1. Überlieferung
Handschrift:
Der in der Kantonsbibliothek (Vadiana) St. Gallen aufbewahrte Handschriftenband Ms. 366 wurde fast ausschließlich1 von Christoph Schappeler verfasst und gehörte zu seiner reichen Privatbibliothek.2 Über die frühen Lebensjahre Schappelers, der 1472 in St. Gallen geboren wurde, ist nur wenig überliefert. Er studierte bis 1503 in Leipzig und setzte dort – nach einer kurzen Heimkehr – zwischen 1505 und 1510 seine akademische Karriere fort.3 1513 wurde er als Prediger an die Martinskirche in Memmingen berufen, wo er bis 1525 blieb und entscheidend an der Einführung der Reformation mitwirkte.4 Als die Stadt von Truppen des Schwäbischen Bundes besetzt wurde, flüchtete er nach St. Gallen, wo er die letzten Jahrzehnte seines Lebens als Prediger verbrachte. Nach seinem Tod im Jahre 1551 wurde seine umfangreiche, in Memmingen aufbewahrte Sammlung gemeinsam mit anderen Privatsammlungen in die Stadtbibliothek St. Gallen übernommen. Die Sammlung Schappelers bestand aus rund 500 Drucken und 57 Manuskripten, von denen er die meisten – wie im Fall des hier betrachteten Ms 366 – selbst schrieb; die Sammlung war in rund 137 Bände aufgeteilt.5
Ms. 366 versammelt heterogene Schriftstücke: Druckabschriften (hier seien exemplarisch die Adagia des Erasmus in der Basler Ausgabe von 15206 und einige Texte Luthers7 erwähnt) sowie Abschriften von Thesen, die meistens in Wittenberg zwischen 1520 und 1524 disputiert wurden.8 Fol. 276–301 enthalten Druckabschriften und unveröffentlichte Materialien, zu denen auch die hier edierten Thesen gehören. Neben der 1522 in Basel unter dem Titel Propositiones Wittembergae viva voce tractatae erschienenen Wittenberger Thesensammlung9 sind einige sonst unveröffentlichte Thesenreihen abgeschrieben worden. Die Bogen der Abschriften scheinen jedoch vermischt worden zu sein, denn die von Schappeler kopierten Thesen sind in einer anderen Reihenfolge arrangiert als im Basler Druck.
Vor der Kopie der Bogen F3v–F8v der Basler Ausgabe – auf fol. 294r bis 295v – befinden sich – auf fol. 292v–293v – eine Thesenreihe Luthers (Conclusiones de circumcisione, bereits in einer Sammlung aus dem Jahr 1520/21 veröffentlicht)10, zwei bisher unbekannte Thesenreihen Karlstadts (die hier edierten Thesen und KGK 180)11 und die in der Bulle Exsurge Domine verurteilten ersten 14 Thesen Luthers.12 Derselben Kopie der Bogen F3v–F8v der Basler Ausgabe folgen eine Thesenreihe De Natura et lege, de Evangelio et Fide, de Charitate von Heinrich von Zütphen13 auf fol. 296r–v und eine weitere Kopie von Karlstadts7 Conclusiones de coelibatu (vgl. KGK 181) auf fol. 297r. Diese stützt sich auf eine andere Quelle als die der Basler Ausgabe entsprechende Kopie derselben Thesen auf fol. 280v.14 Eine weitere Doublette betrifft eine zweite Thesenreihe Karlstadts (siehe KGK 202) zum einen auf fol. 288r–v und zum anderen auf fol. 301v (erster Teil) und fol. 292r (zweiter Teil).15 Mit Ausnahme dieser letzten Thesenreihe befinden sich alle nicht im Basler Druck enthaltenen Thesen direkt nach dem dort zuletzt veröffentlichten Stück (hier ediert in KGK 195) und unmittelbar vor zwei leeren Blättern, fol. 297v–299v. Diese Tatsache lässt vermuten, dass Schappeler zunächst die Basler Ausgabe der Wittenberger Disputationsthesen kopierte und danach weitere Thesen hinzufügte. Dies tat er vermutlich auf der Grundlage weiterer – möglicherweise handschriftlich vorhandener – Vorlagen. Eine Datierung der Anfertigung des Bandes Ms. 366 in den frühen 1520er Jahren – in oder bald nach 1522 – wird auch durch die Untersuchung der Wasserzeichen bestätigt.16
