1. Überlieferung
Frühdrucke:
DE CANONICIS SCRIPTVRIS LIBEL/‖lus D. ANDREAE Bodenſtein Carol/‖ſtadii Sacrę Thologię Doctoris,& ‖ Archidiaconi VVitten/‖bergenſis. ‖ VVITTENBERGAE APVD IOANNEM VIRI=‖DI MONTANUM. ANNO DOMINI ‖ M. D. X X. ‖
Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg, 1520.
4°, 50 Bl., A4–M4, N2.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 2337.8° Helmst. (1), Digitalisat.Weitere Exemplare: BSB München, 4 Exeg. 156, Digitalisat — SUB Göttingen, 8 TH BIB 262/55.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 34 (Druckvariante).
- Köhler, Bibliographie, Nr. 3592.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 22A.
- VD 16 B 6121.
DE CANONICIS SCRIPTVRIS LIBEL/‖lus D. ANDREAE Bodenſtein Carol/‖ſtadii Sacrę Theologię Doctoris,& ‖ Archidiaconi VVitten/‖bergenſis. ‖ VVITTENBERGAE APVD IOANNEM VIRI=‖DI MONTANVM. ANNO DOMINI ‖ M. D. X X. ‖
Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg, 1520.
4°, 50 Bl., A4–M4, N2.
Editionsvorlage:
SB Berlin, Bf 3300, Digitalisat.Weitere Exemplare: SB Regensburg, 999/4Theol.syst.540(2). — Bodleian Library Oxford, Vet. D1e. 52 (2) (mit autographem Schenkungseintrag Karlstadts für Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden) — UB Würzburg, Th. Dp. Q. 441 (mit autographer Widmung Karlstadts für Karl Roß)
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 34.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 3592.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 22A.
- VD 16 B 6122.
DE CANONICIS ‣ ‖ ſcripturis libellus D.ANDREAE Boden⸗‖ſtein Carolſtadij Sacræ Theologiæ ‖ Dooris,& Archidiaconi ‖ VVittenbergēſis. ‖ VVITTENBERGAE. ‖
[Wien]: [Johann Singriener], [1521].
4°, 46 Bl., A4–K4, L6.
Editionsvorlage:
ÖNB Wien, 20.Dd.1153, Digitalisat.Weitere Exemplare: UB München, 4° Theol. 5464.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 35.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 22B.
- VD 16 B 6120.
Die Schrift erschien zweimal bei Johannes Rhau-Grunenberg in Wittenberg. In der zweiten Ausgabe werden beinahe alle Druckfehler der ersten übernommen, korrigiert werden nur »Thologiae« in »Theologiae« auf der Titelseite sowie wenige einzelne Buchstaben, vor allem auf den ersten Bögen.1 Beide Grunenberg-Ausgaben bieten am Ende des Textes ein Korrekturverzeichnis. Drei darin gelistete Fehler sind in den von uns berücksichtigten Exemplaren nicht nachweisbar.2 Die nahezu vollständige Übereinstimmung von Text- und Satzgestalt der ersten zwei Ausgaben deutet auf eine schnelle, im Sommer 1520 kurz aufeinanderfolgende Drucklegung hin, sodass B für die Pressvariante von A gehalten werden kann.
Ein Jahr später druckte Johann Singriener3 das Werk in Wien mit angepasstem Titelblatt4 und kleinen Abweichungen nach. Diese dritte Ausgabe setzt die im Korrekturverzeichnis der Grunenberg-Exemplare enthaltenen Verbesserungen um,5 weist aber einige neue Druckfehler auf.6 Die Wittenberger verfügten in jener Zeit über eine direkte Beziehung zu dem Wiener Drucker, der zwischen 1518 und 1522 mehrere Schriften Melanchthons und Luthers herausgab.7 Mit De canonicis scripturis libellus begann Singriener auch eine Reihe von Nachdrucken der Schriften Karlstadts in den Jahren 1520–1521 herauszugeben.8
Edition:
Literatur:
- Barge, Karlstadt 1, 186–200.
- Karlstadt, De canonicis scripturis (Credner), 291‒315.
- Bubenheimer, Consonantia, 165‒167.
