1. Überlieferung
Frühdrucke:
Uon gelubden vnterꝛichtung ∥ Andꝛes Bo: von Ca⸗∥rolſladt Doctoꝛ ∥ Außlegung/ des xxx.capitel Numeri/ ∥ wilches von gelubden redet. ∥ Das bůchlein beſchleuſſet/ durch Bibliſch/ Chriſtlich ∥ rechte/ aber heylige ſchrifft.Das Pfaffen/ Monchē/ vn̄ ∥ Nonnen/ mit gutem gewiſſem/ vnd gottlichem willen/ ∥ ſich mogen vnd ſollen vermelen/ vnd yn eelıchen ſtand ∥ begeben/ vnerſuchte Rhomiſche diſpenſation oder ∥ nachgebung/ dıe auch gar vnnotlich iſt/ vnd ∥ gibet rath/ das obgenante perſonenn yhr ∥ gleyßneriſch leebenn/ tzuſampt kap⸗∥pen vnd kugeln abwerffen/ vn̄ ∥ ynn ein recht Chriſtlich ∥ leben tretten. ∥ [am Ende:] Gedruckt zu Wittembergk Nach Chriſt ge⸗∥purt Tauſent funffhundert vnnd ∥ ayn vnnd tzwentzigſten ∥ JAR ∥
Wittenberg: [Nickel Schirlentz], 1521.
4°, 32 Bl.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 2185.8° Helmst. (1).Weitere Exemplare: UB Paderborn, 18 in / Th 6117. — BSB München, 4 H.mon. 103m. — BSB München, 4 Exeg. 156m.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 50.
- VD 16 B 6245.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1954.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 39A.
Von gelübdten Vnderꝛichtung Andꝛe⸗∥as Bo:von Carolſtadt Doctoꝛ ∥ Außlegung/des .xxx.Capitel Num⸗∥eri welichs von gelübdten reden. ∥ Das buͤchlein beſchleüſſet/durch Bibliſch/Chriſtlych ∥ rechte/aber haylige gſchrifft.Das Pfaffen/Mün∥nichen/vnd Nun̄en/mit gůtem gewiſſen/vn̄ goͤt∥lichem willen/ſich mügen vnd ſoͤllen vermelen ∥ vnd ȷn̄ eelychen ſtand begeben/vnerſuͤchte ∥ Roͤmiſche diſpenſatiō oder nach gebūg ∥ die auch gar vnnotlich iſt/vnd gibt rat ∥ das obgenante perſonen jr gleyß-∥neriſch leben/zů ſampt kappn̄ vn̄ ∥ gugeln abwerffen/ vn̄ ȷn ain ∥ recht Chriſtlich leben ∥ tretten. ∥
[Augsburg]: [Melchior Ramminger], 1521.
4°, 32 Bl.
Editionsvorlage:
BSB München, 4 Exeg. 155.Weitere Exemplare: HAB Wolfenbüttel, 125.45 Quod.(13).
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 51.
- VD 16 B 6243.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1952.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 39B.
Uon gelubden vntterrichtung ∥ Andꝛes Bo:von Ca⸗∥rolſtadt Doctoꝛ. ∥ Außlegung des.xxx.Capitel Numeri/ ∥ wilches von gelubden redet. ∥ Das buchlein beſchleuſſet/durch Bibliſch/Chriſtlich rechte/ ∥ aber heylige ſchꝛifft.Das Pfaffen/Monchen/vnd Non⸗∥nen/mit gutem gewiſſem/vnd gotlichem wi len/ ∥ ſich mogen vnd ſollen vermechlē/vnd yn eeli⸗∥chen ſtand begeben/vnerſuchte Romiſche ∥ diſpēſation oder nachgebung/die auch ∥ gar vnnotlich iſt/vnd gibet rath/das ∥ obgenante perſonen yhr gleyßner⸗∥iſch leben/tzuſampt kappen vn̄ ∥ kugeln abwerffen/vnd yn ∥ einn recht Chriſtlich ∥ leben tretten. ∥
[Wien]: [Johann Singriener], 1521.
4°, 24 Bl.
Editionsvorlage:
BSB München, 4 Polem. 549.Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 53.
- VD 16 B 6244.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1953.
- Zorzin, Flugschriftenautor, 39C.
