1. Überlieferung
Frühdrucke:
Trigintatres conclusiones:de tribulatio=‖nis et predestinationis Materia.D.A.C.
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
¶Jnſignium theologorū ‖ Domini Martini Luthe=‖ri/domini Andree Caroloſtadij/‖ Philippi Melanthonis et ‖aliorū/ cōcluſiōes | varie/ ꝓ diui‖ne gratie | defenſione ac cōmendatione:contra ſcola‖ſticos et pelagianos:diſputate ‖ in preclara academia | Vvittenbergenſi. ‖ ✠ ‖ ¶Lege lector et afficieris/ verſa facie/ ‖ catalogum inuenies. ‖ [TE]
[Leiden]: [Jan Seversz], [1520/21], fol. C1v–C2v.
4˚, 12 Bl., A4–C4. Pag.: 2 (fol. A1v) – 24 (fol. C4v).
Editionsvorlage:
Biblioteca della Fondazione Centro culturale Valdese Torre Pellice, A. III. 12.64.Weitere Exemplare: Det Kongelige Bibliotek Kopenhagen, 24,35. — Bodleian Library Oxford, Tr.Luth. 39 (195).
Bibliographische Nachweise:
- Benzing/Claus, Lutherbibliographie 1, Nr. 85.
- Nijhoff/Kronenberg, Bibliographie, Nr. 4516.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 29A.
- Lenardo, Catalogo, Nr. 18.
Triginta tres concluſiones: de tribulatio=‖nis et prędeſtinationis Materia.D.A.C.
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
INSIGNIVM THEOLOGORVM ‖ Domini Martini Lutheri,domini Andree ‖ Baroloſtadij , Philippi melan‖thonis & aliorum ‖ conclu=‖ſiones varię, pro diuinæ gratiæ defensione ‖ ac commendatione,contra sco‖lasticos & pelagianos ‖ disputate in præ=‖clara academia. ‖ Vvittembergensi. ‖ Lege lector & afficieris versafacie catalogum ‖ inuenies. ‖
[Paris]: [Pierre Vidoué], [nach 1520], fol. D1v–D3r.
4°, 18 Bl., A4–D4, E2.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, M: Li 5530 Slg. Hardt (38, 662).Bibliographische Nachweise:
- Riederer, Versuch, Nr. 17.
- Benzing, Lutherbibliographie 1, Nr. 86.
- Moreau, Inventaire 2, Nr. 2460.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 29B.
Editionen:
- Riederer, Disputationen, 66.
- Brieger, Thesen, 481–483.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 172.
- Fischer, Beichte, 136.
- Barge, Karlstadt 1, 246–248; 331; 474f.
- Bubenheimer, Reliquienfest, Anhang 1 Anm. 200.