- Keßler, Andreas Bodenstein.
2. Inhalt und Entstehung
In seiner Schrift De canonicis scripturis befasst sich Karlstadt mit Fragen der Schriftautorität und Schrifthermeneutik, die er seit 1517 thematisiert und vermutlich schon 1516 in einer Disputation in Rom behandelt hatte.9 Nach Wiederentdeckung der Gnadentheologie Augustins,10 hatte Karlstadt in den Apologeticae Conclusiones die Überlegenheit der Schriftautorität über Konzil und Papst bereits ausgearbeitet und in These 12 ausdrücklich vertreten: Der Text der Bibel hat nicht nur vor den Aussagen von Doktoren der Theologie Vorrang, sondern auch vor der Autorität der gesamten Kirche.11 So deutlich und prägnant das Prinzip formuliert wurde, blieb jedoch die Frage nach dem Wesen der Heiligen Schrift und deren Autorität weiterhin offen, wie es Karlstadt im Sommer/Herbst 1519 während der Leipziger Disputation und des daraus entstandenen Schriftenkrieges zwischen den Wittenbergern und Eck dramatisch wahrgenommen hatte. Beide Streitparteien beanspruchten den Sieg für sich, der die richtige Auslegung der Schrift voraussetzte. Dabei rekurrierten sie wechselseitig sowohl auf die Bibel als auch auf patristische und – vor allem im Fall Ecks – scholastische Autoritäten.12 Im Gefolge der Leipziger Disputation ging der römische Prozeß gegen Luther in die letzte, entscheidende Phase,13 was wiederum Karlstadts Auseinandersetzung mit Eck über den päpstlichen Primat und dessen Autorität zwischen Ende 1519 und Frühjahr 1520 verschärfte.14
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Absicht Karlstadts erklären, bereits im Winter 1519 die Frage nach den kanonischen Schriften und demzufolge nach dem göttlichen Recht15 systematisch zu erörtern, wie er es schon in der Epistola (KGK II, Nr. 140) andeutete.16 In jenen Monaten arbeitete er intensiv an den stark polemischen Schriften gegen den Ingolstädter im Nachgang der Leipziger Disputation,17 möglicherweise aber auch an anderen Werken. Am 22. Dezember suchte er Spalatins Beratung, da er unsicher war, ob er eine Schrift »de scripturis Canonicis« dem Lübecker Bischof widmen sollte.18Es ist nicht klar, ob der hier edierte Druck zu diesem Zeitpunkt bereits als erster Entwurf vorlag oder in Planung war;19 ähnlich fraglich bleibt, ob die Umwidmung vom Lübecker Bischof20 zu Wolfgang Kuch21 eine Folge der Beratung Spalatins war. Es ist jedoch naheliegend, dass sich Karlstadt in jener Zeit gezielt mit dem Kanon beschäftigte. Dies entsprach seinem in demselben Brief ausgedrückten Wunsch, Eck Anlass zur Beschäftigung mit der Heiligen Schrift zu geben.22
Tatsächlich thematisieren Verba Dei und Confutatio23 Anfang 1520 das Wesen und die Autorität der Heiligen Schrift, die allen Menschen – egal ob Theologen oder Laien – gepredigt werden und als einzige Quelle des Wortes Gottes zur Lesung und Erforschung offen stehen müsse.24 Die schriftzentrierte Argumentation Karlstadts zielte in diesen Abhandlungen aber primär darauf, Eck als Gegner der Heiligen Schrift zu demontieren,25 weniger auf eine systematische Behandlung der Fragestellungen. Letztere sollte im Frühling/Sommer 1520 in einem neuen Traktat – dem hier edierten De canonicis scripturis – Gestalt annehmen.