Von Gelübden vnderich-∥tung Andꝛes Bo. von ∥ Carolſtadt Doctoꝛ. ∥ Außlegung des.xxx.capitel Numeri/ ∥ welches von gelübden redet. ∥ Diß buͤchlin beſchlüſſet durch Bibliſch/Chriſtlich re-∥chte/aber heylige ſchꝛifft/Daß Pfaffen/München/vn̄ ∥ Nonnen/mit gůtem gewiſſen vnd goͤttlichem willē/ſich ∥ moͤgen und soͤllē vermelen/ vnd in̄ Eelichen ſtandt bege∥ben/vnerſůchte Roͤmiſche diſpenſation oder nachge∥bung/die auch gar vnnoͤdtlich iſt. Vnnd gibt ∥ rat/daß obgenante perſonen yr gleyßne⸗∥riſch leben/zů ſampt kappen vnd ∥ kugeln abwerffen/vnd in recht ∥ Chriſtlich leben tretten. ∥ Anno M. D. xxii. ∥
[Basel]: [Adam Petri], 1522.
4°, 35 Bl.
Editionsvorlage:
SB-PK Berlin, Cu 1208 R.Weitere Exemplare: UB Basel, FM1 XI 29 (hsl. Eintrag auf dem Titelblatt: Johannes Frank ∥ Anno dni 15.22; unten: kaufft um 17 haller). — SSB Augsburg, 4 Th H 545. — ThULB Jena, Wartburg Stiftung Eisenach Th 414. (hsl. Widmung an Erasmus Fabricius).
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, 52.
- VD 16 B 6246.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1955.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 39D.
Von der bei Nickel Schirlentz1 erschienenen Erstausgabe gehen die folgenden drei Nachdrucke aus: in Augsburg bei Melchior Ramminger,2 in Wien bei Johann Singriener3 und in Basel bei Adam Petri. Die vier Ausgaben weisen keine inhaltlichen Abweichungen auf, lediglich geringe sprachliche und syntaktische Besonderheiten,4 die auf den unterschiedlichen Produktionskontext zurückzuführen sind.
Edition:
- Furcha, Essential Carlstadt, 51–99 Nr. 3.
Literatur:
- Buckwalter, Priesterehe, 92–95.
2. Entstehung und Inhalt
Der erste Entwurf des hier edierten Textes kann in den späten Frühling/Sommer 1521 eingeordnet werden, also parallel zur Anfertigung und Drucklegung der anderen Schriften, die den Themen Zölibat und Klerikerehe gewidmet sind (KGK 181 und KGK 190), was auch die Übereinstimmung der Motive und Belege aufzeigt. Dies bestätigt der kurze Widmungsbrief Karlstadts an den Zehntgrafen von Kitzingen, Konrad Gutmann,5 der auf den 24. Juni datiert ist.6 Es ist aber anzunehmen, dass Von Gelübden Unterrichtung erst im folgenden Spätherbst, wahrscheinlich zwischen Ende Oktober und Anfang November 1521, veröffentlicht wurde. In der zweiten Novemberhälfte schickte Melanchthon eine Abschrift dieser Schrift – zusammen mit einem Text Luthers7 und einer Kopie seiner Loci8 – an Spalatin.9 Möglicherweise arbeitete Karlstadt noch nach Ende Juni an Von Gelübden Unterrichtung, auf jeden Fall ist die Verzögerung des Drucks mit der in jenen Monaten entstandenen Überlastung der Wittenberger Druckereien zu erklären. Luther selbst beschwert sich auf der Wartburg über die zögerliche und manchmal unbefriedigende Drucklegung seiner Werke bei Melchior Lotter d. J. und Rhau-Grunenberg.10 Der einzige Drucker, mit dem Karlstadt arbeiten konnte, war Nickel Schirlentz. Er hatte seine Tätigkeit mit Super coelibatu (KGK 190) Ende Juli erst aufgenommen und wurde im nächsten halben Jahr mit Texten regelrecht überschwemmt: Im August Reich Gottes (KGK 191), im September die Loci tres und die typographisch sehr anspruchsvolle Glosse des Ablasses (KGK 194 und KGK 193); im Oktober De legis litera (KGK 197) und die 138 Articuli (KGK 199); wahrscheinlich zwischen Ende Oktober und Anfang November die hier edierte Schrift Von Gelübden Unterrichtung, und zum Jahresende Von Anbetung der Zeichen (KGK 204), Von beiden Gestalten der Messe (KGK 205), Sendbrief Erklärung Pauli (KGK 208) und Predigt vom Empfang des Sakraments (KGK 210).
