1. Überlieferung
Frühdrucke:
SVPER COELIBA∥TV MONACHATV ET VIDVI-∥TATE AXIOMATA PER∥PENSA VVITTEM-∥BERGAE. ∥ AND. BO. CAROLOSTADII. ∥ VVITTEMBERGAE ∥ M.D.XXI. ∥ [Am Ende:] Impreſſus vuittembergæ a Nicolao Schirlenco,in ædibus Caro∥loſtadii M.D. XXI. ∥
Wittenberg: Nickel Schirlentz, 1521.
4°, 12 Bl., A4–C4.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: H 67.4° Helmst. (6).Weitere Exemplare: SUB Göttingen, 8° H.E.E. 378/5:2. — HAB Wolfenbüttel, 90.5 Theol. 4° (21). — EAB Paderborn, Th 6117 (17). — SB-PK, Ft 11376.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 59.
- VD 16 B 6126.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1918.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 32A.
DE COELIBATV, MONACHA⸗∥TV, ET VIDVITATE. ∥ D. ANDREA CAROLOSTADIO ∥ AVTORE. ∥ ANNO M. D. XXI. ∥ [TE]
[Basel]: [Andreas Cratander], 1521.
4°, 16 Bl., A4–D4 (fol. d4v leer) --- TE.
Editionsvorlage:
UB Basel, FM1 IX 21.Weitere Exemplare: BSB München, 4 J.can.p. 181. –- ÖNB Wien, 20.Dd.1357 ALT PRUNK. — ThULB Jena, Ki 389.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 60.
- VD 16 B 6123.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1871.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 32B.
SVPER COELIBA∥TV MONACHATV ET VIDVITATE AXIOMATA ∥ PERPENSA VVITTENBERGAE. ∥ AND. BO. CAROLSTADII. ∥ VVITTENBERGAE. M.D.XXI. ∥
[Wien]: [Johann Singriener], 1521.
4°, 18 Bl., A4–E2 (fol. E2v leer).
Editionsvorlage:
ÖNB Wien, Sign. 20.Dd.1095.Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 61.
- VD 16 B 6124.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1916.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 32C.
SVPER COELIBATV ∥ MONACHATV ET VI⸗∥duitate Axiomata per/∥penſa Vuittem/∥bergæ. ∥ AND. BO. CAROLOSTADII. ∥ Recognitus & ab Autore opibus ∥ haud pœnitendis adauctus. ∥ Suſqʒ deqʒ fero riſum, cor meum ∥ dominus vnus ıudicat. ∥ VVITTEMBERGAE ∥ M. D. XXI. ∥ [Am Ende:] VVittembergę ex officina Iohannis Grunenb: Anno M.D. XXI. ∥ [TE]
Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1521.
4°. 18 Bl., A4--C4, D6 (fol. D6v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H:Yv 2333.8° Helmst.Weitere Exemplare: ThULB Jena, 4 Op.theol.V,2. –- ULB Halle, 66 A 4251(3). — ÖNB Wien, Sign. 77.Dd.388.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6125.
- Zorzin, Flugschriftenautor, 32D.
- Köhler, Bibliographie Nr. 1917 (Fiche 125/Nr. 336).
Die erste Ausgabe dieses umfangreichen Kommentars zu den 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181) erschient bei Nickel Schirlentz zwischen Ende Juli und Anfang August 1521. Über diesen Drucker, der seit dem Frühsommer 1521 mit einer eigenen Werkstatt »in aedibus Carlostadii«1 tätig war, ist nicht viel bekannt – ebenso sind seine ersten Kontakte zu Karlstadt noch unklar.2 Es ist jedoch bekannt, dass Schirlentz seine umfangreiche Druckproduktion – allein 1521 wurden 14 Werke, meist von Karlstadt, herausgegeben – mit Super coelibatu begann. In unmittelbarer Abhängigkeit von dieser Erstausgabe stehen kurz danach die Ausgaben aus Basel bei Cratander mit der üblichen Indianerbordüre auf dem Titelblatt3 und aus Wien bei Singriener4. Diese letzte, wahrscheinlich im folgenden Herbst/Winter herausgegebene Neuausgabe5 druckt auf der letzten Seite auch die am 22. Juli 1521 disputierten 12 Conclusiones de oratione et sacramento panis (KGK 187). Eine neue von Karlstadt selbst erweiterte Ausgabe6 erschien später im Jahr 1521 bei Rhau-Grunenberg.7 Im Vergleich zur editio princeps (und ihren Basler und Wiener Auflagen) vertieft diese erweiterte Fassung die vorangegangene Argumentation, indem sie umfangreiche Abschnitte einfügt, die die enge Verbindung zu ebenfalls im Sommer 1521 verfassten Werk Von Gelübden Unterrichtung (KGK 203) aufzeigen. Diese vierte bei Rhau-Grunenberg erschienene Ausgabe, die die vorherigen aufnimmt, bildet die Grundlage unserer Edition.8
Literatur:
- Buckwalter, Priesterehe, 84–92.