Nach der radikal polemischen Phase gegen Eck und vor dem Hintergrund der Lehrverurteilungen durch die theologischen Fakultäten in Köln (August 1519) und Löwen (November/Dezember 1519)26 sowie der im Juni 1520 in Rom ausgefertigten Bannandrohungsbulle27 konzipierten die Wittenberger als Gegenreaktion eine breitere theologische und kirchenpolitische Alternative. Die Auslegung der Schrift wurde der Prärogative des Papstes und der (altgläubigen) Theologen entzogen, und allgemein dem christlichen Volk eröffnet. Dafür plädierte Luther in der Adelsschrift (Juli 1520) und polemischer in De captivitate Babylonica (Oktober 1520);28 gleichzeitig widmete er sich der pädagogischen, katechetischen Arbeit und erklärte mit der Kurzen Unterweisung (1519) den Laien, wie man sich der Heiligen Schrift nähern und beten sollte.29
Ähnlich legte Karlstadt in jenem Frühling/Sommer 1520 in dem hier edierten Traktat seine Position in Bezug auf die Schriftautorität fest. Er verfolgte jedoch nicht nur eine polemische, sondern auch eine pädagogische Zielsetzung. Wenn die Auslegung der Heiligen Schrift auch dem einfachen christlichen Volk ermöglicht werden soll, wie in Verba Dei deklariert, welche verbindliche Grundlage und exegetische Methoden müssen ihm zur Verfügung gestellt werden? De canonicis scripturis – und noch ausgeprägten die im Herbst erschienene deutsche Fassung Welche Bücher biblisch (KGK 171) – antwortet auf diese Frage und definiert durch den biblischen Kanon das verbindliche Fundament zum Verständnis der göttlichen Wahrheit sowie des göttlichen Rechts. Des Weiteren erläuterte Karlstadt in seinem Traktat die damit verbundenen methodologischen Voraussetzungen, um allen Christen eine sichere Auslegung der Bibel zu ermöglichen.
Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass ein erster Entwurf von De canonicis scripturis schon im Dezember 1519 begonnen worden war,30 arbeitete Karlstadt trotz seiner schwachen Gesundheit31 bis zum Sommer 1520 an diesem Traktat weiter. Die Passagen über die Kanonizität des Jakobusbriefes32, auch mit Verweis auf seine – im Mai noch laufende und von zahlreichen Studenten besuchte – Vorlesung über diese epistola,33 deuten darauf hin, dass sich Karlstadt in jenen Monaten bezüglich des Austauschs und der Spannungen nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Wittenbergs, vor allem mit Luther, positionieren wollte. Höchstwahrscheinlich im Juli erfolgte außerdem eine Reise nach Annaberg und Joachimsthal,34 wo Karlstadt neue Kontakte knüpfte und bereits bestehende vertiefte. Einer von ihnen war Wolfgang Kuch,35 an den Karlstadt seinen am 18. August datierten Widmungsbrief richtete. In diesem erwähnt er eine bedeutende Anzahl von Joachimsthaler Gastgebern und bedankt sich für ihren freundlichen und großzügigen Empfang während seiner Reise, was gegebenenfalls auf einen schon ausgebildeten engen Kontaktkreis in der Bergbaustadt hindeutet.36 Wahrscheinlich wurde der Traktat in den folgenden Wochen zweimal bei Johannes Rhau-Grunenberg in Wittenberg und ein Jahr später nochmals in Wien gedruckt.37
Nicht nur auf Grund der persönlichen Verbindung hat Karlstadt seine Schrift dem jungen Prediger Kuch statt dem weitaus bedeutenderen Bischof von Lübeck gewidmet,38 sondern auch die sich intensivierenden Beziehungen zwischen Wittenberg und dem Erzgebirge und deren bald wachsende strategische Bedeutung mögen eine Rolle gespielt haben. Studenten aus Joachimsthal und Annaberg ließen sich in Wittenberg zwischen Sommer 1519 und Herbst 1520 immatrikulieren,39 u. a. Graf Christoph Schlick, der im Wintersemester 1520/1521 als Rektor fungierte.40Die Wittenberger orientierten sich in dieser Zeit mit wachsendem Interesse an dem neu begründeten, jedoch schon zur freien Bergstadt erhobenen Joachimsthal,41 wo ab Frühling 1521 der damals noch von Luther begeisterte Johannes Sylvius Egranus als Prediger tätig wurde.42 Die dort herrschende Familie Schlick führte in den nachfolgenden Jahren die Reformation in der Region ein.43 Ebenso mag Karlstadt dort vielsprechende Perspektiven gesehen haben,44 wie seine Vorreden zwischen Sommer 1520 und 1522 vermuten lassen.45
Obwohl kaum Hinweise auf eine zeitgenössische Rezeption überliefert sind, gilt De Canonicis scripturis als erstes systematisch-reformatorisches Traktat zum biblischen Kanon und bringt Karlstadts verschiedene polemische Fronten ans Licht. Zu Beginn des Buches kündigt der Autor fünf Diskussionspunkte an. Die ersten beiden legen die allgemeinen theologischen und kirchenpolitischen Voraussetzungen für die anschließende Aufteilung des biblischen Kanons und seine unterschiedliche Interpretation bei Augustinus und Hieronymus fest.
