — HAB Wolfenbüttel, A: 231.174 Theol. (1).
Bibliographische Nachweise:

Edition:

Handschriften:

[a:]LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 624, fol. 25r–v (Kanzleikonzept)
[b:]LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 624, fol. 27r–28v (Kanzleikonzept, beschädigt; fol. 28v Dorsalvermerk »Doctor Carolstatt unnd die von orlamunde soll die Pfarr Reuhmen etc. belangen auch das furstenthum«)
Edition:

Die Ausfertigung des vorliegenden Schreibens ist verschollen, als Basis für die Edition dient der Text, den Karlstadt im Rahmen der im November 1524 erschienen Flugschrift Ursachen seiner Vertreibung aus Sachsen (KGK 281) veröffentlichen ließ. Es existieren jedoch zwei handschriftliche Konzepte des Schreibens in unterschiedlichen Bearbeitungsstufen (a und b), die aufgrund ihrer Abweichungen hier als gesonderte Beilagen abgedruckt werden.

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

In Beantwortung seines Schreibens an Herzog Johann vom 11. September 1524 (KGK 270) setzten die herzoglichen Räte Karlstadt mit dem vorliegenden Brief davon in Kenntnis, dass er nicht nur die Pfarrei Orlamünde zu räumen, sondern auch die sächsischen Lande zu verlassen habe. Hierzu verwiesen sie zunächst auf die Nachricht der Universität Wittenberg von Ende August über die Wahl des Rektors der Wittenberger Universität, Kaspar Glatz, zum Nachfolger des ausgeschiedenen Konventors Konrad Glitzsch für die vakante Pfarrstelle in Orlamünde.1 In diesem Zusammenhang hatten sie auch darum gebeten, Karlstadt, der sich gegen ihren Willen in die Pfarrei gedrängt habe, anzuweisen, diese zu räumen und sämtliches Inventar zurückzulassen.2 Dieser Bitte kamen die Räte nun im Auftrag des Herzogs nach und forderten Karlstadt darüber hinaus auf, die sächsischen Lande unverzüglich zu verlassen. Abschließend sicherten sie Karlstadt im Namen Herzog Johanns zu, dass publizistische Angriffe auf Luther ungestraft bleiben würden. Dieser Passus wurde erst im zweiten Konzept (b) eingefügt. Hierbei handelt es sich höchstwahrscheinlich um ein Zugeständnis an die zwischen den beiden Reformatoren bei ihrem Aufeinandertreffen im »Schwarzen Bären« am 22. August 1524 in Jena getroffene Vereinbarung, sich zukünftig nur noch publizistisch auseinanderzusetzen.3 Es ist also durchaus möglich, dass es schon vor dem Jenaer Gespräch am Weimarer Hof Überlegungen zur Ausweisung Karlstadts gegeben hat.

Die Gründe für die Ausweisung aus Sachsen werden weder im vorliegenden noch in späteren Schreiben thematisiert. Auf die Bitte Karlstadts im November 1524, ihm diese nochmals darzulegen,4 wiederholten die herzoglichen Räte in ihrem Antwortschreiben vom 26. November 1524 lediglich die eher inhaltsleere Formulierung des vorliegenden Schreibens (»sachen halben die seine f'urstlich' G'naden' darzů bewegenn«),5 verwiesen aber zugleich auf das »was euch auß befel/ seiner f'urstlich' g'naden' zuvor mundtlich zu weimar furgehalten.«6 Diese Formulierung legt nahe, dass Karlstadt bereits vor dem 18. September 1524 bei einem Treffen am Hof in Weimar ermahnt und über eine drohende Ausweisung informiert wurde. Auch wenn für Karlstadt spätestens seit Juni festgestanden haben dürfte, dass er gezwungen sein würde, seinen Platz als Pfarrer von Orlamünde zu räumen, scheint ihn der Ausweisungsbefehl doch unvorbereitet getroffen zu haben. Die Tatsache, dass er während seiner Zeit in Orlamünde ein Haus in Naschhausen ganz in der Nähe erworben hatte, spricht – ebenso wie seine gegenüber Luther in Jena geäußerte Ankündigung, sich zukünftig »mit dem pflug zuneren«7 – vielmehr dafür, dass er plante, sich dort als Bauer niederzulassen.8