2. Entstehung und Inhalt
Im Anschluss an die Disputation der 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181) verfasste Karlstadt zu diesen einen ausführlichen Kommentar mit dem Titel Super coelibatu, monachatu et viduitate. Es ist seine erste umfassende und einheitliche Behandlung des Themas. Der Zusammenhang mit den 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181) – insbesondere mit der ersten These – ist aus dem Titel ersichtlich;9 der Kommentar greift aber auch Motive und Bibelstellen aus den 66 Conclusiones de coelibatu (KGK 189) auf. Diese drei Einheiten, zusammen mit Von Gelübden Unterrichtung (KGK 203), bilden somit miteinander verbundene Momente einer einzigen umfangreichen Argumentation, die sich vollständig in die kollektive Debatte über Klerikerehe und Zölibat in Wittenberg zwischen der zweiten Hälfte des Jahres 1520 und dem Sommer 1521 einfügt.10
Der Widmungsbrief des hier edierten Super coelibatu, datiert auf den 29. Juni 1521 und ist an Bartholomäus Bach aus St. Joachimsthal gerichtet, dem Karlstadt bereits im Jahr zuvor sein De canonicis scripturis (KGK III, Nr. 163) gewidmet hatte.11 Es ist unklar, ob Karlstadt weiterhin Änderungen und Anpassungen in seinem Kommentar Super coelibatu vornahm, nicht nur im Hinblick auf die Frage um Zölibat und Priesterehe (KGK 189 und KGK 203), die in den folgenden Wochen im Mittelpunkt stand, sondern auch in Bezug auf sein praktisches Engagement zur Unterstützung der ersten verheirateten Priester, wie in KGK 185. Vermutlich war die erste Fassung des Kommentars bereits im Juli zur Druckvorbereitung in der neuen Werkstatt von Niklas Schirlentz»in aedibus Carlostadii«12 gegangen, da Melanchthon Ende des Monats an Spalatin ein Exemplar der ersten beiden Bögen schickte.13
Auch Melanchthon hatte sich in jenen Monaten mit ähnlichen Themen wie Karlstadt beschäftigt, die er in dem Abschnitt über die Mönchsgelübde seiner neuen Loci, die zwischen April und Dezember 1521 in Lieferungen erschienen, erörterte.14 Auf Zölibat und Klerikerehe ging er indirekt auch in seiner historisch-philologischen Arbeit an den Editionen des lateinischen Textes des ersten Korintherbriefes15 und des griechischen Textes der Canones qui dicuntur apostolici ein.16Karlstadt durfte jedoch nicht nur Melanchthons Schriften wahrgenommen haben, sondern auch diejenigen Luthers, die bereits im Jahr zuvor die Grundlage für die Wittenberger Diskussion um den Zölibat lieferte: Nicht nur De captivitate Babylonica und vor allem die Adelsschrift, insbesondere deren 14. Artikel, aber auch die von Luther in der zweiten Hälfte des Jahres 1520 herausgegebene Ausgabe der Epistola Hulderichi.17 Dieser dem Bischof Ulrich von Augsburg (893–973) zugeschriebene fiktive Brief war vor dem Hintergrund der Konstanzer Synode von 1075 verfasst worden, auf der sich Bischof Otto I. (?–1086) gegen die Beschlüsse zum Zölibat der kurz zuvor stattgefundenen Fastensynode von 1075 ausgesprochen hatte.18 Diese Fastensynode war von Gregor VII. (1073–1085) einberufen worden und verschärfte die Zölibatsverpflichtung für den gesamten Klerus, in Fortsetzung und Vollendung der von Leo IX. (1049–1054) begonnenen Reformbemühungen. Obwohl Bischof Otto I. abgesetzt wurde, war die Debatte um die Priesterehe in der Diözese Konstanz weiterhin heftig. Zur Verteidigung der gregorianischen Reformen veröffentlichte Bernold von Konstanz (um 1050–1100)19 sein De Prohibenda sacerdotum incontinentia20 und griff das Thema auch in seinem späteren Apologeticus super excommunicationem Gregorii VII 21 auf. Der Pseudo-Brief des Ulrich von Augsburg vertrat dagegen die Gegenpartei, die den Äußerungen Ottos I. näher stand und offen gegen die Verpflichtung zum Zölibat war.