Nach der Veröffentlichung von Super coelibatu (KGK 190) hatte sich die Diskussion um die Klerikerehe in Wittenberg intensiviert und richtete sich zunehmend auf das Wesen der Gelübde und die Möglichkeit, sie aufzulösen. Nicht nur Karlstadt, sondern auch Melanchthon hatte sich zu diesem Thema in einem Abschnitt seiner Loci geäußert und zunächst eine Unterscheidung zwischen praecepta und consilia vorgenommen: Die Heilige Schrift bestehe fast ausschließlich aus praecepta, die klar aufzeigten, was gottgefällig sei und was nicht; es gäbe nur ein einziges consilium, und zwar das zum Zölibat, das allerdings nicht für alle verständlich und bindend sei.11 Weiterhin wies Melanchthon darauf hin, dass das Zölibatsgelübde, wenn es nur äußerlich und daher nicht von der göttlichen Gabe der Keuschheit geleitet sei, die Erfüllung eines der Hauptgebote der Schrift – »non concupisces« gegen die Grund-Sünde der Begierde – nicht ermögliche.12 Der darauffolgende Abschnitt über die Mönchsgelübde zeigte deren fehlendes biblisches Fundament auf: Sie waren nach dem mosaischen Gesetz erlaubt, aber nicht vorgeschrieben; das Evangelium verkündet dagegen eine vollständige geistliche Freiheit, der die Knechtschaft der Abhängigkeit von Gelübden völlig unbekannt ist.13
In seiner späteren Abhandlung De votis lehnt Luther die Gelübde ab, weil sie dem Glauben und der evangelischen Freiheit entgegenstehen.14 Über die konkreten Auswirkungen dieser theologischen Prämissen waren die Meinungen jedoch gespalten. Obwohl Melanchthon in seinen Loci nicht offen für die Auflösung von Gelübden eintrat, betrachtete er sie dennoch als nichtig, insofern sie im Widerspruch zur Schrift stünden, was ihre Aufhebung folgerichtig erscheinen ließ. Karlstadt hatte noch deutlicher Stellung bezogen und bereits in den Thesen zum Zölibat wie in deren späterem Kommentar (KGK 181 und KGK 190) festgestellt, dass sowohl Priester als auch Mönche ihre Gelübde auflösen und heiraten könnten, anstatt in der Begierde und damit in der Sünde zu verharren, um das Gelübde des Zölibats äußerlich zu erfüllen. Die Möglichkeit, ein Gelübde zu brechen, wurde in der hier edierten Von Gelübden Unterrichtung ausführlich erörtert. Melanchthon behauptete, die Schrift sei sogar der älteren Abhandlung Super coelibatu vorzuziehen.15 Gerade über die Auflösung der Gelübde, besonders denen von Mönchen und Nonnen, hatte Luther im Sommer/Herbst 1521 seine differente Meinung bekundet.16
Schon in seinem Brief an Melanchthon von Anfang August, nachdem er die 7 Conclusiones de coelibatu und die ersten zwei Bögen von Super coelibatu gelesen hatte, lehnte Luther es entschieden ab, Mönche und Priester in der Argumentation gegen den Zölibat gleichzusetzen: Während Priester als freier Stand eingeführt worden seien und Paulus deshalb deren Zölibat als dämonische Lehre verdammt habe,17 hätten stattdessen Mönche diesen Zustand frei gewählt.18 Vor allem aber kritisierte er Karlstadts Argument, dass es besser sei, durch einen Bruch des Gelübdes zu sündigen als in Unzucht zu leben.19 In Luthers Augen war dies kein biblisches Argument, sondern ein menschlicher, rationaler Syllogismus, der keine endgültige, d. h. göttliche Wahrheit offenbare und damit das Gewissen nicht beruhigen könne.20 Auch die in Super coelibatu zitierten alttestamentlichen Textstellen, die die mögliche Auflösung des Keuschheitsgelübdes begründeten, seien nicht überzeugend.21 Andererseits stimmte Luther der in Wittenberg postulierten grundsätzlichen Unvereinbarkeit von christlicher Freiheit und Mönchsgelübden zu.22
