1. Überlieferung
Frühdrucke:
ARTICVLI SVPER CELEBRATIONE ∥ Miſſarum, Sacramenti Panis & Vini, & diſcrimine ∥ præcepti & promiſſionis,& alıjs. ∥ Andreæ Bo. Carolo. ∥ Sic Themata ſeu articulos aliquot digeſſi, vt eis uelut libello queas ∥ uti. Nempe, Lector bone, ſequentia præcedentium rationem red-∥dunt,Feſtināter & curſim,hocipſum,quod eſt editum,boni conſule, ∥ Rem per ſcripturam tanquam aurificis ſtateram exige quæſo. ∥ Alioqui ſacras literas appellabo. Vale fœliciter. ∥
[Wittenberg]: [Nickel Schirlentz], .
4°, 5 Bl., A1–5.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: G 69.4° Helmst. (10).Weitere Exemplare: UB Basel, FP IX 4.13. — UB Heidelberg, Salem 82,27 RES.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 67.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1852.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 38A.
- VD 16 B 6110.
ARTICV-∥LI SVPER CELEBRATIONE ∥ MISSARVM, SACRA⸗∥menti Panis & Vini, ∥ & diſcrımine ∥ præcepti & promißionis, & alijs, ∥ Andræ Bo. Carolo. ∥
in:
Luther, Martin; Melanchthon, Philipp; Karlstadt, Andreas Bodenstein von
LVTHERI , ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ, in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, Bl. A5r–B4v.
8°, [56] Bl., A8–G8, fol. A1v und G8v leer.
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020, 13.Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77.Cc.281. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, Ag 8 548d. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 1516. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 2272. — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, LC590/1 (Provenienz Johannes Lang). — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 L 7642.
Druck B ist ein Nachdruck des Erst- und Separatdrucks A inklusive Abdruck des gesamten Titels. Aus diesem ergibt insbesondere folgende Passage für den Separatdruck durchaus, für den Nachdruck jedoch keinen Sinn: »Sic Themata. seu articulos aliquot digessi, ut eis velut libello queam uti.«1
Handschrift:
Handschriften:
Abschrift des 18. Jahrhunderts von unbekannter Hand.
Handschrift a ist eine Abschrift von Druck A oder einer mit A nahezu identischen Vorlage. Die Ordnung der Blätter ist gestört.2 Den Titel der Thesenreihe gibt fol. 288v wieder, es folgen die Thesen 1 bis 92 samt Präskript mit Anlass, Präses und Zeitpunkt der Disputation auf fol. 285r–286v. Die restlichen Thesen hat dann fol. 289r–v. Handschrift b ist eine spätere Abschrift des 18. Jahrhunderts.3
Edition:
- Barge, Karlstadt 1, 484–490.
Literatur:
- Goebel, Abendmahlslehre, 334–338.
- Jäger, Carlstadt, 221–227.
- Barge, Karlstadt 1, 484–490 Nr. 18.
2. Entstehung und Inhalt
Das Präskript der Thesen mit Disputationsanlass, Namen der Respondenten und der Datierung der 138 Articuli überliefern der Erst- und Separatdruck A, der Nachdruck B in der Basler Thesensammlung sowie die Abschrift Christoph Schappelers (Handschrift a). Die Thesen wurden am 17. Oktober 1521 unter dem Vorsitz Karlstadts anläßlich der Doppelpromotionen von Gottschalk Crop/Kropp4 und Gottschalk Cruse/Crause (hier Crusse)5 zum Baccalaureus biblicus disputiert.6 Das Präskript kündigt die Disputation im Futur an und ist daher eine direkte Übernahme eines etwaigen Plakatdrucks. Der Separatdruck wird unmittelbar nach der Disputation gedruckt worden sein, wie es das Titelblatt ausdrücklich hervorhebt. Die zweifache Versicherung auf dem Titelblatt und in der dem Präskript folgenden Protestatio, allein die Heilige Schrift anzurufen, ihr zu weichen und beizustimmen, macht deutlich, wie heikel und umkämpft die Thematik war.