Mit Bezug auf Augustinus definiert Karlstadt zunächst das göttliche Wesen der Schrift: Sie ist ein von Gott gegebenes Orakel und ihre bewusste Verzerrung stellt eine Gotteslästerung dar, wie sie – Karlstadt zufolge – bei Eck in der Leipziger Disputation und dem ihr nachfolgenden Schriftenkrieg zu beobachten war. Die göttliche Natur der Schrift drückt sich aber auch in ihrer unbestreitbaren Autorität und Majestät aus. Diese Königin, Herrin und Richterin46 ist jedem – auch der einfachsten Bevölkerung – zugänglich; ihr kann nicht widersprochen werden. Auf der Grundlage dieser ewigen, göttlichen Norm – die durch den Schriftkanon überliefert ist – kann jeder sogar über die päpstlichen Dekrete richten, die für menschliche, also vergängliche und fehlbare Meinungen gehalten sind. Damit erstellt Karlstadt die Voraussetzung des in jenen Monaten von Luther formulierten Priestertums aller Getauften:47 Jeder Christ kann die Heilige Schrift lesen, deren Wahrheit begreifen und auf dieser Grundlage über alle bischöflichen und sogar päpstlichen Bestimmungen urteilen.48
Nachdem dieses allgemeine Prinzip der vollkommenen Überlegenheit der Bibel ausgearbeitet wurde, geht Karlstadt konkret auf die Folgen seiner Aussagen in der Kirche ein. De canonicis scripturis besitzt in der Tat eine klare pädagogische, programmatische Zielsetzung. Als erstes müssten menschliche Gewohnheiten und Traditionen wie in den Weizen hineingemischtes Stroh weggefegt und verbrannt werden. Natürlich versuchen »Theologistae« immer wieder, menschliche Dekrete und Lehren zu verteidigen, indem sie sagen, dass die von Gott gegebene Schrift nicht genüge, um jeden Aspekt des christlichen Lebens zu regeln und sämtliche Zweifel auszuräumen; sie bedürfe weiterer Interpretationen und Ergänzungen. Karlstadt aber vertritt die Vollkommenheit und Klarheit der Schrift und antwortet auf diese Argumente mit der Metapher der Biene und der Spinne, die Honig und Gift aus derselben Blume extrahieren. Die Biene repräsentiert die einfachen Gläubigen, die allein auf Gott vertrauen und die Schrift mit einem reinen Herzen lesen und verstehen. Die Spinne steht für Gebildete und Theologen, welche die Schrift interpretieren und sie ihrem menschlichen Verstand und ihrer Klugheit unterwerfen.49 Den Gegensatz zwischen wahrem Glauben und menschlicher sapientia et prudentia radikalisiert Karlstadt, um das Grundprinzip seines Traktats zu bekräftigen: Göttliche Wahrheit ist allein durch kanonische Schriften definiert, nicht durch menschliche Interpretationen, so heilig und gebildet ihre Autoren sein mögen. Menschliche Exegesen sind folglich nur dann wahr, wenn sie durch die kanonischen Schriften bestätigt werden und nicht umgekehrt. Diese Schlußfolgerung bietet Karlstadt die Möglichkeit, nicht nur Theologen wie Eck, sondern auch die Bettelorden und vor allem die »infelicissimi fraterculi« anzugreifen,50 die sich mehr mit menschlichen Autoren und deren Dekreten und Interpretationen als mit der Heiligen Schrift befassten. Sogar Augustin, der Fürst der Theologen, unterwirft seine eigenen Werke den kanonischen Schriften und in Karlstadts Sicht verdammt aus diesem Grund den Aberglauben mönchischer »fraterculi«.51