Anfang September griff Luther diese Frage im Austausch mit Melanchthon wieder auf, der nun dazu neigte, die auch von Karlstadt vertretene Auffassung zu teilen, dass Gelübde zu brechen seien, wenn man sie nicht ohne Sünde halten könne. Luther lehnte diese Argumentation entschieden ab: Wenn es ausreiche, ein Gelübde nicht erfüllen zu können, um es zu brechen, könne man nach demselben Prinzip sogar die Zehn Gebote ablehnen.23 Das Kriterium von 1. Kor 7,9 – »Melius est enim nubere, quam uri«– scheint ihm zweitrangig zu sein.24 Stattdessen zielt Luther darauf ab, dass Gelübde – im Gegensatz zu Geboten – freiwillig abgelegt würden und die Heilige Schrift (z. B. in Ps 75(76),12) betone, dass Gelübde gehalten werden müssten. Angesichts dieser Vorschrift könne die Vernunft nicht eingreifen; sie dürfe ein Gelübde nicht aufheben, schon gar nicht mit dem Argument, dass es nicht erfüllt werden könne. Am besten aber sei es, kein Gelübde abzulegen. Luther identifiziert damit klar den Streitpunkt mit seinen Wittenberger Kollegen, der in der Alternative »ut valeat, aut non valeat votum« kulminiert.25
Luther greift dann den von Melanchthon in seinen Loci eingeführten Gegensatz zwischen evangelischer Freiheit und Sklaverei der Gelübde auf und macht dabei deutlich, dass es um die Gelübde gehe und nicht um die damit verbundene Sklaverei.26 Die evangelische Freiheit bestehe auch unter der Last des Gesetzes. Obwohl beide unvereinbar seien, schließen sie sich nicht gegenseitig aus, insofern die Freiheit von den äußeren Dingen den Christ nicht von den Vorschriften des göttlichen Gesetzes löse. Entscheidend für Luther ist daher nicht, das Gesetz und damit auch die Gelübde vollständig aufzuheben, indem sie als gefährlich oder der evangelischen Freiheit entgegenstehend eingestuft werden, sondern Gesetz und Gelübde in die evangelische Freiheit einzubeziehen, d. h. sie unter die freien Entscheidungen des wahren Christen zu subsummieren.27
Luther stellt also der in den Loci formulierten These ein klares Argument entgegen: Wer ein Gelübde mit einer der evangelischen Freiheit entgegengesetzten inneren Haltung abgelegt habe (d. h. mit dem Gedanken, dadurch Rechtfertigung und Heil zu erlangen), müsse sich von diesem Joch befreien und sein Gelübde unter Anathema verdammen.28 Dazu gehören diejenigen, die ein Mönchsgelübde in der Überzeugung abgelegt haben, um einen Vorteil vor Gott gegenüber anderen zu erlangen und so die Erlösung leichter zu verdienen. Eine solche Abgötterei könne, so Luther, beseitigt werden, indem man entweder das Gelübde widerrufe oder es in wahrer geistlicher Freiheit – also ohne die Hoffnung, etwas dafür zu erhalten – neu formuliere.29 Während er damit zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie seine Wittenberger Kollegen kommt – fast alle menschlichen Gelübde müssen aufgelöst werden30–, unterscheidet sich Luther von ihnen in der Argumentation.31
Es ist nicht bekannt, ob und inwieweit Karlstadt diese Fragestellungen auch mit Luther diskutierte oder ob er sich nur mit seinen Kollegen in Wittenberg, vor allem mit Melanchthon, darüber austauschte. Ebensowenig lässt sich feststellen, ob er vor dem Hintergrund solcher Überlegungen den hier edierten Traktat zwischen Ende Juni, auf das der Widmungsbrief datiert ist, und dem darauffolgenden Herbst, in dem der Text höchstwahrscheinlich gedruckt wurde, überarbeitet hat. KarlstadtsVon Gelübden Unterrichtung lässt sich jedoch in die damalige Debatte über die Auflösung ungültiger Versprechen einbinden, auf die auch Luther im Sommer/Herbst 1521 reagierte und die im November des Jahres zu den Klosteraustritten in Wittenberg beitrug.32
Dies zeigt schon der Widmungsbrief mit der Aufforderung, jedes Gelübde mit dem Salz der göttlichen Weisheit zu würzen, an der gerade die Prediger besonders reich sein sollten. Sie lehre, dass man Gelübde nur mit größter Vorsicht formulieren und nur und ausschließlich an Gott richten solle. Unter dieser Prämisse nimmt Karlstadt die Kritik am Papsttum und an der römisch-katholischen Kirche, die stattdessen ein Salz der Torheit streue, auf und knüpft damit an die bereits in Super coelibatu (KGK 190) artikulierten Einwände an, erweitert aber deren polemische Dimension. Die Kritik richtet sich nämlich nicht nur gegen die Zölibatslehre, sondern ganz allgemein gegen all jene Gelübde, Wallfahrten, Spenden und Traditionen, durch welche die Gläubigen mehr die menschlichen Gesetze oder falschen Heiligen als Gott ehrten.