Über eine biblisch gerechte Ordnung der Messe und Erteilung des Abendmahls diskutierten die Wittenberger Theologen intensiv seit dem Frühjahr 1521. Allein die Praxis des Allerheiligenstifts, an dem sich die Messen stetig zu einem nahezu dauerhaften Betrieb vermehrten, war ein hinreichender Stein des Anstoßes.7 Den Anlass für die Abhaltung der großen Disputation über die Feier der Messe, das Sakrament und den Unterschied von Gebot und Verheißung, niedergelegt in den 138 Articuli, lieferte aber die Erteilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt im Augustinerkloster von Wittenberg am 6. Oktober 1521. Der Augustinereremit Gabriel Zwilling hatte in einer elektrisierenden Predigt betont, dass seine Mönchsbrüder keine Privat- und Seelmessen mehr abhalten würden, die Anbetung des Sakraments Idolatrie sei, das Abendmahl kein Opfer, sondern nur eine Gedächtnisfeier und die Gläubigen sich von den papistischen Messen fernhalten sollten.8Kfst. Friedrich III. waren die Ereignisse schnell zu Ohren gekommen, sein Kanzler Gregor Brück holte selbst in Wittenberg Erkundigungen ein.9 Seine Priorität war die Vermeidung von Aufruhr; zur Klärung der Sachfragen forderte er eine Beteiligung der Universität.10 Eine Abordnung der Universität in Gestalt von Karlstadt, Justus Jonas, Johannes Dölsch und Philipp Melanchthon hatte bereits am 8. Oktober das Augustinerkloster aufgesucht.11Stiftskapitel und Universität missbilligten die Aufhebung der Messordnung, sprachen sich aber offiziell gegen die Anbetung des Sakraments aus, da dies im Widerspruch zur Heiligen Schrift stünde. Auf kfstl. Befehl sollte eine eingehendere Untersuchung stattfinden, die einer Kommission übertragen wurde, der Vizerektor Tilemann Plettner, Jonas, Karlstadt, Dölsch, Melanchthon, Nikolaus von Amsdorf, Hieronymus Schurff und der kfstl. Rat Christian Beyer angehörten.12 Am 12. Oktober besuchten sie das Augustinerkloster,13 einen Tag später antwortete Zwilling mit einer Predigt, die jeden Missbrauch der Messe widerrief.14 Nun forderte der Kurfürst die Universität dazu auf, ein Gutachten über die Messe zu erstellen.15 Die 138 Articuli und ihre unmittelbar anschließende Diskussion bildeten die Grundlage des ersten universitären Gutachtens vom 20. Oktober 1521.16
Die disputierten Themen der 138 Articuli reichen von der bibelgemäßen Ordnung der Messhandlungen und der Austeilung des Abendmahls bis zur Frage des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium in Hinsicht auf die Kommunion. Sie spiegeln die gesamte Bandbreite der in Wittenberg im Herbst 1521 kontrovers diskutierten Fragen. Ein neu hinzugetretener Streitpunkt war, ob Privatmessen weiterhin abzuhalten seien. Luther hatte sich in einem Brief an Melanchthon am 1. August 1521 negativ über Privatmessen geäußert.17 Mit den Thesen für die Disputation von Justus Jonas zum Lizentiaten der Theologie am 24. September 1521 hatte Karlstadt die Feier der bibelgerechten Form der Messe über das Ärgernis (der Schwachen) gestellt.18 Hier aber lässt er Thesen disputieren, die eine Abschaffung der Privatmesse auf Grund fehlender biblischer Begründung zurückhaltend sehen.
Die 138 Articuli teilen sich in vier Abschnitte auf: 1. De promissione et praecepto (Über die Verheißung und die Vorschrift); 2. De pane Christi (Vom Brot Christi); 3. De adoratione panis (Von der Anbetung des Brotes); 4. De celebratione missae (Von der Messfeier).