In der Epistola Hulderichi finden sich alle Argumente – z. B. die Kritik am Papsttum, dem die Erfindung des Zölibats vorgeworfen wird; die Institution der Klerikerehe in der heiligen Schrift; die Keuschheit als besondere göttliche Gabe; die Notwendigkeit, zu heiraten um nicht zu »brennen« – und die wichtigsten Bibelstellen – aus 1. Kor 7,1 oder 1. Tim 3 f. oder Mt 19--, welche die Wittenberger Debatte um das Zölibat und auch die Schriften Karlstadts prägen sollten.22 Die gemeinsamen Themen und biblischen Bezüge lassen jedoch weniger eine enge Abhängigkeit von den Quellen vermuten, als vielmehr eine kollektive Debatte in Wittenberg im Austausch mit Luther auf der Wartburg. Die historischen Quellen dienten dazu, Motive und Quellen für die theologische Argumentation zu sammeln.
Nachdem er wahrscheinlich am 1. August eine Kopie der 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181) erhalten hatte,23 berichtete LutherMelanchthon am 3. August von der Wartburg, er habe soeben die ersten zwei Bögen von Super coelibatu gelesen.24 Obwohl er Karlstadts»conatum et diligentiam« würdigte, kritisierte Luther seine Schriftauslegung. Insbesondere die Interpretation von 3. Mose 18 u. 2125 und 1. Tim 526 hielt der Reformator für unklar und unangemessen, sowohl um die Gegner zu widerlegen als auch um das Gewissen derer zu beruhigen, die das Zölibatsgelübde brechen und heiraten wollten.27 Vor allem verwarf LutherKarlstadts Absicht, alle – sowohl die priesterlichen als auch die mönchischen – Gelübde für nichtig zu erklären.28 Dieser Brief zeigt, wie Luther seine Ansicht zum Thema Zölibat und Mönchsgelübde – zu dem er sich bereits in seiner Adelsschrift allgemein geäußert hatte – gerade in jenen Monaten und nicht zuletzt durch die Konfrontation und den Austausch mit Karlstadt und Melanchthon entwickelte,29 bis er Ende 1521 in De votis seine umfassende theologische Abhandlung des Themas erarbeitete.30
In Sommer/Herbst 1521 hatten die von seinen Wittenberger Kollegen angestoßenen Debatten jedoch breites Echo gefunden, in31 und über Wittenberg hinaus – wie auch die Nachdrucke von Super coelibatu andeuten. Karlstadt selbst arbeitete und veröffentlichte in jenen Monaten weiter über das Thema. Das zeigt sich nicht nur in seinen eigenen Veröffentlichungen (KGK 189, KGK 203) oder in mehr oder weniger enger Zusammenarbeit mit anderen Wittenberger Kollegen, allen voran Melanchthon (KGK 185 und KGK 211 und Beschützrede für Bernhardi in KGK V), sondern auch in der Umformulierung und erheblichen Erweiterung des hier edierten Kommentars. Der dritte Nachdruck von Super coelibatu, der in Wittenberg bei Rhau-Grunenberg erschien, zeigt nämlich eine tiefgreifende Bearbeitung der Erstausgabe und bettet die Diskussion um Zölibat und Gelübde in den breiteren theologischen Kontext vom Verhältnis zwischen menschlichem und göttlichem Recht ein.32 In neuen Abschnitten, die jeweils einen eigenen Zwischentitel tragen, sind spezifische, zusammenhängende Themen erörtert, um das Wesen des Glaubens und das Verhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Gebot (d. h. der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten) neu zu formulieren. Unklar ist, wann diese Ausgabe bei Rhau-Grunenberg gedruckt wurde; das Titelblatt trägt jedenfalls die Jahresangabe von 1521. Es ist jedoch anzunehmen, dass das Buch im Sommer und Herbst 1521 neu bearbeitet und gegen Ende des Jahres veröffentlicht wurde. Der enge thematische Zusammenhang zwischen dem hier edierten Super coelibatu und dem Traktat Von Gelübden Unterrichtung (KGK 203), das einen auf Juni datierten Widmungsbrief trägt, aber erst im Herbst 1521 erschienen ist,33 lässt ihre parallele Überarbeitung in der zweiten Jahreshälfte vermuten. Die vorliegende Edition basiert auf der letzten erweiterten Ausgabe von Super coelibatu, da diese es erlaubt, die von Karlstadt vorgenommenen Änderungen gegenüber der editio princeps und den späteren Basler und Wiener Ausgaben herauszustellen.