Die darauffolgenden Passagen der Vorrede entwickeln eine tiefgreifende Ablehnung des Heiligenkults, der als Beweis für den mangelnden Glauben an die göttliche, allein heilbringende Gnade interpretiert wird. Gleichzeitig unterscheidet Karlstadt zwischen wahren und falschen Propheten und verdeutlicht, wie auch letztere mit ihren falschen Wundern ein göttliches Mittel zur Prüfung der Christen sein können. Die wahren Heiligen vertrauten die Gläubigen Gott an und beanspruchten für sich selbst keine Macht über die Seelen. Sie wüssten, dass die gottgefälligen Gelübde und Opfer nur geistlich seien – wie auch in den Thesen vom Mai 1521 (KGK 179 und KGK 180) erläutert – und dass sie in einem täglichen Gebet und Streben nach Gott bestünden.
Karlstadt formuliert anschließend die These, dass Heiligenverehrung gegen das erste Gebot (2. Mose 20,3–6 u. 5. Mose 5,7–10) verstoße, die auf den nachfolgenden Seiten ausführlich erläutert ist. Liebe und Ehre, die allein Gott geschuldet seien, erforderten eine Beschneidung des Herzens,33 d. h. eine sorgfältige Ablehnung von allem, was eine unmittelbare und vollkommene geistliche Verbindung mit dem Vater beeinträchtigen könnte, einschließlich der Bilder, auf deren Gebrauch Karlstadt im Februar 1522 mit seiner Schrift Von Abtuung der Bilder (KGK V) eingeht. Die Beschneidung der Herzen sei der pars destruens, der in Buße und Selbstverleugnung bestehe. Es folgt der pars construens der Rechtfertigung, d. h. die Erschaffung einer neuen inneren und geistigen Kreatur durch göttliche Gnade.
Wenn durch diese geistige Beschneidung alle Neigungen zu den weltlichen Kreaturen aus den Herzen der Gläubigen entfernt werden sollen, was, fragt Karlstadt, soll dann aus der Nächstenliebe werden? In den folgenden Abschnitten wird daher ein neues Verhältnis zwischen dem ersten und zweiten Gebot vorgeschlagen. Zuerst wiederholt Karlstadt, nur ein von Gott beschnittenes Herz könne das erste Gebot erfüllen und gottgefällige Werke vollbringen. Auch die Keuschheit, eine besondere himmlische Gabe, gehöre zur Schaffung eines neuen Herzens und eines neuen Geistes in den gerechtfertigten Gläubigen. Die vollkommene Liebe zu Gott präge insoweit die gesamte Dynamik der Rechtfertigung sola gratia. Auch das zweite Gebot wird auf dieses Grundprinzip zurückgeführt: die Aufforderung, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, sei so zu verstehen, dass man den Nächsten nicht mehr als sich selbst lieben solle, dass man also mit den gleichen Vorbehalten jedes andere Geschöpf, einschließlich der Engel und Heiligen, lieben und ehren dürfe. Das bedeutet nicht, dass die Nächstenliebe nicht notwendig sei, sondern dass sie immer der Liebe zu Gott untergeordnet werden müsse.