Der erste Teil mit 24 Thesen betont die richtige Einstellung des Kommunizierenden beim Akt der Kommunion. Das Vertrauen in die Verheißung Gottes sei für den Glauben relevant. Karlstadt macht einen scharfen Gegensatz zur Vorschrift bzw. dem Gesetz auf, das als Stimme des Schreckens und des Zorns verbiete und befehle, während die Verheißung Freude, Frieden, Milde und Glauben sei, den Schöpfer zeige und verkündige. Die Verheißung verkünde, dass der Verheißende das Verheißene tun könne und Gott allein rechtfertige. Der zweite Abschnitt mit 18 Thesen stellt zuerst fest, dass Christus das wahre himmlische und lebendige Brot ist und wendet sich dann gegen die Verdammung der von Luther propagierten Realpräsenz Christi durch die Pariser Universität.19 Wenn das Brot, wie in der Transsubstantiationslehre behauptet, aufhöre, Brot zu sein, sei Christi Satz »Nehmt das Brot, das ist mein Leib« (Mt 26,26), reiner Unsinn.20 Die These vertritt die Realpräsenz Christi in der Kommunion. Die Notwendigkeit des Glaubens bestehe um des Glaubens willen (These 40 f.). Im dritten Abschnitt mit 16 Thesen verteidigt Karlstadt die Möglichkeit der Verehrung des Brotes und wendet sich damit, ohne die Notwendigkeit einer Veneration zu postulieren, gegen die Position der Augustiner und Zwillings.21 Die Zeremonie der Elevation stufen die Thesen als bedeutungslos ein. Nicht nur die den alttestamentlichen Beschreibungen von Opferteilungen nachgebildeten Handlungen des Schwenkens der Hostie lehnt Karlstadt ab. Wichtiger für ihn ist, dass Priester, die das Sakrament erheben und es dabei den Umstehenden, die danach hungern, nicht reichten, Missbrauch begehen. Denn das Sakrament sei kein Opfer, sondern Speise der Gläubigen.22
Der vierte Abschnitt über die Messfeier besitzt den größten Umfang (80 Thesen) der vier Teile der 138 Articuli. Er wendet sich gegen jegliche Bräuche der Messfeier, die der biblischen Überlieferung entgegenstünden. An erster Stelle steht, dass die Priester das Wort Gottes bei der Sakramentsfeier unterdrückten und verbergen würden.23 Jede falsche, aber auch jede schlechte Ausübung der Messe sei abzuschaffen; dazu gehöre in erster Linie der Entzug des Kelches in der Austeilung des Sakraments sub una specie. Karlstadt knüpft an seine Thesen vom 19. Juli 1521 an, nach denen nicht nur die Austeilung, sondern auch der Empfang der Kommunion in einer Gestalt Sünde sei.24 Das Zeichen des Kelchs stehe für die Verheißung der Ablösung der Sünden, das Zeichen des Brots für die Verheißung des ewigen Lebens. Beide Zeichen haben eine biblische Begründung. Daher sei es besser, das Sakrament gar nicht zu empfangen, als unbiblisch nur unter einer Gestalt. Dies bezieht sich aber in erster Linie auf eine Austeilung des Abendmahls in der Gemeinde durch den Priester.
Gegen die Privatmesse spreche dies jedoch nicht, da es fern des Abendmahls für die Gemeinde keinen Schaden anrichte, unter einer Gestalt zu kommunizieren.25 Schließlich könne man für sich die Verheißungen auch ohne Zeichen essen.26 Die Verdammung der Privatmesse, wie sie die Augustiner vornehmen (und auch Luther bereits vorgenommen hatte), habe keine Norm im Neuen Testament, andernfalls müssten bei solch strenger Auslegung immer 13 Personen kommunizieren.27 Dennoch sei anzuraten, dass sich ein evangelischer Christ einer Messe fernhalte, wenn sie nicht sub utraque gefeiert werde.
Über den Ablauf der Disputation und die daran anschließende Diskussion gibt es zwei Berichte der Studenten Felix Ulscenius und Albert Burer.28 Die Disputation war ein bedeutendes akademisches Ereignis, das auch Mönche aus dem Augustinerkloster besuchten; ebenso beteiligten sich Philipp Melanchthon und der neue Propst des Allerheiligenstifts, Justus Jonas, an der Diskussion. Gemäß Burers Bericht argumentierte Karlstadt auf einem hohen theologischen Niveau und mit großem Geschick, indem er versuchte, konträre Standpunkte hervorzulocken.29 Er habe sich zugleich gegen eine zu radikale Reformpraxis und ein zu schnelles, rücksichtsloses Vorgehen in der Messfrage gewandt, da dies der christlichen Liebe Abbruch tue. Reformen brauchten ein festes