Der Widmungsbrief an Bartholomeus Bach bleibt in allen Ausgaben im Wesentlichen unverändert. Der Zölibat wird als die Quelle unzähliger Übel und Missbräuche beschrieben, als eine Erfindung des römischen Papsttums, das ihn seit Calixt II. (1119–1124) nur zur Erpressung und aus Gier nach Geld eingesetzt hat.34 Für diejenigen, die keine besondere Gabe von Gott erhalten haben, ist es unmöglich, das Zölibatsgelübde einzuhalten. Der Papst war aber bereit, den unkeuschen Klerus im Austausch für Geldzahlungen zu dispensieren. So blieben die Mönche und Priester zwar äußerlich dem Zölibat treu, lebten aber in Sünde und unheilbarer Konkupiszenz.35 Noch gravierender als das Konkubinat und die Hurerei war für Karlstadt allerdings die heimliche Selbstbefriedigung der Kleriker. Nach 3. Mose 20,2–5, wo Gott eine schreckliche Strafe für diejenigen ankündigt, die »von seinem Samen dem Moloch geben«, hätte diese Sünde in Karlstadts Augen die Todesstrafe verdient.36 Dieses Opfer an den Moloch, an eine fremde Gottheit, widersprach in der Tat dem ersten und obersten Gebot: Gott über alles zu lieben. Die Mönche oder die Nonnen machten sich doppelt schuldig, wenn sie zur Entschuldigung ihrer Sünden einwandten, sie wollten die von ihren Orden auferlegten Gelübde einhalten: sie zeigten damit, wie sie ihre Schutzpatrone (z. B. den heiligen Franziskus oder die heilige Clara) mehr als Gott ehren. Als wäre das nicht genug, schreibt Karlstadt an Bach, es würde dem Zölibatsgelübde ein kirchenrechtlicher Apparat von Normen, Vorschriften und Dekreten hinzugefügt, der der Schrift widerspricht.37 Der Widmungsbrief schließt daher mit einer letzten harten Anklage gegen den Papst, den Urheber einer solcher Irrlehre, der sich mehr für Geld als für das Heil der Seelen interessiere.
Es folgt der eigentliche Kommentar zu den 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181). In der ersten These wurde der Rat des Apostels Paulus (1. Tim 5,11), keine jungen Frauen (d. h. unter sechzig Jahre) in die Liste der Witwen einzutragen, per similitudinem auf die Vorschrift angewendet, der Zölibat jungen Mönchen und Presbytern nicht zu erlauben. Karlstadt thematisiert unmittelbar danach den (scheinbaren) Widerspruch zwischen dieser paulinischen Aussage und einer Stelle aus 4. Mose 30 (worauf Von Gelübden Unterrichtung (KGK 203) noch ausführlicher eingeht)38 und zeigt, dass der Apostel und Mose völlig übereinstimmen und vor dem 60. Geburtstag abgelegte Zölibatsgelübde ablehnen.39 Außerdem führt er im Zuge dessen in seine hermeneutische Methode zur Auslegung der Schrift ein. Es gehört zum göttlichen Gesetz, unterschiedliche und sogar scheinbar unvereinbare Bibelstellen aufgrund struktureller und inhaltlicher Ähnlichkeiten in Beziehung zu setzen. Aufgrund des Prinzips »a similitudine« können sich Textpassagen aus dem Alten und Neuen Testament und Aussagen von Paulus oder Mose gegenseitig erhellen und damit ihren tieferen Sinn innerhalb der Schrift (die als in sich kohärentes ius divinum zu verstehen ist) offenbaren.40
Karlstadt wiederholt damit seine Hauptthesen und untermauert sie mit verschiedenen alttestamentlichen Bibelstellen. Männer unter 60 Jahre sollen nicht zum Zölibat zugelassen werden, sondern sich dem Eheleben widmen, außerdem so wie Väter und Ehemänner die Gelübde von Töchtern und Ehefrauen auflösen können (mit Bezug auf 4. Mose 30, ausführlich kommentiert auch in Von Gelübden UnterrichtungKGK 203)41. Auch Bischöfe und Päpste können und müssen die ungültigen Zölibatsgelübde von Priestern und Mönchen auflösen.