Karlstadt meint, einige unterscheiden jedoch die Wahrheit der Schrift von der Autorität diese zu interpretieren, welche nur Bischöfe und Päpste innehätten. Er argumentiert auch mit Bezug auf die kirchenjuristische Lehre dagegen, die Auslegung ist untrennbar von der ausgelegten Materie: Christus selbst wohnt in den heiligen Schriften, spricht durch sie zu allen Gläubigen, damit jeder die biblischen Texte interpretieren kann. Gott erlaubt also allen Christen – Laien und Klerikern, Weltlichen und Geistlichen – das Amt der Propheten, d. h. die Auslegung und Erklärung der Schrift, deren Autorität mit der Christi übereinstimmt und somit Bischof, Papst und Konzil übersteigt.52Karlstadt widmet diesem letzten Punkt einen breiten, zentralen Absatz, indem er eine Abstufung der Autorität innerhalb der Kirche festlegt.53 Es handelt sich um eine Problematik, die er vermutlich bereits 1516 in einer römischen Disputation mit Prierias berührt hatte, danach in den Thesen zur Autoritätsfrage und Schrifthermeneutik in den Apologeticae conclusiones (1518) weiter ausarbeitete54 und nun schließlich in De Canonicis scripturis systematisch erörterte.
Den Beweis für die Superiorität der Schriftautorität über Konzile und Päpste liefert ihm eine Augustinstelle, die sowohl im Decretum Gratiani als auch in der 12. These der Apologeticae conclusiones angeführt wurde.55 Die Heilige Schrift allein ist immer wahr und hat deshalb Vorrang vor allen menschlichen Interpretationen und Dekreten, die manchmal fehlerhaft sind und deshalb durch eine klare Abstufung der Autoritäten korrigiert werden könnten. Mit Augustin unterscheidet Karlstadt drei Verbesserungsmöglichkeiten der bischöflichen (und päpstlichen) Dekrete: durch ein thematisch besser fundiertes und deshalb scharfsinnigeres Urteil; durch höhere Autorität und Weisheit anderer Bischöfe; durch die Konzile. Letztere sind wiederum auf abgestufte Weise zu prüfen: lokale können durch allgemeine und jüngere durch ältere Konzile verbessert werden.56
Diese Abstufung der Autorität innerhalb der Kirche und die daraus hervorgehenden Verbesserungsdispositive untermauert Karlstadt fast ausschließlich mit Zitaten Augustins, die ebenso entscheidenden Stellen des Decretum Gratiani zugrunde liegen und deshalb in der kanonischen Literatur wohlbekannt waren. Theologische Argumentation und juristische Beweisführungen sind daher so eng verbunden, dass die darauffolgenden Paragraphen von De canonicis scripturis eine Art Kommentar vor allem zu den Distinktionen 8 und 9 des ersten Teils des Decretum Gratiani bilden, obwohl Karlstadt direkt aus Augustin zitiert.57 Ein solcher theologisch-juristischer Argumentationsstil ist nicht überraschend, wenn man den strukturellen, ebenso kirchenpolitischen Umbruch bedenkt, den Karlstadt vorschlägt, indem er die Heilige Schrift als einzige normative Instanz anerkennt und ihre Interpretation für alle Christen öffnet.