Es folgt der Kommentar zu 4. Mose 30. Der erste Vers ist Anlass für die Gegenüberstellung von Mose, einem wahren Propheten, der das Wort verkündet, und den römischen Päpsten, falschen Propheten, die das Wort verfälschen und deshalb auf dessen Grundlage verurteilt werden müssen. Dieser durchgehende Bezug auf die Schrift im radikalen Gegensatz zu den kirchenrechtlichen Gesetzen und Traditionen taucht in den folgenden Abschnitten immer wieder auf. Die bereits in Super coelibatu (KGK 190) dargelegten hermeneutischen Normen gelten auch in Von Gelübden Unterrichtung, womit sich alle Schriftstellen vor dem Hintergrund der vollkommenen Übereinstimmung zwischen den beiden Testamenten auslegen lassen. Das Ziel des umfangreichen Rückgriffs auf alttestamentliche Textpassagen ist die Ausräumung aller scheinbaren Widersprüche zwischen den verschiedenen Bibelstellen, zum Beispiel zwischen 3. Mose 5,22 und 27 und 5. Mose 23, um im Sinne der eigenen Argumentation die paulinische Lehre von 1. Kor 7 und 1. Tim 5 auszulegen – zwei für die Ablehnung der Zölibatslehre entscheidenden Bibelstellen. Die Schrift sei die eindeutige und einheitliche Offenbarung der göttlichen Wahrheit, auf die sich die Gläubigen jederzeit berufen könnten, um das ihr Widersprechende zu verwerfen und ihr tägliches Leben entsprechend auszurichten. Das gelte natürlich auch für Gelübde: Allein die Bibel zeige, welche Gelübde zu gelten haben und inwieweit ihre Einhaltung zulässig sei.
Was genau die Gelübde sind und ob sie gebrochen werden können, steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Kommentars zu 4. Mose 30,2 f., dem Karlstadt eine wesentlich ausführlichere Behandlung als den übrigen Versen des Kapitels widmet. Die bereits in den vorangegangenen Schriften (KGK 181, KGK 189und KGK 190) formulierten Thesen gegen das Zölibatsgelübde werden wieder angeführt und präzisiert: Die Keuschheit sei eine besondere Gabe Gottes und könne nicht anderen Menschen aufgezwungen werden; der Mensch könne sich nicht mit eigenen Kräften von der Sünde befreien, wie er selbst in der Vorbehaltsklausel »Quantum fragilitas humana permittit« zugibt; eine äußere Keuschheit vorzutäuschen, wenn man innerlich brenne, sei Heuchelei, die zu allen Arten von Sünde treibe; so wie Paulus befehle, Frauen vor dem sechzigsten Lebensjahr nicht als Witwe einzutragen, so solle auch ein Keuschheitsgelübde nicht vor diesem Alter abgelegt werden; ein Gelübde zu brechen sei eine Sünde, aber es nicht zu brechen und zu »brennen«, sei eine noch größere. Diese Argumente dienen in der hier edierten Schrift als Prämissen für die eigentliche Grundthese: Alle der Schrift und daher Gottes Willen widersprechenden Gelübde seien zu lösen; insbesondere könne das Keuschheitsgelübde aufgelöst werden, wenn es vor dem sechzigsten Lebensjahr abgelegt wurde.
Auf Grund biblischer Belege, z. B. 5. Mose 23, stellt Karlstadt fest, dass ein Gelübde nicht gebrochen werden dürfe. Was man Gott aufrichtig in Wort und Wille versprochen habe, solle man auch in die Tat umsetzen. Wie jede andere Schriftstelle können aber auch diese nur im Zusammenhang mit anderen Bibelpassagen völlig verstanden werden. So erlaube 3. Mose 27 ein Gelübde durch die Zahlung eines angemessenen Geldbetrages zu lösen. Dieses Prinzip gelte auch für Mönche und Nonnen. Allerdings sei diese alttestamentliche Vorschrift nicht mehr buchstäblich zu nehmen: Mönche und Nonnen sollten keine Geldsumme zahlen, schon gar nicht an jene Vertreter der römisch-katholischen Kirche, die die Erfinder der Keuschheitsgelübde und der damit verbundenen teuren Dispense seien. Vielmehr seien die Opfergaben, die Mönche und Nonnen zur Auflösung ihrer Gelübde zahlen sollen, rein spiritueller Natur und müssten an die inneren Tempel abgegeben werden.34 Ein Gelübde müsse umso mehr abgelöst werden, wenn es nicht gottgefällig sei, wie 5. Mose 23 belegt. Karlstadt rät daher allen – Mönchen, Nonnen und Priestern –, die vor dem sechzigsten Lebensjahr Gelübde abgelegt haben, diese aufzulösen. Wenn dieselben Gelübde ihnen mit Gewalt und gegen ihr Gewissen auferlegt wurden, seien sie als ungültig zu betrachten. Für diejenigen, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, ohne die Gabe der Keuschheit zu besitzen, sei es schließlich notwendig, das Gelübde aufzulösen und zu heiraten, da die Ehe ein Heilmittel für die Sünde darstelle, in die sie sonst zwangsläufig fallen würden.
