Nr. 202
26 Conclusiones: In locum Pauli 2. Cor. 3
Wittenberg, 1521, [31. Oktober]

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck und Ulrich Bubenheimer

1. Überlieferung

Handschriften:

[a:]HAB Wolfenbüttel, Li 5530 (35, 585), fol. 3r–4r

Abschrift Heino Gottschalk.

[b:]KBSG, Ms. 266, fol. 288r–vfol.292rfol.301v

Abschrift Christoph Schappeler.

Frühdruck:

Frühdruck:

[A:][Karlstadt, Andreas Bodenstein von]
IN LOCVM PAVLI, ∥ ij. Corint. Epiſtolæ ∥ cap. iij. ∥
in:
Luther, Martin; Melanchthon, Philipp; Karlstadt, Andreas Bodenstein von
LVTHERI, ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ, in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. G5v–G7v.
8°, [56] Bl., A8–G8, fol. A1v und G8v leer.
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020, 13.
Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77.Cc.281. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, Ag 8 548d. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 1516. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 2272. — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, LC590/1. — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:

Die Überlieferung der Wolfenbütteler Handschrift a, geschrieben von Heino Gottschalk (gest. 1541),1 ist nicht vom Basler Druck A abhängig und steht wegen der Wiedergabe des Präskripts, das die Daten über den Präses, den Respondenten, seine Graduierung und den genauen Termin der Disputation wiedergibt, dem Wittenberger Archetyp näher. Die einleitenden Informationen des Präskripts sind auch in Handschrift b, festgehalten von Christoph Schappeler,2 zu finden; sie sind mit einer die Thesen (als »Articuli« bezeichnenden) erläuternden Beischrift versehen. Ihre Vorlage ist unbekannt. Obwohl dem Archetyp näher stehend, enthält a eine Reihe von Schreibfehlern, während Druck A im Thesentext fehlerfrei ist. Der Edition liegt die Handschrift a zugrunde und korrigiert deren Fehler nach dem Druck A.

2. Entstehung und Inhalt

Diese Reihe mit 26 Thesen zu 2. Kor 3 über Geist und Buchstabe ist in der zweiten Basler Sammlung Wittenberger Thesenreihen abgedruckt, doch fehlt hier ein Hinweis auf Verfasser oder Veranlassung der Thesenreihe. Dies hatte zur Folge, dass die Thesen früher nicht mit Karlstadt in Verbindung gebracht wurden. Die beiden hsl. Überlieferungen a und b in Wolfenbüttel und St. Gallen überliefern das Präskript mit akademischem Anlass und Datum der Disputation: Unter dem Vorsitz Karlstadts respondierte am Donnerstag, 31. Oktober 1521 ab 7 Uhr morgens der Franziskaner Johannes Briesmann3 über diese Thesen zum Erwerb des Grades eines Lizentiaten der Theologie. Dabei war eine mehrstündige Disputation vorgesehen.4

Gemäß damaliger Gepflogenheit war der bei der Disputation präsidierende Dozent der Verfasser der Disputationsthesen, im vorliegenden Fall also Karlstadt. Davon ging auch Gottschalk in seiner Abschrift der Thesenreihe zu 2. Kor 3 aus, denn in seiner Thesensammlung formulierte er die Überschrift der nächsten Thesenreihe folgendermaßen: »Conclusiones vij eiusdem karolostadij de celibatu […]«.5 Die Verfasserschaft Karlstadts ist damit gesichert. Dagegen war einst eine Autorschaft Melanchthons wegen dessen Vorlesung zum 2. Korintherbrief im Herbst 1521, wegen der Verwendung des Begriffs »locus« im Titel, da dieser auch von Melanchthon in anderer Thesenreihe gebraucht wurde,6 und auf Grund zahlreicher, schlagender sachlicher Parallelen7 postuliert worden. Auch die fehlenden direkten Parallelen zu KarlstadtsDe legis litera spielten der Hypothese zu.8 Doch kann sie auf Grund der handschriftlichen Überlieferung des Praeses Karlstadt nun als obsolet betrachtet werden.9