Zunächst erörtert Karlstadt die erste von Augustin erwähnte Möglichkeit, päpstliche und bischöfliche Dekrete durch jedermann, der sich in der Schriftauslegung als weiser erwiesen hat, korrigieren zu lassen. Er belegt die Kontinuität seiner Überlegungen, indem er direkten Bezug auf zwei ekklesiologische Sätze von Johannes Gerson58 nimmt, die durch einen »spurcum, sordidum et propudiosum animal Romae«59 – wahrscheinlich Prierias während Karlstadts römischer Disputation vom 151660 – verurteilt und danach bereits in den Thesen 14 und 17 seiner Apologeticae conclusiones angeführt wurden.61 In dem hier edierten Text argumentiert er jedoch ausführlicher und vertritt entschlossen die Superiorität der Konzile über den Papst, obwohl er annimmt, dass beide irren könnten.62 Damit berührt Karlstadt einen der heftigsten Streitpunkte zwischen Luther und Eck und bekräftigt – ohne direkten Bezug auf die Leipziger Disputation – kirchenjuristisch die Argumente des Wittenberger Kollegen.63 Die Heilige Schrift dient ebenso als normative Instanz im ethischen und sittlichen Bereich: Kirchliche Gewohnheiten und Gebete sind nur unter Verweis auf die Bibel verbindlich, ansonsten gilt mit Rücksicht auf die Schwachen Freiheit; wenn aber Gewohnheiten und Gebete der Heiligen Schrift widersprechen, sind sie abzulehnen. Auch in diesem Fall argumentiert Karlstadt mit Augustinstellen, die gleichzeitig im Decretum Gratiani angeführt sind.64
Diese ersten beiden Teile, welche die allgemeinen theologischen und kirchenpolitischen Voraussetzungen des Traktats erklären, richten sich offensichtlich gegen externe Gegner: Die papsttreuen Theologen wie Eck, die in Karlstadts Sicht die römische Kirchenoberhoheit verteidigen, die Bettelorden, aber auch die Universitäten zu Löwen und Köln, welche die Wittenberger Theologen zwischen Sommer 1519 und Frühjahr 1520 offiziell verurteilt hatten.65 In den folgenden drei Teilen des Traktats widmet Karlstadt sich anderen Gesprächspartnern – katechetisch den christlichen Gläubigen, polemisch den Wittenberger Kollegen, vor allem Luther – und beschreibt, welche Schriften nach Augustinus und nach Hieronymus kanonisch sind, worin sich die beiden Kirchenväter einig waren und in welchen Aspekten sie unterschiedliche Meinungen vertraten.
Nach Vorstellung der Liste kanonischer Bücher gemäß Augustin, spricht Karlstadt noch einmal Wolfgang Kuch an und gibt konkrete Hinweise, wie sich ein jeder Christ der Heiligen Schrift nähern sollte, nämlich mit pietas – um der Schrift niemals zu widersprechen und die Lehre derer anzunehmen, die gelehrter sind und höhere Autorität besitzen – und fides, aus der der Gerechte lebt. Karlstadt ist sich der Komplexität des Themas – d. h. der unterschiedlichen Auffassungen des Glaubens66 – bewusst, beschränkt sich aber vorerst darauf, den wesentlichen Zusammenhang zwischen Schrift und Rechtfertigung in Glauben zu bekräftigen. Mit Augustinus beschreibt er die kanonischen Schriften als Glaubens- und Wahrheitsregel.67 Der Kanon darf darüber hinaus nicht auf die als »katholisch« bezeichneten Bücher reduziert werden und umfasst auch Apokryphen aufgrund ihres kirchlichen Gebrauchs und Alters.
In den folgenden Abschnitten analysiert Karlstadt ausführlich die Gliederung der kanonischen Bücher, zuerst nach Augustinus, dann nach Hieronymus; daraufhin hebt er Ähnlichkeiten und Unterschiede bei beiden Kirchenvätern hervor. Es geht nicht nur um die Abstufung kanonischer Bücher in geordnete Klassen, sondern auch um die Definition der Apokryphen und ihre Beziehung zu den kanonischen Büchern.68Karlstadt betont, dass sich Hieronymus in letzter Hinsicht selbst widerspricht: Einmal bezeichnet der Kirchenvater Apokryphen als Bücher, deren Verfasser unsicher sind, ein anderes Mal subsumiert er unter dieser Kategorie Bücher wie die Makkabäerbücher,69 deren Autorschaft nicht bezweifelt werden kann.