Demnach hat Schappeler neben dem Basler Druck auch mit anderen Vorlagen gearbeitet. Zu dieser Textgruppe gehören die hier und als KGK 180 edierten Thesen, die nur in Ms. 366 überliefert sind und höchstwahrscheinlich auf einer heute verschollenen Handschrift oder einem verschollenen Druck basieren.17 Die Verwendung mehrerer Quellen zur Erstellung einer Sammlung ist keine Besonderheit, sondern lässt sich oft in frühneuzeitlichen Nachlässen beobachten, z. B. in den Sammlungen Heino Gottschalks, heute in der HAB Wolfenbüttel,18 und des Johannes Hess, heute in der SB-PK Berlin.19 Diese Sammlungen wurden – wie diejenige Schappelers – in mehreren Phasen geschrieben. Aus diesem Grund wurden Thesen, die auf einer vielfältigen Quellenüberlieferung beruhten, oft mehrfach kopiert. Vermutlich waren dem Schreiber nicht alle der bereits gesammelten Texte stets präsent, sodass er die ihm angebotenen Neuheiten einfach niederschrieb und Doppelungen später durchstrich20 oder am Rand markierte21, wenn er die Doublette erkannte. Wie Schappeler erweiterte auch Johannes Hess sein Exemplar der Basler Ausgabe der Wittenberger Disputationsthesen um eine handschriftliche Thesensammlung.22 Die auf die Wittenberger Disputationsthesen gerichtete Aufmerksamkeit zeigt das Interesse vieler zeitgenössischer Gelehrter, welche sich in diesen Jahren – auch durch den Austausch von Thesen und Materialien – stets über die neuesten Entwicklungen des reformatorischen Aufbruchs auf dem Laufenden halten wollten.23
Wie der Memminger Prediger und spätere Reformator Christoph Schappeler in den Besitz von in den einschlägigen Thesensammlung nicht veröffentlichten Thesen Karlstadts (die hier edierten und KGK 180) kam, bleibt unklar. Sicherlich standen die beiden Theologen bereits um 1507 in Kontakt, da Karlstadt sein Werk De Intentionibus dem damals in Leipzig als lector tätigen Schappeler widmete.24 Konkrete Beweise für eine bis in die 1520er Jahre bestehende personelle Verbindung zwischen Karlstadt und Schappeler und damit eine direkte Übersendung der hier edierten Thesen von Wittenberg nach Memmingen sind nicht nachweisbar. Eine solche Verbindung ist dennoch nicht auszuschließen; auch ohne nahen Kontakt gehörte Schappeler durch das in Ms. 366 bezeugte Interesse an den Wittenberger Disputationsthesen in das breite Netzwerk von Gelehrten wie Hess und Gottschalk, welche die Entwicklung der theologischen Debatte verfolgten und diesbezüglich Materialien austauschten. Ein solches Netzwerk bildete sich in St. Gallen um Joachim Vadian (1483/4–1551), der bereits 1521/22 zur radikalen Erneuerung der Kirche aufrief und dabei das kirchenreformerische Programm des Erasmus mit einer – den Wittenbergern nahestehenden – scharfen Kritik an Gelübden und traditioneller Frömmigkeitspraxis verknüpfte.25 Die enge Mitarbeit und der theologische Austausch Schappelers mit Vadian sind bekannt.26 Noch in Details zu erforschen wären dagegen die einzelnen Mitglieder des Netzwerkes um Vadian, deren bis heute überlieferte Privatbibliotheken jedoch zeigen, wie breit die Wittenberger Schriften aus den 1520er Jahren rezipiert wurden.27 Dies betrifft auch die von Schappeler in Ms. 366 abgeschriebenen Wittenberger Disputationsthesen: Der Basler Druck wurde von Benedikt Burgauer (1494–1576) gekauft und glossiert; ein weiteres Exemplar befand sich im Besitz von Dominik Zilli (1494–1571), der wie Burgauer ein Mitarbeiter Vadians und Anhänger der Reformation war.28 Direkte Kontakte zwischen Vadian und Wittenberg verliefen über private Korrespondenz.29Hieronymus Schurff (1481–1554), in Wittenberg seit Gründung der Leucorea im Jahr 1502, soll ebenfalls das Verhältnis zu seiner Heimatstadt St. Gallen gepflegt haben.30 Viele Wittenberger Studenten, die aufmerksame Zeugen jener turbulenten Jahre waren und sich stets die neuerschienenen Schriften der Reformatoren beschafften, stammten von dort.31 Auch auf diesen Wegen könnten Handschriften und Kopien der hier edierten Disputationsthesen Karlstadts in die Hände Schappelers gelangt sein.