Die Thesenreihe hat folgenden Inhalt: (1.) Je mehr sich das Evangelium gegenüber dem Gesetz auszeichnet, desto mehr tritt das Amt der Apostel gegenüber dem mosaischen Dienst hervor. (2.) Weder der sogenannte freie Wille noch die Schärfe des Verstandes macht die Diener des Neuen Testamentes und seines Geistes zu geeigneten und fähigen Dienern, sondern nur die Gnade Gottes. (3.) Der Mensch (ob Diener oder ob Hörer des Wortes) ist nicht aus seinen eigenen Kräften geeignet, sich das Göttliche vorzustellen; noch viel weniger, es anzunehmen oder zu ersehnen. (4.) Daher sind die Scholastiker blind, die so sehr die Vernunft und den Willen des Menschen emporheben, dass sie mit Pelagius sagen, der Mensch könne aus natürlichen Kräften eine gute Regung des Herzens haben. (5.) Insofern taugt der natürliche Wille des Menschen zu nichts anderem als die fleischlichen Dinge zu unterscheiden, das heißt die, die nicht des Geistes sind. (6.) Daher kann der Mensch die Dinge, die sich auf das ewige Leben beziehen, weder denken noch wünschen und weder beginnen noch vollenden ohne Eingießung der Gnade und das innere Wirken des Heiligen Geistes. (7.) Wo also bleiben die Ausposauner der (unvollkommenen) Reue [d. i. der Furchtreue], der Vorbereitung auf die Gnade aus natürlichen Kräften und des unvollkommenen Verdienstes? (8.) Es können jedoch auch die Gottlosen viel von den Schriften plappern, aber je mehr sie mit Gaben ausgezeichnet werden, desto mehr beflecken sie sich. (9.) Schließlich, wie der Dienst des Wortes zwiefältig ist, so wirkt er doppelt, denn er tötet und macht lebendig. (10.) Gleichwohl ist diese Tötung, durch die der Gottlose vernichtet wird, damit er fromm werde, heilsam im Geist. (11.) Wie in den Gläubigen zweierlei Menschen sind, der alte und der neue, so hört in ihnen die Tötung durch den Buchstaben und die Lebendigmachung durch den Geist nicht auf. (12.) Und so wunderbarlich ist Gott in seinen Kindern, dass er sie durch gegensätzliche und widersprüchliche Dinge behütet, d. h. durch Furcht und Glauben, Hoffnung und Verzweiflung. (13.) Daher wird das Gesetz vom Apostel ganz richtig als Werkzeug des Todes und der Verdammnis benannt, demgegenüber auch das Neue Testament als Dienst der Gerechtigkeit und Instrument des Geistes und Lebens bezeichnet wird. (14.) Wie das Alte Testament sinnlich wahrnehmbare Herrlichkeit erlangt hat, nämlich das glänzende Antlitz Mose, so hat das Neue Testament eine Herrlichkeit erlangt, die nicht mit den Augen sinnlich erfasst werden kann, sondern mit frommem Geist wahrgenommen wird. (15.) Die fleischlichen Söhne Israels, die im alten Menschen verharrten, haben im Gesetz Christus nicht erkannt. (16.) Denn zwischen dem Antlitz Mose und ihnen selbst wurde eine Decke gesetzt, sodass sie bis zum Ende nicht darauf achten, wer Christus ist. (17.) Daher steht gewiss fest, dass die Decke nicht eine Verdunkelung des Gesetzes bedeutet, sondern die Blindheit und Gefühllosigkeit ihrer Herzen. (18.) Doch ohne Zweifel ist es ein Mysterium, dass Mose das Gesetz mit glänzendem Antlitz überbrachte und damit anzeigte, dass das Gesetz nicht erfüllt werde außer durch Christus. (19.) Weiterhin wird die Decke allein durch den Glauben an Christus weggenommen, so wie Mose die Decke vom Gesicht nahm, als er mit Gott sprach und ihn hörte. (20.) So erblicken die Gläubigen nach Enthüllung des Antlitzes des Herzens die Herrlichkeit Gottes, insofern sie wissen, dass sie nur durch die Barmherzigkeit Gottes (welche im Antlitz Christi ausgegossen ist) gerettet werden. (21.) Wie Petrus auf dem Berg Tabor, als er sah, dass das Antlitz Christi erstrahlte, sprach: »Es ist gut, dass wir hier sind.« So offenbart sich das Evangelium einem erleuchteten Herzen, dem das süße Gesetz Gottes ebenso gut ist. (22.) So wie ein vom Licht des Geistes entleertes Herz das Evangelium nicht empfangen kann, so kann die menschliche Natur das Gesetz Gottes nicht lieben. (23.) Folglich gehen nicht alle, die Christen genannt werden, zu Christus hinüber (denn das Evangelium ist für Ungläubige verdeckt), sondern diejenigen, denen die Decke weggenommen wird. (24.) So wie diejenigen, die das Evangelium ohne gläubige Augen lesen, es am besten zu verstehen glauben, so bleibt ihnen die Kraft des Evangeliums völlig unbekannt. (25.) Genau dasselbe, was einst den Juden mit Mose und mit der Lesung des Gesetzes widerfuhr, das widerfährt auch den Kindern des Misstrauens und den Pseudochristen, die den Sinn des lebendigen Glaubens nicht gespürt haben, mit dem Evangelium. (26.) Deshalb ist es keine Neuigkeit, sondern eine alte fromme Wahrheit, wenn gesagt wird, dass Namenschristen wie Sophisten weder das Gesetz noch das Evangelium verstehen.