Gerade in dieser Hinsicht führt Karlstadt einen langen Exkurs ein, der beschreibt, wie der Leser dank der klassischen rhetorischen Lehre sowohl den äußeren (die verba, d. h. die cutem) als auch den inneren Stil (den habitus oder ductus orationis) eines biblischen Autors unterscheiden kann, unabhängig davon, in welchem emotionalen Zustand oder Lebensalter derselbe schreibt. Ähnlich wie man eine vertraute Person an ihren Gesichtszügen identifizieren kann, egal ob sie wütend oder traurig, gealtert oder maskiert ist, könne jeder, der sich dem Studium der biblischen Schriften und ihres Stils intensiv widmet, die Ausdruckweise und den Geist der Autoren dieser Schriften erkennen. Vom Leib fließen tatsächlich simulacra, d. h. Bilder, aus, die mit den Augen ergriffen werden können, ähnlich fließt von der Seele durch die Rede ein simulacrum mentis, d. h. ein Bild des Autorverstands, aus. Dieses Bild besteht über die äußerlichen Wörter hinaus und offenbart dem Leser die Seele, den Geist des biblischen Autors selbst.70Karlstadt untermauert seine Lehre deshalb nicht nur mit Bezug auf den Kanon oder die Autorität der Kirchenväter, sondern auch durch die Lehre der klassischen Rhetoriker wie Quintilian und der humanistischen erasmischen Philologie.
Unter diesen hermeneutischen Prämissen vertieft Karlstadt die entscheidende Frage nach den Apokryphen. Durch die Analyse von Stil und Inhalt kann die Verfasserschaft von bisher als kanonisch geltenden Schriften angezweifelt werden, wie im Fall der Bücher Esras, Samuels und insbesondere des Pentateuchs, der von mehreren Autoren, nicht nur Mose komponiert wurde.71 Wenn man diese Bücher als Apokryphen bezeichnet, sind sie dennoch nicht aus dem Kanon ausgeschlossen. Karlstadt wendet dieselbe Argumentation auf den Jakobusbrief an, den er in einer stark besuchten Vorlesung im Frühling/Sommer 1520 ausgelegt hatte,72 was wohl eine heftige Diskussion in Wittenberg entzündete. Auch wenn der Name nie erwähnt wurde, hatten sich möglicherweise Spannungen mit Luther ergeben, der die Kanonizität dieser epistola – mit Verweis auf Jak 2 – schon in seinen Resolutiones zur Leipziger Disputation (August 1519) in Frage gestellt hatte.73 Wie radikal die Meinungsspaltung zwischen Luther und Karlstadt war und ob andere Wittenberger an der Diskussion beteiligt waren, lässt sich nicht näher belegen.74 In De canonicis scripturis wird lediglich berichtet, dass sich Studenten als Schüler eines »guten Priesters« bekannten, den Jakobusbrief Hieronymus zuschrieben und die Vorlesung Karlstadts verließen. Bodenstein habe die Freundschaft, die ihn damals mit dem »guten Priester« verband, nicht verletzen wollen, jedoch »frivola illius praesbiteri argumenta«, die vielleicht von Hass gegen ihn entbrannt waren, auflösen müssen. Jener milde Mann, »clemens ille dominus«, habe tatsächlich behauptet – so liest man in De canonicis scripturis –, Karlstadt solle sich zerreißen, wenn das, was den Aufbau der Rede anbetrifft, der Stil des Apostel Jakobus sei.75
Auch in diesem Fall behauptet Karlstadt, die unsichere Autorschaft einer Schrift impliziert nicht die Ablehnung ihrer Autorität, da sonst müsste man nicht nur den Jakobusbrief, sondern auch den Hebräerbrief oder das letzte Kapitel des Markusevangeliums aus dem Kanon ausschließen.76Karlstadt war sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst, dass der Streitpunkt mit seinem Gegner Luther noch tiefer, in den unterschiedlichen Auffassungen des Glaubens bei Jakobus und Paulus, lag, hielt jedoch eine (angebliche) Widersprüchlichkeit für kein passendes Kriterium, Texte abzulehnen. Würde man z. B. nur zur Verteidigung der paulinischen Rechtfertigungslehre den Kanon beliebig umgestalten, gäbe es keine sichere normative Instanz für die menschlichen Interpretationen mehr. Darüber hinaus hebt Karlstadt hervor, wie nicht nur im Jakobusbrief sondern auch in Röm 2,13 gute Werke und Glaube als untrennbar dargestellt sind.77 Mehr als die theologische Begriffsbestimmung der Rechtfertigungs- und Glaubenslehre ist die Integrität des Kanons entscheidend, die Karlstadt durch rechtlich verbindliche Traditionsargumente (die Väter haben den Jakobusbrief als kirchlich rezipiert) sowie inhaltliche und formale Zusammenhänge (der Jakobusbrief ist kohärent mit anderen kanonischen Büchern) untermauert.78