Edition:
- Hasse, Tauler, 206 f.
Literatur:
- Hasse, Tauler, 146.
2. Entstehung und Inhalt
Die hier edierten Thesen wurden am 13. Mai 1521 unter Karlstadts Vorsitz zur Promotion des Jakob Probst von Ypern zum baccalaureus biblicus disputiert.32 Informationen über die frühen Jahre dieses Augustinermönchs sind kaum übermittelt. Jakob Probst aus dem Haarlemer Augustinereremitenkloster immatrikulierte sich bereits am 18. Oktober 1505 in Wittenberg.33 Am 16. August 1506 wurde er zum Magister promoviert.34 Bis 1509 studierte er in Wittenberg, wo er sicherlich, wenn auch nicht nachgewiesen, mit dem ebenfalls dort inskribierten niederländischen Augustinereremiten Heinrich von Zütphen35 in Kontakt stand. Als Prior des Augustinereremitenklosters in Antwerpen galt er in Erasmus' Augen bereits 1519 als Schüler Luthers.36 1521 kehrte er nach Wittenberg zurück, wo er zunächst die hier edierten Thesen und nur zwei Monate später, am 12. Juli, eine weitere Thesenreihe – wiederum unter Karlstadts Vorsitz – zur Promotion zum Lizenziat der Theologie (KGK 184) disputierte. Als er im September 1521 nach Antwerpen zurückkehrte, begann Probst, in seinen volkssprachlichen Predigten reformatorisches Gedankengut zu verbreiten. Daraufhin wurde er im Dezember nach Brüssel gebracht, dort gefangen gehalten und im Februar 1522 zu einem öffentlichen Widerruf gedrängt. Wenige Monate später wurde er in Ypern erneut verhaftet und nach Brüssel überführt, entkam jedoch aus seiner Gefangenschaft und floh spätestens 1523 nach Wittenberg, wo er den Widerruf dementierte. 1524 ging Probst nach Bremen, wo er bis zu seinem Tod 1559 an der Einführung und Durchsetzung der Reformation in der Stadt mitwirkte.37
Bekanntlich waren die Ereignisse in Wittenberg in den Frühlingsmonaten des Jahres 1521 entscheidend für die Entwicklung der Reformationsbewegung. Nach der Exkommunikation durch die Bannbulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521, bekannte sich Luther auf dem Reichstag zu Worms zu seinen Schriften und lehnte einen Widerruf am 17. und 18. April vor Kaiser und Reichsständen ab; daraufhin wurde er am 26. Mai durch das sogenannte Wormser Edikt vom Kaiser in die Acht getan. Inzwischen hatte Kurfürst Friedrich III. von Sachsen den Reformator aber bereits heimlich auf die Wartburg in Sicherheit bringen lassen. Von dort aus setzte Luther seine publizistische Tätigkeit fort, kehrte jedoch – abgesehen von einem kurzen Besuch Anfang Dezember 1521 – erst im März 1522 nach Wittenberg zurück.