Hintergrund für die Entscheidung der Herzöge dürften zum einen die seit Anfang des Jahres kursierenden Berichte über Karlstadts Wirken in Orlamünde,9 vor allem aber die von Luther vehement vertretene Gleichsetzung Karlstadts mit Müntzer und seiner Bewegung und die damit einhergehende Verknüpfung mit den Ereignissen im Allstedt im Sommer 1524 gewesen sein, die den Anlass von Luthers Predigt- und Visitationsreise ins mittlere Saaletal Ende August 1524 gegeben hatten.10 Die Berichte, die die Herzöge im Anschluss an diese Reise von Luther, aber auch von anderer Seite erreichten,11 mögen die Befürchtungen der Herzöge verstärkt haben, ein Verbleib Karlstadts in Orlamünde und Umgebung könne dauerhaft – wie im Falle Müntzers – zu Unruhen führen.12 Was schließlich den Ausschlag dazu gegeben hat, Karlstadt nicht nur zum Abzug aus Orlamünde aufzufordern, sondern aus Sachsen auszuweisen, ist unklar; noch Ende August hatten Herzog Johann und Friedrich III. – wenn auch in Unkenntnis der Ereignisse im Saaletal – eine Lösung des Konflikts mittels einer Disputation in Betracht gezogen.13

Wie groß der Einfluss Luthers auf die Entscheidung der Herzöge zur Ausweisung Karlstadts gewesen ist, ist unklar. Auch wenn seine Berichte und Schreiben v.a. an Kurprinz Johann Friedrich zweifelsfrei und mit Erfolg versuchten, Karlstadt zu diskreditieren und aktiv seine Abberufung aus Orlamünde zu erreichen, war er in den Entscheidungsprozess selbst wohl nicht einbezogen und ebensowenig über die Ausweisung Karlstadts informiert: Noch am 22. September 1524 bekräftigte er in einem Brief an Herzog Johann – offensichtlich in Unkenntnis der bereits erfolgten Ausweisung – seine Vorwürfe gegen Karlstadt und setzte sich im Namen Kaspar Glatz' für dessen Entfernung aus Orlamünde ein;14 die Vermutung liegt also nahe, dass Luther mit der Ausweisung Karlstadts aus Sachsen nicht gerechnet hatte, auch wenn sie durchaus seine Zustimmung erhielt.15

Wann Karlstadt auf die Anweisung der Räte tatsächlich aus Orlamünde abreiste, ist unklar. Dass er Orlamünde direkt nach Erhalt dieses Schreibens verließ, erscheint eher unwahrscheinlich, da sich der Rat der Stadt am 23. September nochmals mit der Bitte an Herzog Johann wandte, ihrem »Bürger«Karlstadt mit Blick auf seine hochschwangere Frau und den herannahenden Winter den Aufenthalt in Orlamünde zumindest bis zur Ankunft des neuen Pfarrers zu gestatten und ihm – der bereits im Ausräumen begriffen sei – damit auch die Möglichkeit zu geben, zunächst seinen Besitz zu verkaufen.16 Höchstwahrscheinlich verließ er die Stadt am 26. oder 27. September 1524 kurz nach dem Eintreffen der abschlägigen Antwort der herzoglichen Räte auf das Gesuch der Orlamünder,17 die er zusammen mit dem Gesuch des Rates und weiterer Korrespondenz Anfang November in Ursachen seiner Vertreibung aus Sachsen (KGK 281) publik machte.18