Karlstadts Beschäftigung mit dem Gesetz intensivierte sich im Herbst 1521. Die Vorrede der Schrift De legis litera an Melanchthon ist auf den 30. September des Jahres datiert.10 In unmittelbare zeitliche Nähe fällt die briefliche Intervention des kfstl. Mainzer Rates und Kanzlers Wolfgang Capito, der in Wittenberg Antinomismus witterte und den Propst des Allerheiligenstifts, Justus Jonas, aufforderte dagegen vorzugehen.11Karlstadt antwortete Capito apologetisch mit einem undatierten Kurzbrief.12 Die folgenden argumentativen Auseinandersetzungen mit der Gesetzesfrage durch Melanchthon und Karlstadt – wie hier in der vorliegenden Thesenreihe – sind möglicherweise von Capitos Anfrage beeinflusst.13 Diese Thesenreihe stellt das Gesetz als Instrument der Verdammnis dem Evangelium als Mittel der Gnade gegenüber und betont die Kraft des Glaubens und der evangelischen Liebe, doch für ein Herz, das das Evangelium erleuchtet aufnimmt, wird das Gesetz »süß«. Damit grenzt sich Karlstadt von einer antinomistischen Schlussfolgerung ab.


1Zu dieser Handschrift vgl. KGK I.2, Nr. 26, S. 365 f. Zu Heino Gottschalk, 1512–1529 Abt des Benediktinerklosters Oldenstadt bei Uelzen, KGK I.2, Nr. 26, S. 366 u. Nr. 58, S. 489; Hammer, Luther. Operationes in Psalmos, 207–210; Härtel, Gottschalk.
2Zu dieser Handschrift vgl. KGK 179 (Textstelle), und Hasse, Tauler, 205–208. Zu Schappeler vgl. KGK I.1, Nr. 1, S. 11 mit Anm. 1.
3Johannes Briesmann (1488–1549) war am 3.1.1520 in Wittenberg immatrikuliert worden (AAV 1, 87b,35); seine Promotion zum Baccalaureus formatus ist im Liber Decanorum (Faks.), fol. 33v vermerkt. Nach seinen Studien wurde er nach Cottbus berufen, wo er auf Grund seiner reformatorischen Predigten 1523 der Stadt verwiesen wurde. Im selben Jahr ging er nach Preußen und hielt am 27.9.1523 die erste evangelische Predigt im Dom zu Königsberg. Er war Mitverfasser der Preußischen Kirchenordnungen von 1525 und 1544 sowie am Aufbau der Universität Königsberg beteiligt; zwischen 1527 und 1531 wirkte er als Domprediger in Riga. Vgl. Stegmann, Preußen, 69 f.; 78–70; Schlageter, Franziskaner, 101–107; Neitmann, Luthers Rat, 89.
4S. KGK 202 (Textstelle). Bei dem zugehörigen Eintrag im Dekanatsbuch, geschrieben von Dekan Johannes Dölsch, ist ein Datierungsfehler unterlaufen. Er schrieb zunächst: »Die octobris prima«, ersetzte jedoch später »prima« durch »ultima« und ergänzte am Ende des Eintrags die Jahreszahl »xxj«. Vgl. Liber Decanorum (Faks.), fol. 33v . Dieses Datum stimmt mit der in Heino Gottschalks Abschrift angegebenen Datierung überein.
5HAB Wolfenbüttel, Li 5530 (35, 585), fol. [6v] , in dieser Edition die Handschrift der 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181).
7These 1 – MWA 4, 99,25; 103,20–25; 104,11 f.; These 2 – MWA 4, 102,36–103,1; 7–9; 12 f.; These 5 – MWA 4, 105,10; These 6 – MWA 4, 102,17 f.; These 11 – MWA 4, 108,18–20; These 15 – MWA 4, 108,23–25; These 16 – MWA 4, 109,19 f.; These 17 – MWA 4, 108,15 f.; These 18 – MWA 4, 104,20–24; These 19 – MWA 4, 108,12–15; 29 f.; These 20 – MWA 4, 111,7–12; These 21 – MWA 4, 104,22; 108,12 f.; These 22 – MWA 4, 108,24 f.; These 25 – MWA 4, 110,8–11. S. hierzu die Anmerkungen im folgenden KGK 202.
8Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 336 Anm. 32.
9Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 334–336. Die Hypothese der Verfasserschaft Melanchthons stützte sich auf die damals allein bekannte, anonyme Drucküberlieferung.
11Beilage zu KGK 196.
13Vgl. KGK 196.

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