2. Inhalt und Entstehung
Laut Widmungsvorrede der Loci tres1, die fragmentarisch die Probationes zu den 33 Conclusiones enthalten, ist die vorliegende Thesenreihe bereits 1520 entstanden und disputiert worden: »Conclusiones igitur anno XX disceptatas mitto […].«2 Inhaltlich besteht große Nähe zu den Schriften Ablass (KGK 161), Wasser (KGK 162, beide August/September 1520, bes. Thesen 3, 4, 24 und 25), Tugend Gelassenheit (KGK 166) und auch Welche Bücher biblisch (KGK 171). These 12 bestreitet angesichts der göttlichen Prädestination die Wirksamkeit kirchlicher Bannurteile, was die Thesenreihe chronologisch an die zahlreichen Schriften zur publizistischen Abwehr der päpstlichen Exkommunikation Luthers und Karlstadts im Frühherbst 1520 heranrückt. Die Widmungsvorrede zur Veröffentlichung der Probationes zu den 33 conclusiones als Loci tres im folgenden Jahr ist auf den 21.9.1521 datiert. Die Publikation ist Teil einer reformatorischen Publikationsoffensive gegen das Reliquienfest in Halle, das in jenem Jahr vom 13.–22.9.1521 abgehalten wurde.3 Aufgrund der letzten beiden Thesen zur Ablassfrage und dem Inhalt der vorherigen Thesen (zu aqua tribulationis) ist zu vermuten, dass auch die 33 conclusiones selbst in die zeitliche Nähe zu einem Reliquienfest zu setzen sind, sei es erneut das Hallenser Reliquienfest, das vom 13.–20.9.1520 stattfand,4 sei es der Portiuncula-Ablass an der Wittenberger Schlosskirche am Allerheiligenfest (1.11.1520) selbst.5
Inhaltlich sind die 33 Conclusiones in drei Abschnitte zu teilen. Die Thesen 1–8 entfalten Karlstadts Bußtheologie. Das angefochtene, betrübte Fleisch nütze dem bedrängten Geist nichts, denn es führe nur in Verwirrung und Trauer. Die Erkenntnis Christi erfolge in der Bedrängnis, die Beklemmung lasse Gnade und Glaube erkennen, mehr als gute Werke. Die Taufe erfolge im Geiste und durch das Wasser der Betrübnis (aqua tribulationis)6, zu verstehen als die Betrübnis des Sünders und die Abwaschung seiner Sünden. Die geistige Trübsal wird zu einem Sakrament.7Karlstadt postuliert einen allegorischen Empfang des Verständnisses Christi.
Der Herr sei mit den Schwachen, angeführt werden Heilige als Exempel, die oft verzagten. Die Entfernung von Gott gehe mit schwacher Opferbereitschaft einher.
Die Thesen 9–21 behandeln Fragen der Prädestination, die an die letzte These zu Verzagtheit und mangelnder Bereitschaft der Christen angesichts der Betrübnis anschließen. Die Werke stürben im Schlund der Vorherbestimmung, der Glaube aber lebe. Die Vorherbestimmung befördere die Verleugnung des Selbst (abnegatio sui) und setze kirchliche Bannurteile außer Kraft. Das Wissen um die Vorherbestimmung beruhige den Geist und führe in die Tiefe göttlichen Willens, wie Augustinus schrieb. Keine Vorherbestimmung gebe es hinsichtlich künftiger Werke. Die die Vorherbestimmung betreffenden Gebete der Gerechten seien heilbringend. Die Kirche sei die Versammlung der Vorherbestimmten, die die Seelen verstorbener Gläubiger einschließt.
Erneut bildet die letzte These des vorherigen den Übergang zum nächsten, vorletzten Block, der sich mit der Ekklesiologie beschäftigt (Thesen 22–28). Aufgabe der Prälaten sei die Interpretation der Heiligen Schrift, deren Lesung in den Muttersprachen der Gläubigen erfolgen solle, auch durch den Hausvater im Haus. Es sei der Sinn der Heiligen Schrift zu erforschen, anstatt institutionalisierte und traditionelle Gebete vor sich hin zu murmeln. Die Klarheit der Schrift korrespondiere mit der Deutlichkeit ihrer Verkündigung. Auch die Einsetzungsworte und die Messe seien in der Muttersprache und allgemein verständlich zu halten.
Die letzten vier Thesen 29–33 beschäftigen sich mit dem Sündenerlass durch die Gnade Gottes, für den der Glaube die Voraussetzung bildet, den der Unglaube aber zum Einsturz bringe. Ablass sei nichts weiter als der Klang der Kirchenglocken, befolge man ihn nicht, vermeide man bestenfalls Aberglauben.
