Nr. 255
Verschollen: Universität und Stiftskapitel Wittenberg an Andreas Karlstadt
Wittenberg, 1524, [Ende März]

Einleitung
Bearbeitet von Stefanie Fraedrich-Nowag

Luther an Spalatin, Wittenberg, 14. März 1524: »Ceterum nos nomine universitatis primo eum ad officium verbi, quod hic Wittemberge debet, vocabimus a loco, quo non est vocatus, tandem principi, si non venerit, accusabimus.«1

Universität und Stiftskapitel Wittenberg an Kurfürst Friedrich III., Wittenberg, 15. Mai 1524: »Das wir Im erst doctorem Andream Carolstadt (ßo nuhe ein ethlich zceit nicht allhye geweßn) n[ac]h vermoge und inhalt unserer statut/ sich Inwendig dreissig tagen/ bei pen [privationis seins] Archidiaconats/ widder anher uff sein Archidiaconat (darauff und nit gen O[rla]munde er geruffen/ seine ampte/ beid in der Universitet und Kirchen)/ do zu er sich bege[[…]] zuvorwaltn/ zufugen/ vormahnet/ mit angehangener citaction/ wo er des seins nit residierens genuesamer ursachen/ dieselb des Ersten tags/ nach bestimpten dreissigsten fur uns furzuwendn/ ader sich dan sehn und hern wie recht zu priviern etc.«2

Literatur:

1. Inhaltliche Hinweise

Mit dem Archidiakonat am Allerheiligenstift war sowohl die Predigttätigkeit an der Stiftskirche als auch eine Lehrverpflichtung an der Universität Wittenberg verbunden.3 Beiden Aufgaben war Karlstadt seit seiner Übersiedelung nach Orlamünde im Laufe des Sommers 15234 nicht nachgekommen, sie waren aber auch von Seiten der Universität und des Stiftskapitels nicht eingefordert worden. Dies änderte sich Ende März 1524 durch die hier behandelte, verschollene Zitation, deren Datierung sich aus dem oben zitierten Brief Luthers vom 14. März 1524 als terminus post quem und dem aus der Zitation resultierenden Aufenthalt Karlstadts in Wittenberg Anfang April 15245 als terminus ante quem ergibt. Hierin wurde Karlstadt unter Verweis auf die Statuten des Allerheiligenstifts und der Androhung, ihn andernfalls seines Archidiakonats zu entheben, aufgefordert, innerhalb von dreißig Tagen nach Wittenberg zurückzukehren und seinen Verpflichtungen nachzukommen.6 In diesem Zusammenhang betonten Universität und Stiftskapitel ausdrücklich, dass er nach Wittenberg und nicht auf die Pfarrstelle in Orlamünde berufen worden sei. Diese war dem Archidiakonat zwar inkorporiert, diente aber lediglich als Einnahmequelle für den Archidiakon und wurde üblicherweise durch einen Konventor bzw. vicarius perpetuum versehen.

Die Gründe für den Sinneswandel der Wittenberger sind nicht bekannt, es spricht jedoch einiges dafür, dass er im Zusammenhang mit Karlstadts Reformtätigkeit in Orlamünde und der Wiederaufnahme seiner Publikationstätigkeit zu sehen ist: So erschienen um die Jahreswende 1523/24 nach einer längeren Publikationspause bei Michael Buchfürer7 in Jena insgesamt fünf Karlstadtschriften8, mit denen seine Abgrenzung zur Wittenberger Theologie lutherischer Prägung zunehmend deutlich wurde. Mit dem Druck bei Buchfürer umging Karlstadt die in Wittenberg seit April 1522 geltende Vorzensur, durch die seine Publikationstätigkeit stark eingeschränkt gewesen war.9 Bereits am 14. Januar 1524 versuchte Luther daher beim Weimarer Kanzler Brück mit Verweis auf das von Universität und Kurfürst eingehaltene kaiserliche Zensurmandat darauf hinzuarbeiten, die Schriften Karlstadts auch außerhalb Wittenbergs der Zensur zu unterwerfen.10

Spätestens seit März 1524 mehrten sich zudem Nachrichten über die Reformtätigkeit Karlstadts in Orlamünde, die in Wittenberg als beunruhigend wahrgenommen wurden. Luther sprach im März 1524 in diesem Zusammenhang von »Ungeheuerlichkeiten«.11 Über den Beginn und Verlauf der Reformtätigkeit Karlstadts in Orlamünde ist nichts Näheres bekannt, wahrscheinlich handelte es sich hierbei ähnlich wie bei seiner Übersiedelung ins Saaletal um einen allmählichen Prozess.12 Anhand zumeist indirekter Quellen lässt sich jedoch schließen, dass in Orlamünde unter Karlstadt die Bilder aus der Kirche entfernt wurden,13 das Abendmahl seinen Opfercharakter verlor und – wenn überhaupt – unter beiderlei Gestalt gereicht sowie die Kindertaufe eingestellt wurde.14 Die deutsche Sprache ersetzte das Lateinische in Liturgie und Predigt und Karlstadt tauschte das Messgewand gegen einfache, bäuerliche Kleidung. Darüber hinaus scheint er gemäß seiner Überzeugung, dass auch Laien die Heilige Schrift lesen und verstehen können, die Gemeinde zu Mitsprache in theologischen Fragen angeregt zu haben – sowohl im Gottesdienst als auch im Rahmen von sog. collationes und lectiones,15 was in der Folgezeit im selbstbewussten Auftreten der Orlamünder gegenüber Universität und Stiftskapitel, aber auch den Fürsten und gegenüber Luther zum Ausdruck kam.16