1Dieses Schreiben ist verschollen. Überliefert ist lediglich ein entsprechendes Schreiben der Universität an Friedrich III. vom 22. August 1524; vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 624, fol. 31r–v = Hase, Orlamünda, 116 Nr. XXIV. Zur Wahl von Glatz siehe Barge, Karlstadt 2, 134f mit Anm. 101.
2Nach Ausweis des ersten Konzepts (a) sollte Karlstadt ursprünglich sogar verpflichtet werden, Glatz neben dem Pfarrinventar auch bestellte Felder zu hinterlassen oder alternativ einen Ausgleich mit ihm zu vereinbaren, im zweiten Konzept (b) ist dieser Passus gestrichen. Möglicherweise handelt es sich hier um die Reaktion auf dem Abzug Konrad Glitzschs im Mai 1523, der große Teile des Pfarrinventars mitgenommen und die Pfarrei in einem heruntergewirtschafteten Zustand hinterlassen hatte; vgl. KGK VI, Nr. 242. Mit gleichem Datum wiesen die Räte den Schosser von der Leuchtenburg, Damian Luthier, wohl daher an, sich nach Orlamünde zu begeben und den Abzug Karlstadts zu beaufsichtigen; vgl. LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 624, fol. 26r–v; 29v = Hase, Orlamünda, 124 Nr. XXX. Auch diese Weisung enthielt ursprünglich den Passus, Karlstadt habe die Felder noch zu bestellen, wurde aber nachträglich gestrichen.
3Vgl. KGK 267.
4Vgl. KGK 282.
5KGK 271 (Textstelle). Hierbei handelt es sich um eine Standardformulierung, die so auch im Ausweisungsbefehl für Westerburg (vgl. KGK 268 (Textstelle)) zu finden ist.
8Dieses Vorhaben kann als Teil des neuen Selbstverständnisses Karlstadts als »neuer Lai« gesehen werden, das durch die Anrede »Bruder Andres« und die Verwendung bäuerlicher Kleidung auch äußerlich zum Ausdruck kam; vgl. Zorzin, Gelassenheit, 230f. Siehe auch KGK 271 (Anmerkung)
9Hierzu siehe KGK 255.
10Zu dieser Reise und ihrer Vorgeschichte siehe KGK 266, KGK 267 sowie Hasse, Visitationsreise.
11Vgl. bspw. Luther an Herzog Johann Friedrich, Wittenberg, 22. September 1524: »Nu habe ich dazumal, als ich bei Euer F G war, erzählt, auch bei dem Canzler angezeigt, mit welchen Stücken solchs D Carlstadt wohl verdient hätte, daß er ist eingefallen hinter E F G Wissen und Willen, und die pfarr eingenommen, und darzu sich des Mördergeists nicht geäußert, noch wider sie gehandelt, wie er billig sollt, wo ein guter Funken in ihm wäre, daß zu besorgen ist, auch bei seinem Geiste, wo er Raum und Luft hätte, wenigs guts stiften wurde« (WA.B 3, 353,10–17 Nr. 778).
12Sider, Karlstadt, 194 vermutet, dass bereits das zögerliche Verhalten Karlstadts im Zusammenhang mit seinem Verzicht auf sein Archidiakonat (vgl. KGK 265) ihn in den Augen der Herzöge, v.a. aber des Kurprinzen Johann Friedrich in den Verdacht gebracht haben könnte, mit Müntzers»revolutionären Aktivitäten« zu sympathisieren und eine ähnliche Entwicklung in Orlamünde zu forcieren: »Very probably Müntzer's activity, which was rapidly increasing the danger of violent rebellion in the Saale Valley, affected the prince's attitude twords Karlstadt. […] Karlstadt's delay in vacating his pastorate in the Saale may have led the princes to suspect that Karlstadt also favored Müntzer's revolutionary activity.« Diese Befürchtung dürfte sich durch die sich parallel zuspitzende Situation in Allstedt (vgl. KGK 261) und LuthersBrief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist noch verstärkt haben. Joestel, Ostthüringen, 138 sieht hierin überdies einen hellsichtigen Herrschaftsinstinkt des Weimarer Hofes, der erkannte, »daß Lehren und Bestrebungen beider zumindest darin übereinstimmten, kurfürstliche Machtinteressen in Frage zustellen, wobei der Müntzer gemachte Vorwurf des Aufruhrs undifferenziert auf Karlstadt übertragen wurde.«
13Vgl. Einleitung zu KGK 265.
14Vgl. WA.B 3, 353,6–9 Nr. 778. Die Formulierung »[…] er solle zuvor E. F. G. untertäniglich bitten, daß sie wollten verschaffen, Doctor Carlstadt abzuziehen, auch wohl für gut ansehen, daß er allerding des Orts an der Sala [Orlamünde] nicht bliebe umb seines storrigen, unruhigen Kopfs willen.« legt nahe, dass LutherKarlstadts Äußerung in Jena ebenso interpretiert hatte, dass dieser sich fortan in Naschhausen als Bauer niederlassen wollte, worin er weiterhin eine Gefahr des Aufruhrs sah.
15Vgl. Luthers Schrift Wider die himmlischen Propheten: »warumb myr lieb sey, das D'octor' Carlstad aus dem lande ist, und so viel ich mit bitten vermag, nicht widder hyneyn soll und noch heraus mueste, wo er drynne were, er werde denn eyn ander Andres« (WA 18, 86).
18Hierzu siehe die Einleitung zu KGK 281 sowie Barge, Karlstadt 2, 139–141. Vice, Ickelsamer, 78f. und Vice, Kumpf, 155 dagegen geht davon aus, dass Karlstadt sich bereits am 22. September 1524 in Rothenburg aufhielt, was aufgrund der Entfernung (etwa 250 km) jedoch eine Abreise Karlstadts aus Orlamünde bereits vor dem 18. September, also vor dem Eintreffen des schriftlichen Ausweisungsbefehls, voraussetzen würde und daher als unwahrscheinlich anzusehen ist.

Downloads: XML · PDF (Druckausgabe)
image CC BY-SA licence
»