Bald nachdem Luther auf die Wartburg kam, wurden die hier edierten 27 Conclusiones de votis in Wittenberg disputiert. Wie bei anderen zeitgenössischen Disputationsthesen werden auch hier Themen behandelt, die Karlstadt und Luther in den Schriften des Vorjahres schon aufgegriffen hatten.38 Jetzt geht es jedoch um die praxisbezogenen sozial-kirchlichen Anwendungen der bereits formulierten theologischen Ansätze. Die Thesen befassen sich mit der Frage nach dem Wesen und der Praxis der Gelübde, deren Abschaffung – oder zumindest drastische Reduzierung – Luther bereits in De captivitate Babylonica gefordert hatte. Insbesondere im Kapitel zur Taufe fügte Luther einen langen Exkurs über die Gelübde im allgemeinen Sinne ein. Darin behandelt er also nicht nur Ordensgelübde, sondern auch Pilgerfahrten, Stiftungen von Gütern und Geld und alle äußeren Werke, mittels derer sich die Gläubigen Gnade »verdienen« wollen. Der Meinung, Gelübde verliehen den Werken einen verdienstvollen Charakter, widerspricht Luther, indem er sich auf die mit der Taufe geschenkte Freiheit beruft. Nicht unter Gelübden versprochene und vervollständigte äußere Werke, sondern der innere Glaube, die Erkenntnis eigener Sünde und das feste Vertrauen zu Gott könnten retten.39 Ein Christ sei keinem menschlichen Gesetz – unter welchem die traditionellen Gelübde subsumiert sind – unterworfen, sondern nur dem göttlichen, d. h. der Schrift.40 Damit entsteht ein radikaler Gegensatz zwischen Taufe, Glaube und innerer Freiheit auf der einen Seite und Gelübden, äußeren Werken und der Unterwerfung unter kirchliche Traditionen und päpstliche Dekrete auf der anderen. Karlstadt hatte diesen Gegensatz in den Schriften über seine Bußtheologie (KGK III, Nr. 162 und KGK III, Nr. 164) auch thematisiert: Die Taufe im »Wasser des Trübsals« steht den äußeren Werken entgegen und eröffnet den Weg zur rechtfertigenden Gnade.41 Vor diesem Hintergrund wendet sich Karlstadt in den hier edierten Thesen dem Thema der Gelübde zu, d. h. vor allem der Stiftung von Gütern und Geld an Kirchen und Altäre und im allgemeinen den Opfergaben materieller Güter.
Karlstadts27 Conclusiones de votis lassen sich in 6 Blöcke unterteilen. In den ersten vier Thesen formuliert er ein neues Verhältnis zwischen mittels äußerer Werke abgelegten Gelübden – die nur selten erlaubt werden sollten – und dem Glauben als innerem, freien Vertrauen auf Gott. Der Glaube allein ermögliche es den Heiligen, dem Löwen den Rachen zu stopfen; der Glaubensschrei allein ließ Petrus nicht ins Wasser sinken (Mt 14,28–31).42 Schließlich gehöre der Glaube – verbunden mit der tribulatio, der Trübsal und der Buße – und nicht die äußeren menschlichen Werke notwendigerweise zum Geschehen der Rechtfertigung. Folglich beschreibt der zweite Thesenblock (Th. 5–10) die Aufgabe des wahren christlichen Predigers, die darin bestehe, die Gläubigen zu einer inneren Realität zu führen, in der der Geist wirkt, und von den äußeren Dingen abzulenken,43 um die Christen von durch Gelübde aufgezwungenen Ängsten und Zwängen zu befreien. Es solle davon abgehalten werden, Gelübde abzulegen, da sie Gott eher erzürnten als wohlwollend stimmten.