Es folgen die meisten der in der Rhau-Grunenberg-Ausgabe hinzugekommenen Ergänzungen. Die erste erweitert den Text der Erstausgabe, indem sie Hannas Verzweiflung über ihre Unfruchtbarkeit (1. Sam 1) mit der Freude der Nonnen über ihre Kinderlosigkeit gegenüberstellt.42 Ihnen wie den Mönchen wirft Karlstadt vor, dass sie Götzendiener seien, da sie mehr den menschlichen Gesetzen folgten und ihre Ordensstifter ehrten als dem göttlichen Gesetz dienten, das den Zölibat offen verbiete. Die biblische Aufforderung »Seid fruchtbar und mehret euch« (1. Mose 1,22) ist der päpstlichen Zölibatslehre entgegengesetzt, um noch einmal deren Grundlosigkeit zu zeigen. Es folgt eine weitere, umfangreiche, in einzelne Absätze gegliederte Ergänzung, die in den anderen Ausgaben fehlt. Grundlegende Themen werden festgelegt: der Gegensatz zwischen äußeren Werken, die aus Heuchelei entstehen, und inneren Werken, die aus wahrem Glauben erwachsen; die Relativierung der Bedeutung aller Traditionen und Sakramente, sodass selbst die gerechten und lobenswerten dem Hören und der Verkündigung des göttlichen Wortes untergeordnet werden müssen.43 Wenn dieses Prinzip der Unterordnung für Werke und Traditionen gilt, die von der Schrift bestätigt werden, wie die den Eltern gebührende Ehre,44 die Nächstenliebe45 und sogar die Taufe,46 dann seien diejenigen, die von der Schrift widerlegten Vorschriften und Traditionen folgen, allen voran die Mönchsgelübde zu verurteilen. Karlstadt schließt die Ergänzungen in der Rhau-Grunenberg-Ausgabe mit einem neuen Angriff gegen Mönche und Nonnen ab. All ihre Riten, ihre äußeren Werke, ihre Gesetze, ihre Gebete (von denen sie sich nur um die Quantität, nicht um die Qualität kümmerten) seien nutzlos, weil sie ohne Glauben sind, und gefährlich, weil sie das Wachsen und die Stärkung des Glaubens verhindern. Anknüpfend an die vorangegangenen Thesen vom Mai 1521 (KGK 179 und KGK 180) kritisiert Karlstadt daher jene Riten und äußeren Opfergaben, die aus Gewohnheit oder passivem Gehorsam gegenüber menschlichen Traditionen vollzogen werden. Er stellt ihnen einen lebendigen inneren Glauben gegenüber, der auf den Nächsten und seine Erbauung achtet und in dem die Nächstenliebe eine unmittelbare Folge der Liebe zu Gott und des Hörens auf das Wort sei.