De canonicis scripturis will im Allgemeinen beweisen, wie die Frage nach der Schriftautorität unter Berücksichtigung einer nuancierten (dreifachen) Abstufung zu betrachten ist, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Einige Bücher gehören offensichtlich zum Kanon und besitzen die höchste Autorität, dienen deshalb als primäre Glaubens- und Wahrheitsregel, wie z. B. der Pentateuch oder die Evangelien, in denen sich Jesus am Deutlichsten offenbarte. Die biblischen Schriften, deren Autorschaft unsicher oder deren Inhalt problematisch ist, gliedert Karlstadt dagegen in den dritten, niedrigsten Rang. Sie sind den anderen kanonischen Büchern immer untergeordnet, besitzen darüber hinaus innerhalb des eigenen Ranges eine ungleiche Autorität. Im Neuen Testament schreibt Karlstadt dem Jakobusbrief kanonische Bedeutung zu, obwohl er ihn mit den anderen nicht apostolischen Briefen und den Schriften, deren Autorschaft in der alten Kirche bestritten wurde, im dritten Rang einordnet.79 Die aus dem hebräischen Kanon ausgeschlossenen und deshalb als Apokryphen bezeichneten Schriften sind teilweise Hagiographen – unter denen Karlstadt im Anschluß an Hieronymus die Bücher Judith, Tobias, Jesus Sirach, die Makkabäer und Weisheit Salomons einführt –, teilweise vollkommen apokryph, wie z. B. das 3. und 4. Buch Esra, Baruch und das Gebet Manasses.80
Die Abstufung der kanonischen Schriften nach ihrer unterschiedlichen Autorität entspricht ihrer heterogenen Zweckdienlichkeit. Die in den niedrigsten Rang eingegliederten Schriften – sogar die nicht hagiografischen, völlig apokryphen Schriften des Alten Testaments – dürfen nicht einfach abgelehnt werden. Eher müssen sie genau geprüft und nur solche Aussagen akzeptiert werden, die in den Schriften des hebräischen Kanons ebenfalls auftauchen.81 Diese untergeordneten biblischen Schriften sollen allerdings nur begrenzt zum theologischen Kampf oder zur Belehrung verwendet werden, da Häretiker nur mit stärkeren und sichereren Waffen (etwa den Evangelien oder dem Pentateuch) zu bekämpfen seien und einfache Christen sich leicht verwirren lassen.82
De canonicis scripturis analysiert nicht nur den Kanon systematisch, sondern bietet auch konkrete Hinweise, damit alle Christen – seien sie gebildet oder nicht, Geistliche oder Laien – die Heilige Schrift selbst lesen und sicher interpretieren können. Ein willkürlicher Umgang mit der Schrift sei dagegen unter allen Umständen zu vermeiden, da dieser entweder zur offenen Gotteslästerung – wie im Fall der altgläubigen Theologen und Franziskaner, die den Papst und die Menschen mehr ehrten als Gott – oder zur parteiischen Gestaltung des Kanons – wie im Fall des Jakobusbriefes – und damit zur gefährlichen Infragestellung der festen und unbestreitbaren Glaubens- und Wahrheitsregel führt, was die Christen wiederum ins Chaos der menschlichen Meinungen fallen lassen würde. Unter diesem Gesichtspunkt bietet der hier edierte Traktat eine facettenreiche Darstellung methodischer und theoretischer Grundlagen, anhand derer nicht nur Karlstadt selbst zukünftige theologische Diskussionen angehen, sondern sich auch eine neue, für das christliche Volk geeignete Hermeneutik und Einführung zur Bibel entwickeln sollte.