Fundament und seien nur mit Rücksicht auf die Gesamtheit der Gemeinde durchzuführen. Daher sei eine Abschaffung der [privaten] Messe nur mit Zustimmung der gesamten versammelten Gemeinde zu erwirken.30 Daraufhin behaupteten die anwesenden Augustinermönche, dass es wichtiger sei, den Glauben nicht zu beeinträchtigen und auf diese Weise den Missbrauch der Messe abzuschaffen.31Diese Position unterstützte Melanchthon, der für die Abschaffung obsoleter Institutionen plädierte und die ablehnende Haltung des Paulus zur Beschneidung als biblisches Beispiel anführte.32 Die Augustiner erklärten, dass sie als exemter Orden im eigenen Rechtsbezirk nicht an die Zustimmung der Gemeinde gebunden seien und daher eine eigene Messordnung aufstellen könnten. In der Frage der Anbetung der Hostie aber blieben sie bei Karlstadts Position. Die anschließend gestellte Frage, wem das Recht zur gottesdienstlichen Reform zustehe, beantworteten die Augustinermönche für sich, dass sie das Beispiel Christi auf ihrer Seite hätten, doch erkannte Karlstadt keinen unumstößlichen Schriftbeweis für die Abschaffung der Privatmessen; stellte sogar demjenigen einen Goldgulden in Aussicht, der ihm einen Beleg liefere. Wenn sie abgeschafft würden, dann nur im Einvernehmen mit dem Rat,33 im Übrigen seien die von Christus eingerichteten Institutionen zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Melanchthon, der sich in der Diskussion als der radikalere Vertreter erwies, lobte, dass nun endlich Reformen in die Tat überführt würden, wünsche doch auch Karlstadt die Erneuerung.34 Der bejahte dies, allerdings sei ohne Tumult und ohne Anlass zu gegenseitiger Verleumdung vorzugehen. Einem anwesenden Humanisten aus Erfurt, der den Ton der Debatte als verletzend und das Verlassen des humanistischen, abwägenden Reformwegs im Sinne des Erasmus beklagte, entgegnete Karlstadt, dass nun doch zuerst auf der Grundlage der Evangelien das Ärgernis der Missbräuche abzustellen sei. Danach würde sich der Ton der Debatte wieder beruhigen.35 Es folgte eine vehemente Tirade des Propstes Justus Jonas gegen die Missbräuche der Messe und ihre Zeremonien, woraus sich für ihn eine völlige Abschaffung der Messe ergab.36 Das Ergebnis der Diskussion war jedoch, dass die Messe stets sub utraque specie und nur noch an einigen Tagen abgehalten werden sollte.37
Die 138 Articuli markieren die eigenständige Position von Karlstadts Theologie im Gefüge der Wittenberger Lehre. Während Luther in der Gründonnerstagspredigt 1521 die Elevation beibehielt und in ihr ein Zeichen der Zusage an die Verheißung für das Kirchenvolk sah, sie aber zugleich radikal des Opfercharakters entkleidete,38 wertet Karlstadt sie als bedeutungslos ab, sodass sie aus dem Ablauf des Gottesdienstes ausgeschieden werden könne. Die Verehrung des Brotes wiederum möchte er gegen die Gruppe der Wittenberger Augustiner aufrechterhalten. Diese richteten sich wie Luther, Melanchthon und der Propst Jonas streng gegen Privatmessen;39 dagegen möchte Karlstadt sie, da er ihre mangelnde Konsensualität mit der Bibel nicht feststellen kann, dem Gläubigen freistellen; eine Abschaffung könne nur in Abstimmung mit der Gemeinde und dem städtischen Rat vorgenommen werden. Zentral ist für ihn die bibelgerechte Abhaltung der Messe und Abendmahlsfeier, und obwohl die Thesenreihe das Evangelium vom Gesetz abgrenzt, durchdringt die nomistische Sicht doch die gesamte Frage der Kommunion und der Haltung des Kommunikanten. Da die Bibel die beiden Verheißungen Christi mit den Zeichen des Abendmahls untrennbar verbunden habe, sei daher der Empfang sub una specie eine Sünde. Bereits am 1. August 1521 hatte sich Luther in einem Brief an Melanchthon gegen diese von Karlstadt schon vorher (KGK 186 vom 19. Juli) entwickelte Argumentation gewandt.40 Daher ist tatsächlich anzunehmen, dass Karlstadt die hier ausgeführte Affirmation dieser Thesen gegen Luthers Kritik richtete.41Karlstadt betreibt seine biblische Hermeneutik auf der Grundlage des Johannesevangeliums, an dessen Aussage, dass das Brot Christi Fleisch sei, das Prinzip der sola scriptura angelegt wird. Die intensive Nutzung des Johannesevangeliums eröffnet den Raum für eine pneumatologisch inspirierte Interpretation zum Verständnis der Abendmahlsvorgänge. Zu ihrer Verankerung in der Bußlehre stellt Karlstadt auf der methodischen Basis der wechselseitigen Selbsterklärung von Schriftstellen enge Verbindungen zu paulinischen Briefen her. An einigen Stellen arbeitet er jedoch auch noch dialektisch mit dem Dreischritt der aristotelischen Logik.42