Die 33 Conclusiones haben die Bewährung des Auserwählten, Prädestinierten im Leiden zum Gegenstand und reagieren damit auf eine veränderte kirchenpolitische Situation. Der römische Exkommunikationsdruck ließ die junge Reformbewegung ein Bedürfnis nach einer Märtyrererziehung ausbilden. Im Zentrum der Thesenreihe steht Karlstadts Bußtheologie, deren Verdichtung gemäß Textsorte einer kurzen Erläuterung bedarf. Betrübtes Fleisch nütze dem Geist nichts, denn ein Verharren in der Trübsal ohne Anrufung Gottes ist nichts wert und führe nur in Verwirrung und Trauer.8 Von Karlstadt hier verwendete Begrifflichkeiten wie Niedergeschlagenheit (afflictio, spiritus afflictus), Trübsal (tribulatio) und Zerknirschung (contritio) spielen in der mystischen Bußtheologie Johannes Taulers eine bedeutende Rolle, die Karlstadt neben dieser Thesenreihe auch in Tugend Gelassenheit (KGK 166) intensiv rezipierte. Sie führen zur Selbsterkenntnis und Selbstverurteilung des Sünders und aufrichtiger Reue mit Verleugnung dieses Selbst (abnegatio sui);9 biblisch begründet übt Trübsal in Selbstverleugnung und Gelassenheit – Begriffe, die Karlstadt parallel für die abnegatio gebrauchte – ein.10Aus der Beklemmung, der Kürze des Atems (angustia spiritus)11, erwächst der Glaubensschrei, die Anrufung Gottes vor der Rechtfertigung.12Zentral in den 33 Conclusiones ist die Begrifflichkeit der aqua tribulationis (Wasser des Trübsals), die für die Sündenabwaschung steht.13 Wie in der Schrift Wasser unterscheidet Karlstadt das Wasser als Element von seiner allegorischen Funktion zur Abwaschung der Sünden.14 Dort leuchtet er den Hintergrund auch stärker aus, unterscheidet zwischen res und signa: »Das wasser/ macht den menschen ledig von sunden, nicht das elementisch wasser […].«15 Das Wasser ist »ein betrubt reuhig hertz/ ein widerwill/ neyd/ haß […] gedreng«.16 Und weiter: »das andere wasser/ es flies auß eusserlichen anfechten/ oder aus erkentnis aygner gebrechen/ das sunden vorgibt«.17 Als Allegorie der Sündenabschwaschung gilt die Fußwaschung der Jünger durch Christus.18 Das Wasser der Betrübnis steht daher im Kreuzungspunkt der von Tauler beeinflussten Bußtheologie als Allegorie für Bedrängnis, Trübsal, Gedränge, Anfechtung, Erkenntnis, Verurteilung und Verleugnung des Selbst – allesamt Voraussetzungen der Sündenvergebung, die letztlich allein aus einer biblisch begründeten Verheißung erwächst.19
Der Thesenblock zur Prädestination, der Anleihen bei den Apologeticae conclusiones nimmt,20 ist unmittelbar auf den vorherigen, bußtheologischen bezogen. Das Wissen um die Vorherbestimmung lösche alle Werkgerechtigkeit aus, nur der Glaube bleibe bestehen, denn es beruhige den Geist, lasse die Tiefe des göttlichen Willens erkennen und helfe, das Selbst zu verleugnen wie auch die von Menschen gewirkten, kirchlichen Bannurteile außer Kraft zu setzen. Karlstadt schließt hier einen Bogen zur Thematik seiner Schrift Tugend Gelassenheit.21
Wie bereits erwähnt, sind nicht nur die Thesenblöcke miteinander verschränkt. Auch die Thematik der Trennung in Zeichen (signum) und Ding (res) durchzieht die Thesenreihe, denn die Unterscheidung wird nicht nur hinsichtlich des Wassers vollzogen (These 5). Die Thesen 32 und 33 reduzieren ironisierend den Ablass in der Frage des Sündenerlasses auf den Wert eines Zeichens, dem der Klang der Kirchenglocke gleich sei. Der Glaube an diese Zeichen wird zum Aberglauben, nicht anders als dies bei Wasser und Salz der Fall sei.22