Luther an Spalatin, Wittenberg, 14. März 1524: »Ceterum nos nomine universitatis primo eum ad officium verbi, quod hic Wittemberge debet, vocabimus a loco, quo non est vocatus, tandem principi, si non venerit, accusabimus.«1
Universität und Stiftskapitel Wittenberg an Kurfürst Friedrich III., Wittenberg, 15. Mai 1524: »Das wir Im erst doctorem Andream Carolstadt (ßo nuhe ein ethlich zceit nicht allhye geweßn) n[ac]h vermoge und inhalt unserer statut/ sich Inwendig dreissig tagen/ bei pen [privationis seins] Archidiaconats/ widder anher uff sein Archidiaconat (darauff und nit gen O[rla]munde er geruffen/ seine ampte/ beid in der Universitet und Kirchen)/ do zu er sich bege[[…]] zuvorwaltn/ zufugen/ vormahnet/ mit angehangener citaction/ wo er des seins nit residierens genuesamer ursachen/ dieselb des Ersten tags/ nach bestimpten dreissigsten fur uns furzuwendn/ ader sich dan sehn und hern wie recht zu priviern etc.«2
Literatur:
- Barge, Gemeindechristentum, 248f.
1. Inhaltliche Hinweise
Mit dem Archidiakonat am Allerheiligenstift war sowohl die Predigttätigkeit an der Stiftskirche als auch eine Lehrverpflichtung an der Universität Wittenberg verbunden.3 Beiden Aufgaben war Karlstadt seit seiner Übersiedelung nach Orlamünde im Laufe des Sommers 15234 nicht nachgekommen, sie waren aber auch von Seiten der Universität und des Stiftskapitels nicht eingefordert worden. Dies änderte sich Ende März 1524 durch die hier behandelte, verschollene Zitation, deren Datierung sich aus dem oben zitierten Brief Luthers vom 14. März 1524 als terminus post quem und dem aus der Zitation resultierenden Aufenthalt Karlstadts in Wittenberg Anfang April 15245 als terminus ante quem ergibt. Hierin wurde Karlstadt unter Verweis auf die Statuten des Allerheiligenstifts und der Androhung, ihn andernfalls seines Archidiakonats zu entheben, aufgefordert, innerhalb von dreißig Tagen nach Wittenberg zurückzukehren und seinen Verpflichtungen nachzukommen.6 In diesem Zusammenhang betonten Universität und Stiftskapitel ausdrücklich, dass er nach Wittenberg und nicht auf die Pfarrstelle in Orlamünde berufen worden sei. Diese war dem Archidiakonat zwar inkorporiert, diente aber lediglich als Einnahmequelle für den Archidiakon und wurde üblicherweise durch einen Konventor bzw. vicarius perpetuum versehen.
Die Gründe für den Sinneswandel der Wittenberger sind nicht bekannt, es spricht jedoch einiges dafür, dass er im Zusammenhang mit Karlstadts Reformtätigkeit in Orlamünde und der Wiederaufnahme seiner Publikationstätigkeit zu sehen ist: So erschienen um die Jahreswende 1523/24 nach einer längeren Publikationspause bei Michael Buchfürer7 in Jena insgesamt fünf Karlstadtschriften8, mit denen seine Abgrenzung zur Wittenberger Theologie lutherischer Prägung zunehmend deutlich wurde. Mit dem Druck bei Buchfürer umging Karlstadt die in Wittenberg seit April 1522 geltende Vorzensur, durch die seine Publikationstätigkeit stark eingeschränkt gewesen war.9 Bereits am 14. Januar 1524 versuchte Luther daher beim Weimarer Kanzler Brück mit Verweis auf das von Universität und Kurfürst eingehaltene kaiserliche Zensurmandat darauf hinzuarbeiten, die Schriften Karlstadts auch außerhalb Wittenbergs der Zensur zu unterwerfen.10
Spätestens seit März 1524 mehrten sich zudem Nachrichten über die Reformtätigkeit Karlstadts in Orlamünde, die in Wittenberg als beunruhigend wahrgenommen wurden. Luther sprach im März 1524 in diesem Zusammenhang von »Ungeheuerlichkeiten«.11 Über den Beginn und Verlauf der Reformtätigkeit Karlstadts in Orlamünde ist nichts Näheres bekannt, wahrscheinlich handelte es sich hierbei ähnlich wie bei seiner Übersiedelung ins Saaletal um einen allmählichen Prozess.12 Anhand zumeist indirekter Quellen lässt sich jedoch schließen, dass in Orlamünde unter Karlstadt die Bilder aus der Kirche entfernt wurden,13 das Abendmahl seinen Opfercharakter verlor und – wenn überhaupt – unter beiderlei Gestalt gereicht sowie die Kindertaufe eingestellt wurde.14 Die deutsche Sprache ersetzte das Lateinische in Liturgie und Predigt und Karlstadt tauschte das Messgewand gegen einfache, bäuerliche Kleidung. Darüber hinaus scheint er gemäß seiner Überzeugung, dass auch Laien die Heilige Schrift lesen und verstehen können, die Gemeinde zu Mitsprache in theologischen Fragen angeregt zu haben – sowohl im Gottesdienst als auch im Rahmen von sog. collationes und lectiones,15 was in der Folgezeit im selbstbewussten Auftreten der Orlamünder gegenüber Universität und Stiftskapitel, aber auch den Fürsten und gegenüber Luther zum Ausdruck kam.16
Universität und Stiftskapitel entschieden sich angesichts dieser Berichte wohl auf Betreiben Luthers, Karlstadt nach Wittenberg auf seine Stelle als Archidiakon zurückzuberufen – möglicherweise mit der Intention, ihn dort besser kontrollieren zu können. Diese Option ergab sich aus der Tatsache, dass Karlstadt bei seiner Übersiedlung nicht offiziell auf sein Archidiakonat in Wittenberg verzichtet hatte – dies erfolgte erst mit einem Brief an Friedrich III. vom 8. Juni 1524 (KGK 259).17Karlstadt leistete der Aufforderung von Universität und Stiftskapitel dann auch umgehend Folge und begab sich Anfang April 1524 nach Wittenberg, wo seine Angelegenheit am 4. April vor der Universität verhandelt wurde.18