Erwähnenswert ist die Invektive der 138 Articuli gegen die Abendmahlslehre der Pariser Universität. Karlstadts Thesen stehen in direktem Bezug zur Determinatio der Pariser theologischen Fakultät, die eine verdammende Reaktion auf Thesen Luthers, entwickelt in dessen Abhandlung De captivitate Babylonica (1520), darstellt. Die Pariser Schrift, am 15. April 1521 abgeschlossen und im Mai erschienen, wurde in Wittenberg nachgedruckt und mit ironisch-diffamierenden Texten im Dunkelmännerstil, u. a. von Melanchthon, versehen. Die Thesen 30 und 31 der 138 Articuli beziehen sich explizit auf die Thesen 10 und 11 der Determinatio, die Luthers Aussagen zur Realpräsenz Christi im Abendmahl und die unchristliche Tyrannis der Verweigerung der Laienkommunikation in beiderlei Gestalt als ketzerisch und böhmisch verdammten.43
In einem engen inhaltlichen und kontextuellen Zusammenhang mit den 138 Articuli sind Melanchthons Ende Oktober 1521 veröffentlichte Propositiones de missa44 zu verorten. Es ist anzunehmen, dass auch diese Thesenreihe für die Diskussion zu dem von Kfst. Friedrich III. eingeforderten Gutachten der Wittenberger Gelehrten in Sachen Messreform beitragen sollte. Damit wäre ihre Entstehung ebenfalls auf Mitte Oktober, ihr Druck in die unmittelbare Zeit danach zu datieren.45 Die bisherige Datierung dieser Thesenreihe auf Anfang bis Mitte November beruht auf dem Brief von Ulscenius an Capito vom 16. November 1521: »Transmitto tibi Epistolam de imitatione et Melanchtonis posiciones de Missa.«46 Dabei scheint Melanchthon in seiner Argumentation von den Predigten Gabriel Zwillings beeinflusst gewesen zu sein. Über dessen Ausführungen beschwerten sich die reformfeindlichen Stiftsherren um Lorenz Schlamau, Otto Beckmann und Ulrich von Dinstedt bei Kfst. Friedrich III. am 4. November 1521: »Ethlicher vorgleicht es [scil. das Sakrament] einem gesnitzten ader gemalten crucifix, machen und erwecken solche ergernis im gemeynen volcke, das es erschrecklich.«47 In seinen Thesen 10 bis 15 der Propositiones de missa setzte Melanchthon gemalte Kreuzigungen, die Sonne und die Messe als Zeichen der Erinnerung an den Tod Christi, an das Evangelium und an die Gnade Gottes gleich, allerdings mit dem einen Unterschied, dass das Abendmahl ein von Gott eingesetztes Zeichen zum Heil sei.48
Die Verzeichnung der Disputationen von Gottschalk Cruse und Gottschalk Crop am 17. Oktober 1521, auf denen die 138 Articuli beruhten, gehört zu den letzten, die der Dekan Karlstadt in das Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät für das Sommersemester 1521 autograph eintrug.49 Vor Beendigung seiner Tätigkeit als Dekan Ende Oktober nahm er jedoch noch einige weitere Einträge vor. Zuerst hielt Karlstadt fest, dass laut heiligem Status der Universität Wittenberg die Gebühr für die Disputation an den Promotor des doktorierenden Respondenten gehen müsse, und zwar – auf Veranlassung Luthers-- unvermindert in einer Zahlung, auch von denen, die sonst in Teilraten zahlten.50 Von Interesse für die theologische Entwicklung Karlstadts sind aber die folgenden Einträge: »Duo sunt disputacionis ordines. unus hebdomatim suis vestigiis ∣ vadit[.] Alter est presidencia eorum qui pro gradibus nanciscendis ∣ respondent propriumque cursum hic facit. ∣ placeret iuramenta esse sublata, quia iuramentis nemo melior, ∣ plures fiant deteriores. Qui deum non reveretur, is nequaquam iusiurandum reverebitur. ergo facessat.« Damit lehnte Karlstadt die zur Promotion zugehörigen Eide ab und bezog sich vermutlich vornehmlich auf die Doktoreide, die er den unter seinem Dekanat promovierten Kollegen Justus Jonas, Tileman Plettner51 und Johannes Dölsch52 abgenommen hatte.