Zur Konkretisierung seiner Argumentation erinnert Karlstadt in den darauffolgenden drei Thesen (Th. 11–13) an das Beispiel von Jephta (Ri 11,30–40): Nachdem er um Kriegsglück bat und gelobte, seinem Gott das Erste, was ihm bei der Heimkehr entgegenkommen sollte, für den Sieg zu opfern, sah er, als er sein Haus erreichte, seine einzige Tochter herauslaufen. Jephta klagte über sein Unglück, ermutigt von dem Mädchen hielt er aber sein Versprechen.44 Diese alttestamentliche Geschichte diente Karlstadt dazu, das Verhältnis zwischen dem wahren inneren, freien Glauben an Gott – der kein Gelübde verlangt – und dem Ablegen eines Gelübdes – oft mit nutzlosen, wenn nicht sogar gefährlichen äußeren Werken verbunden – zu problematisieren. Die Erzählung von der Tochter des Richters Jephta war in der theologischen Tradition oft erörtert worden. Thomas von Aquin bezeichnete das Versprechen des Jephta – Hieronymus indirekt zitierend und frei interpretierend – als »in vovendo […] stultus, […], et in reddendo impius«.45Augustinus dagegen hatte die widersprüchliche Bedeutung der Erzählung betont: Er würdigte, dass Jephta sein Versprechen eingehalten habe, verurteilte aber die unangemessene Formulierung und das tragische Ergebnis.46Karlstadt – der in Th. 2 indirekt auf das Lob Jephthas als Beispiel eines unerschütterten Glaubens verwies (Hebr 11,33) – betont in Th. 11–13 Jephthas Irrtum, d. h. das unnötige und unchristliche Gelübde, sodass der Tod seiner einzigen Tochter die angemessene Strafe für das Verbrechen des Vaters darstellt.
Die drei folgenden Thesen (Th. 14–16) stellen die Frage, wer über Gelübde entscheiden dürfe und welchen Inhalts sie sein können. Karlstadt fordert in dieser Hinsicht dazu auf, sich nicht passiv einem Papst – dessen Dekreten oder Bischöfen – zu unterwerfen, sondern sich lieber von schriftkundigen Laien – die dem korrumpierten Klerus vorzuziehen seien – ermahnen zu lassen. Die Voraussetzung dafür war bereits in den Schriften aus dem Jahr 1520 formuliert worden: Alle Christen (auch einfache Laien) dürfen und können die Heilige Schrift – und damit das göttliche Recht – sowohl lesen als auch verstehen, um andere Christen zu belehren.47 Ordinierte Geistliche und Laien gelten als gleichrangig. Jeder Christ könne also auf dieser Grundlage die Wahrheit Gottes – auch hinsichtlich der Gelübde – erkennen und über alle bischöflichen und sogar päpstlichen Bestimmungen urteilen.48
Der vorletzte Thesenblock (Th. 17–23) richtet die Diskussion schließlich auf einen konkreten Fall: Gelübde als Stiftungen von Gütern und Geld an Kirchen und Altäre. Vor dem Hintergrund eines radikalen Gegensatzes zwischen den lebendigen Tempeln (Th. 18), deren innerliche und geistliche Natur ebensolche inneren und geistlichen Opfergaben verlangt, und den äußeren Tempeln, denen materielle und deshalb dem Geist nutzlose Kostbarkeiten gestiftet werden, fordert Karlstadt mit Verweis auf 2. Mose 36,6 f. dazu auf, die Abgaben zugunsten des Heiligtums einzustellen.49 Dieses Gebot hatte Mose in jener Zeit formuliert, als es nur wenige Tempel im Volk Gottes gab. Karlstadt bemerkt an dieser Stelle ironisch, dass auch die kleinen Städte eher von Tempeln, Altären und Kirchen mit nutzlosen Edelsteinen und Gold überquellen als dass sie mit Glauben – der einzig wahren inneren Opfergabe – geschmückt sind. Diese Opposition wird in den letzten drei Thesen (Th 25–27) polemisch zugespitzt. Der Aufforderung Moses, die bereits hinreichende Errichtung und Ausstattung des Heiligtums nicht auszuweiten, stellt sich das Drängen der »Papisten« entgegen, weiterhin Gelübde abzulegen, Güter zu stiften und schließlich auch Geld zu spenden, um von einem Gelübde wieder dispensiert zu werden. Aus dieser Irrlehre, nach der Gnade und Heil durch äußerliche Gelübde und materielle Stiftungen einfacher erkauft werden, sei der Schacher um Ablässe und Dispense entstanden. Das Problem ist zentral, weil damit auch die christliche Freiheit endgültig verkauft worden sei.50 Zu dieser sollen die Christen nun zurückgeführt werden: Befreit von den päpstlichen Dekreten und Gesetzen, können sie sich durch den Glauben zu jenen geistlichen Gelübden führen lassen, die auch in den 8 Conclusiones de votis (KGK 180) thematisiert werden.