Universität und Stiftskapitel entschieden sich angesichts dieser Berichte wohl auf Betreiben Luthers, Karlstadt nach Wittenberg auf seine Stelle als Archidiakon zurückzuberufen – möglicherweise mit der Intention, ihn dort besser kontrollieren zu können. Diese Option ergab sich aus der Tatsache, dass Karlstadt bei seiner Übersiedlung nicht offiziell auf sein Archidiakonat in Wittenberg verzichtet hatte – dies erfolgte erst mit einem Brief an Friedrich III. vom 8. Juni 1524 (KGK 259).17Karlstadt leistete der Aufforderung von Universität und Stiftskapitel dann auch umgehend Folge und begab sich Anfang April 1524 nach Wittenberg, wo seine Angelegenheit am 4. April vor der Universität verhandelt wurde.18


1WA.B 3, 254,15–17 Nr. 720.
2LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. N 624, fol. 11r (= Hase, Orlamünda, 92f. Nr. XII).
3Zu den Verpflichtungen des Archidiakons am Allerheiligenstift siehe Bünger/Wentz, Brandenburg, 96f.
4Hierzu siehe KGK VI, Nr. 242 und 243.
5Karlstadt hielt sich ab dem 2. April in Wittenberg auf; vgl. Luther an Spalatin 4. April 1521: »Carlstadius ab unversitate vocatus dicitur Wittembergam Sabbatho ingressus, necdum vidi hominem.« (WA.B 3, 266,20f. Nr. 727). Am 4. April kam es dann zur Verhandlung seiner Angelegenheiten mit Vertretern der Universität; vgl. Melanchthon an Spalatin, 4. April 1524: »Carolostadius adest, hodie de eius causa conveniemus« ( 2, 122f. Nr. 316). Zu diesem Gespräch siehe auch KGK 256.
7Zur Publikationstätigkeit Buchfürers, vgl. Benzing, Buchdrucker, 109; 220 sowie Reske², BuchdruckerReske\textsp{2\spe}, Buchdrucker, 218f. und 433.
8Im Einzelnen handelt es sich um die Schriften Ursachen seines Stillschweigens und von rechter Berufung (KGK VI, Nr. 248), Von dem Priestertum und Opfer Christi (KGK VI, Nr. 249), Was Bann und Acht sei (KGK 250), Ob Gott Ursache sei des teuflischen Falls (KGK 251) und Von dem Sabbat (KGK 252). Vgl. KGK VI, Nr. 248, S. 264 Anm. 3; KGK 250 (Anmerkung) u. KGK 250 (Anmerkung)
10Vgl. Luther an Brück,Wittenberg, 14. Januar 1523: »Ea res etsi nostro ministerio parum, imo nihil nocere possit, principibus tamen et nostrae academiae pariet opprobrium, siquidem et princeps elector simul et academia nostra literis et verbis consenserunt ac promiserunt iuxta edictum Caesareum nihil edendum permittere, nisi per deputatos recognitum et exploratum. Quod cum princeps et nos omnes servemus, non ferendum est, ut solus Carolstadius cum suis sub ditione principum non servet.« (WA.B 3, 233,19–25 Nr. 703). »Faktisch stellte Luther seinen ehemaligen Kollegen damit als Rechtsbrecher und Aufrührer dar, gegen den geordnete Zensurregelungen zu etablieren ein Akt der Staatsräson und der notwendigen Selbstverteidigung des Gemeinwesens sei.« (Kaufmann, Mitte der Reformation, 203). Zu Luthers Stellung zur Bücherzensur in den Jahren 1523/24 siehe Hasse, Bücherzensur, 193–195 sowie KGK VI, Nr. 248.
11Vgl. Luther an Spalatin, Wittenberg, 14 März 1524: »Caeterum dolens legi monstra Carlstadii« (WA.B 3, 254,6f. Nr. 720) sowie an Nikolaus Hausmann, Wittenberg, 1524: »Parum esset, si Carlstadius ingratus esset, nisi etiam atrocius nos persequeretur quam papistae: multa monstra parturit« (WA.B 3, 256,16–18 Nr. 721). Hier auch der Hinweis auf das Gerücht, Nikolaus Storch habe bei Anhängern Karlstadts Unterschlupf gefunden, wodurch Karlstadt ebenfalls in die Nähe der Aufrührer gerückt wurde.
12Die Annahmen über den Beginn der Reformen reichen in der Forschung vom Spätsommer 1523, also dem Zeitpunkt der Übersiedlung Karlstadts (Sider, Karlstadt, 188), über den Dezember 1523, also dem Beginn seiner Publikationsoffensive in Jena (Joestel, Ostthüringen, 87), bis zum April 1524 (Müller, Karlstadt, 166f.). Zu Karlstadts Reformtätigkeit in Orlamünde allgemein siehe Joestel, Ostthüringen, 83–103.
15Vgl. KGK 250 (Textstelle) sowie KGK 256 (Textstelle). Zur Idee der teilhabenden Gemeinde bei Karlstadt siehe auch Kotabe, Laienbild, 252–259.
16Zum selbstbewussten Auftreten der Orlamünder Laien vgl. die Korrespondenz mit Universität, Stiftskapitel und Fürsten (KGK 256 mit Beilage 1 und Beilage 2 und KGK 257 mit Beilage) sowie den Bericht über den Besuch Luthers in Orlamünde (KGK 267).
17Die Frage inwieweit mit der Übersiedelung nach Orlamünde auch der Verzicht auf das Archidiakonat verbunden war, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Unkenntnis dieser Korrespondenz Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzungen; vgl. die Einleitung zu KGK VI, Nr. 242.

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