Die Umformulierung der gesamten religiösen Erfahrung im Zeichen der Spiritualisierung und ihrer Entinstitutionalisierung – vor deren Hintergrund die traditionellen Gelübde und insbesondere das Zölibat für schriftwidrig und somit nichtig erklärt werden – dient in Karlstadts Augen dazu, die evangelische Freiheit zu bewahren.
Der Geist und die Wahrheit seien nicht an einen Ort oder eine materielle Gegebenheit gebunden, sondern ruhen allein auf Gott und würden durch den Glauben an Gott selbst verwirklicht. Deshalb seien die wahren Anbeter Gottes frei von allen räumlichen und materiellen Zwängen.
Ähnlich wie Luther beschreibt auch Karlstadt die Lebenssituation der Gläubigen in ihrer Vielschichtigkeit und erinnert mit dem Beispiel des Apostels Paulus daran, dass Christen ihre geistliche Freiheit auch bewahren müssen, wenn sie sich zum Diener ihres Nächsten machten. Zu dieser christlichen Freiheit seien Mönche, Nonnen und Priester aufgerufen: Es gehe nicht nur um ihr geistliches Heil, sondern auch um die gegenseitige Erziehung. Alle Christen seien daher aufgefordert, sich der Fesseln menschlicher Traditionen und päpstlicher Gesetze sowie der Last der Gelübde zu entledigen, um nicht nur Gott in Wahrheit und Geist frei zu dienen, sondern auch den Nächsten durch das Vorbild der eigenen Freiheit zu belehren und zu unterstützen. In diesem Sinne stimmen das erste und das zweite Gebot für Karlstadt völlig überein.
Den anschließende Kommentar zu 4. Mose 3–6, wonach eine junge Frau ohne Zustimmung des Vaters kein Gelübde ablegen dürfe, verwendet Karlstadt als Kritik an der damaligen Gewohnheit, Kinder schon in jungen Jahren ins Kloster zu schicken. Die Eltern sollten darauf achten, dass dies nicht passiere. Wenn die Eltern diejenigen seien, die ihre Kinder dazu drängten, törichte Gelübde abzulegen, müssten sie ignoriert werden. Eine ähnliche Argumentation wird im Kommentar zu 4. Mose 6–8 angeführt: Der Ehemann habe das Recht, das Gelübde seiner Ehefrau zu bestätigen oder aufzulösen. Erweisen sich die Ehemänner jedoch als so heuchlerisch wie die römischen Päpste, seien sie zu ignorieren und die Ehefrauen sollen sich stattdessen selbst an der Bibel orientieren. Denn durch die Schrift klinge die Stimme Christi, des himmlischen Bräutigams, dem alle – Männer und Frauen, Diener und Päpste, Bischöfe und Mönche – folgen müssten.
Dem Verhältnis zwischen Ehefrau und Ehemann und der Möglichkeit des Ehemanns, das Gelübde der Ehefrau aufzuheben oder zu bestätigen, sind die darauffolgenden Erläuterungen zu 4. Mose 30,10–15 gewidmet. Die Schrift Von Gelübden Unterrichtung schließt mit einer kurzen, dem Leipziger Kaufmann Georg Reich gewidmeten Rede, in der Karlstadt mit Hinweis auf den letzten Vers – 4. Mose 30,16– die Überlegenheit des Mannes über die Frau präzisiert. Ergänzend zur Ablehnung des Zölibatsgelübdes leiten diese letzten Abschnitte Überlegungen zum Thema Familie und Ehe ein, die hier allerdings nur angedeutet sind.