Nach diesem längeren Einschub knüpft die vierte erweiterte Ausgabe an die früheren an und setzt die Kritik an weiblichen und männlichen Mönchsorden fort, immer vor dem Hintergrund eines klaren Gegensatzes zwischen äußeren und inneren Tempeln. Karlstadt verwendet damals übliche Argumente gegen den Zölibat, die schon Luther ausführlich dargelegt hatte.47 Keuschheit sei eine besondere Gabe Gottes, weshalb nur die von dieser Gabe gesegneten Menschen im Zölibat leben können. Die Schrift – und besonders Paulus im ersten Timotheusbrief – bezeuge, dass Bischöfe ursprünglich verheiratet waren. Deshalb ist das von den Päpsten auferlegte Zölibatsgelübde für Karlstadt eine Lehre von Dämonen und Betrügern. Der umfangreiche Kommentar zur ersten der sieben Thesen zum Zölibat endet mit einer abschließenden Festlegung der – in Karlstadts Augen biblischen – Regel, die vor dem 60. Lebensjahr abgelegten Gelübde für ungültig oder jederzeit auflösbar erklärt. Unter Bezug auf jene Dekrete des kanonischen Rechts, die Knaben unter 14 Jahren und Mädchen unter 12 Jahren die Ablegung eines Keuschheitsgelübdes verbieten, weil sie sich der Kräfte der concupiscentia noch nicht bewusst seien, erweitert Karlstadt diese Vorschrift auf Erwachsene, die diese Begierde nicht nur kennen, sondern unter deren Auswirkungen auch leiden.48 Dieses Prinzip ist auch in KGK 203 ausführlich erörtert, um die Auflösbarkeit ungültiger Gelübde zu begründen.
Karlstadt gibt mit Paulus (1. Kor 7) zu, dass die Verheirateten sich mehr um die Familienangelegenheiten als um Gott kümmerten, was aber immer ein geringeres Übel sei, als zu »brennen«. Die Argumentation aus den in der vierten Ausgabe hinzugefügten Absätzen aufgreifend, nehmen die von Gott den Menschen vorgegebenen Aufgaben einen verhältnismäßigen Wert an. Das an sich Gute wird dem Besten vorangestellt, nicht in einem absoluten Sinn, sondern im Verhältnis zu den gegebenen Fähigkeiten der Gläubigen: Die Ehe wird deshalb der vollkommenen Reinheit vorangestellt, wenn man nicht die Gabe der Keuschheit erhalten hat und deshalb im Zölibat sündigen könnte.
Der anschließende Kommentar zu den übrigen conclusiones ist wesentlich kürzer als zu der ersten These und bleibt in allen vier Ausgaben unverändert.49 Hierarchische Unterscheidungen zwischen Bischöfen und Priestern sowie zwischen Mönchen und Weltklerus werden abgelehnt. Die Gefahren des Keuschheitsgelübdes gelten für alle Kleriker: Wer nicht in der Lage ist, durch göttliche Gnade lebenslang keusch zu leben, muss heiraten, um allerlei aus der concupiscentia entspringende Übel zu vermeiden. Der Kommentar zur vierten These knüpft nochmals an die Abstufung der von Gott geforderten Werke an. Sicherlich sei es nicht gut, ein früher abgelegtes Gelübde zu brechen, aber es sei noch schlimmer, in Unzucht zu leben. Dieses Prinzip wird im Kommentar zur fünften These neu formuliert, wobei die aus der Ehe hervorgehenden Gaben, insbesondere die Zeugung von Kindern, betont werden.
Unmittelbar vor dem sehr knappen Kommentar zu den letzten beiden Thesen, die im Wesentlichen nur nochmals formuliert wurde, als müsse das Werk rasch geschlossen werden, fügte Karlstadt eine Assertio ein. Darin wendet er sich an einen allgemeinen Freund – das mag wieder Bartholomeus Bach sein, oder auch jeder Leser – und bittet ihn, sich von dem Inhalt des Buches nicht irritieren zu lassen, da, wie es sich für einen wahren Theologen gehört, Karlstadt alles auf der Grundlage der göttlichen Schrift geschrieben habe. Deshalb kündigte er an, er wolle nicht nachlassen, diejenigen, die »brennen«, aufzufordern, ihr Keuschheitsgelübde aufzulösen und zu heiraten. Mit der Eheschließung der ersten Priester – Seidler, Bernhardi, Zeiger50-- hatte sich die theologische Diskussion in der Tat zunehmend zu einer politischen und juristischen Auseinandersetzung ausgeweitet. Diese wachsende Spannung ist auch in Super coelibatu zu erkennen. In der vierten erweiterten Auflage fügt Karlstadt zum Schluss eine kurze Drohung hinzu: Er werde diejenigen, die verheiratete Priester verfolgen, beim Namen nennen, wenn sie ihre Haltung nicht änderten.51 Genau dies wird er zwischen Sommer und Herbst 1521 in neuen Schriften (KGK 185, KGK 193, KGK 194, KGK 211 und Beschützrede für Bernhardi in KGK V) tun.