Nr. 200
Bericht des Universitätsausschusses für Kfst. Friedrich III.
Wittenberg, 1521, 20. Oktober

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Handschriften:

[a:]ThHStA Weimar, EGA, Reg. O, Nr. 225, fol. 20r–24v

Ausfertigung. Der Wittenberger Universitätsnotar Nikolaus Sybeth schrieb die Adresse (fol. 24r), den Text des Schreibens und die Unterschriften, abgesehen von derjenigen Melanchthons, sowie den beigefügten Zettel nieder. Die Unterschrift Dölschs fügte er nachträglich ein. Eigenhändig ist vielleicht die Unterschrift Melanchthons. Die Siegel von Justus Jonas und Nikolaus von Amsdorf sind erhalten. Auf der Adressseite (fol. 24v) Dorsalvermerke des kfstl. Sekretärs Hieronymus Rudelauf; über der Adresse: »Sontags nach Lucae Anno etc. 21.«; unterhalb der Adresse: »d'ie' zu wittenberg meßhalten belangend«. Darunter von anderer Hand: »Phil. Mel. und ander Theolog und gelerten In Wittenb. bedencken, uber der Abschaffung der Mess, von den Augustiner München beschehen.« Der Text der Handschrift setzt nur wenige Zeichen zur Begrenzung von Nebensätzen; Kommata übernehmen häufig Satzschlussfunktion.

[b:]ThHStA Weimar, EGA, Reg. O, Nr. 225, fol. 25r–31r

Kopie, ausgeführt von zwei verschiedenen Händen. Mit Fehlern und Auslassungen. Eine weitere Handschrift neben diesen beiden überlieferten, die Hzg. Georg von Sachsen am 21. November 1521 einem Brief an Hzg. Johann von Sachsen beigelegt hatte, konnte nicht identifiziert werden.1

Frühdrucke:

Frühdrucke:

[A:]Universität Wittenberg
Ein vndericht dem ∥ Churfurſtenn von Sachſenn ∥ zugeſchickt/ warūb die ∥ Auguſtiner zu wit⸗∥tenberg nit meß ∥ halten ∥ ᛭ ∥ M. D. XXij. ∥
[ Bamberg Coburg ]: [ Georg Erlinger ], .
4°, 4 Bl., A4 (A1v leer).
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, A: 189.27 Theol. (20).
Weitere Exemplare: ULB Halle, AB 67 9/g,2(2).
Bibliographische Nachweise:

[B:]Universität Wittenberg
EJn vndericht dem ∥ Churfurſten von Sachſſenn ∥ zugeſchickt warumb die ∥ Auguſtiner zu wit⸗∥temberg nit meß ∥ halten ∥ ᛭ ∥ M.D.XXij. ∥
[ Erfurt ]: [ Matthes Maler ], .
4°, 4 Bl., A4.
Editionsvorlage:
Ebfl. Akademische Bibliothek Paderborn, Th 5975 (36).
Bibliographische Nachweise:

[C:]Friedrich III. von Sachsen; Universität Wittenberg
Ernſtlich ∥ Handlung der ∥ Vniuerſitet zů Wittenberg ∥ an den Durchleüchtigſten/ ∥ Hochgeboꝛnē Churfür⸗∥ſtē vnd herren Herr ∥ Friderich von ∥ Sachſen/ ∥ Die Meſz be-∥treffendt. ∥
[ Basel ]: [ Adam Petri ], , fol. a2r–b1r .
4°, 11 Bl., a4–c4 (a1v u. c4 leer). – TE.
Editionsvorlage:
BSB München, Res/4 Polem. 3341,12 (mit handschriftlichen Annotationen von unbekannter Hand).
Weitere Exemplare: BSB München, 4 Polem. 1473 g.
Bibliographische Nachweise:

[D:]Friedrich III. von Sachsen; Universität Wittenberg
Ernſtlich Handlung der Uniuer∥ſitet zů Wittenberg/ an den durchleüch∥tigiſten/ Hochgeboꝛnen Churfürſten ∥ vn̄ herꝛen Herꝛ Friderich ∥ von Sachsen. ∥ Die Meſz betreffend. ∥
[ Augsburg ]: [ Sigmund Grimm Marx Wirsung ], , fol. a2r–b1r .
4° [12] Bl. a4–c4 (a1v u. c4 leer).
Editionsvorlage:
BSB München, 4 Polem. 1473 f.
Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 20.Dd.103. — HAB Wolfenbüttel, A: 103.1 Theol. (15); A: 151.35 Theol. (30); A: 240.83.6 Quod.; A: 289.4 Quod. (25).
Bibliographische Nachweise:

[E:]Friedrich III. von Sachsen; Universität Wittenberg
Ernſtlich handlung der ∥ Vniuerſitet zů Wittenberg an den ∥ Durchleüchtigſten Hochgeboꝛ⸗∥nen Churfürſten vnd herren. ∥ Hertzůg Friderich von ∥ Sachſen/ ∥ Die Meſz be∥treffendt. ∥
[ Straßburg ]: [ Johann Knobloch d. Ä. ], , fol. a2r–b1r .
4°, 12 Bl., a4–c4 (a1v u. c4 leer). – TE.
Editionsvorlage:
FB Gotha, Druck 1226 R.
Bibliographische Nachweise:

Die Drucke A und B stimmen bei geringen Druckabweichungen in den meisten Abschnitten bis in den Zeilenfall überein. Das Verhältnis der beiden Drucke zueinander lässt sich nicht bestimmen. A und B folgen hinsichtlich einiger Abweichungen, Auslassungen und Wortumstellungen eher Handschrift b als a. An einigen, wenn auch wenigen Stellen scheint der Sinn des Satzinhalts von der Ausfertigungshandschrift a verloren gegangen zu sein. Die Drucke erfolgten augenscheinlich ohne Autorisierung von Universität und Hof. Möglicherweise stehen A und B dennoch am Anfang der Drucküberlieferung; der Erfurter Druck B könnte über die Verbindung zu Johannes Lang ausgeführt worden sein. Die Drucke C, D und E sind gegenüber A und B eigenständig. Sie haben wenige der Abweichungen von Handschrift b bzw. A und B übernommen, allerdings die gewichtige Änderung von »verblendung« statt »vorkleynigung« des Glaubens. C ist in dieser Gruppe prioritär, aber vermutlich später als A und B veröffentlicht worden. Das ist allein an der Zusammenstellung der beigefügten Texte zu erkennen, zu denen die Instruktion Kfst. Friedrichs III. an Christian Beyer (KGK 201) und das Bedenken des Universitätsausschusses vom 12. Dezember 1521 (KGK 207) gehören. Auf Grund wörtlicher und orthographischer Übereinstimmungen ist Druck E in eigener Linie direkt von C abhängig, weist allerdings auf der ersten Seite einen veränderten Satz und Zeilenfall auf. Variante D folgt C zwar bis in den Zeilenfall ohne nennenswerte Abweichungen, ist aber orthographisch selbstständig und hat einige zusätzliche, verschlechternde Lesarten.

Editionen:

Literatur:

Beilage: Heinrich von Zütphen:
Contra Missam Privatam

Handschrift:

[a:]ThHStA Weimar, EGA, Reg. O, Nr. 157b, fol. 415r–418v (ehemals HAAB Weimar, Q 15–17. 4°)

Handschrift unbekannt, vermutlich von Heinrich von Zütphen (lt. Findbuch im ThHStA Weimar, Spalatiniana Fasc. II Q. 16, 462 Nr. 47). Fol. 415r mit Überschrift von der Hand Georg Spalatins: »1521. Contra Missam Privatam Heinric. Zutphanienn.« Rechts oben Folienzählung: »415.« Links oben eine andere alte Nummerierung: »18.« Hand des 19. Jhd.: »Kapp, Nachlese, II, 487.« und mit Bleistift: »47«. Fol. 415v u. 418r vacat. Fol. 418v mit von Spalatin beigefügter Beischrift: »Der Augustiner ∣ zu Wittenberg ∣ positiones von ∣ der Mesß ∣ 1521«.

Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Der Augustinermönch Gabriel Zwilling hatte am 6. Oktober 1521 in Wittenberg eine Predigt gehalten, die auf eine umfassende Erneuerung des Messwesens im Augustinerkloster drang.2 Dabei wurde nicht nur das Abendmahl in beiderlei Gestalt erteilt. Zwilling lehnte auch Elevation und Anbetung der Hostie ab und betonte, dass die Augustinermönche in Wittenberg keine Seelmessen mehr halten würden. Kfst. Friedrich III. ordnete daraufhin am 10. Oktober die Bildung eines Universitätsausschusses an,3 der am 12. Oktober die Vorkommnisse im Augustinerkloster untersuchte.4 Der Kommission gehörten der Vizerektor der Universität Tilemann Plettner,5 der Stiftspropst Justus Jonas,6 Karlstadt, Johannes Dölsch,7 Nikolaus von Amsdorf,8 Hieronymus Schurff,9 der Rat Christian Beyer und Philipp Melanchthon10 an. Die Augustinermönche wurden vom Ausschuss aufgefordert, innerhalb von zwei Tagen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Am 20. Oktober übersandte der Ausschuss dem Kfst. das vorliegende Schriftstück als ersten Bericht, der in drei Hauptpunkten die Anliegen und Gründe der Augustiner zusammenfasst. Grundlage bilden mündliche Anhörungen der Mönche wie ein dem Bericht beigelegter »Zettel« mit einer schriftlichen Stellungnahme. Bei diesem handelt es sich um die Sätze des niederländischen Augustiners Heinrich von Zütphen11 gegen die Privatmesse (Beilage). Demnach hatten die Augustiner nach Aufforderung des Universitätsausschusses augenscheinlich über die Messangelegenheiten diskutiert und dem Ordensbruder Heinrich von Zütphen die Abfassung der schriftlichen Erklärung in Form thetischer Sätze namens des Ordens übertragen.12 Ihre Verfertigung und Aufzeichnung muss zwischen dem 12. und 14. Oktober erfolgt sein, da der Ausschuss eine Frist von zwei Tagen für den Eingang einer Stellungnahme angesetzt hatte.13 Dass es sich nicht um zu disputierende Thesen im herkömmlichen Sinne handelte, verdeutlicht nicht nur die Vergabe des Titels »Der Augustiner zu Wittenberg positiones von der meß 1521«14 durch Georg Spalatin, sondern auch die häufige Verwendung der 1. Person Plural, die den Charakter einer kollektiven Erklärung betont.15 Den situativen Funktionszusammenhang unterstreicht der vorletzte Satz, mit dem der Ausschuss bzw. der Kurfürst gebeten wird, auch den [abwesenden] Ordensbruder Martin vor einer Entscheidung anzuhören.16 Mit seiner bald darauf verfassten Schrift De abroganda missa privata scheint Luther dem nachgekommen zu sein.17 Dass sich Zwilling von der Vorladung und dem Verhör durch die Kommission nicht sonderlich beeindruckt zeigte, ist an seiner Predigt vom 13. Oktober erkennbar, in der er erneut die Abschaffung der Messe in ihrer gegenwärtigen Form forderte.18

Der erste Entwurf des Ausschussberichts scheint bereits vor der Disputation am 17. Oktober angelegt worden zu sein,19 ging aber erst am 20. Oktober an den Kurfürsten. Mit dem Bericht befürwortet der Ausschuss die Bestrebungen der Augustiner und fordert wie diese eine schnelle Abschaffung der Missbräuche bei der Messe. Inhaltliche Grundlage bilden die Thesen, die Karlstadt am 17. Oktober disputieren ließ, sowie einige Ergebnisse der anschließenden Diskussion.20 Dies wird im grundsätzlichen Zuspruch zur Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt und in der Ablehnung der gestifteten Opfer- und Seelmessen deutlich, aber auch in der zurückhaltenden Behandlung der Privatmesse, deren Abschaffung nicht gefordert wird. Zugleich sind Parallelen zu Melanchthons Propositiones de missa nicht zu übersehen.21 Eingangs referiert der Bericht den Gegenstand seiner Untersuchung, den Widerspruch der Augustiner gegen die bisherige Messpraxis, der sich in drei Punkten zusammenfassen lässt: 1. Die Auffassung, die Messe sei ein gutes Werk zur Versöhnung Gottes, verkehre ihre ursprüngliche Anlage (als Erinnerung an Christi Tod). 2. Christus habe nicht allein bzw. privat kommuniziert. 3. Christus habe das Abendmahl in beiderlei Gestalt ausgeteilt, womit die Messe sub una specie abzulehnen sei. Die Ausschussmitglieder stimmen den Augustinern in wesentlichen Punkten zu: 1. Messstiftungen sind als gute Werke bzw. Opfer angelegt. Um einen Mehrwert an Heilsmitteln zu erlangen, würde eine hohe Zahl von Messen gestiftet, vier bis fünf pro Priester wöchentlich. Diese übten ihre Tätigkeit allein des Geldes wegen aus, was wiederum zu einer lustlosen Ausführung ihres Amtes beitrage. Letztlich seien die Gebete der Priester ohne jeden Heilswert. 2. Die von den Augustinern geforderte Abschaffung der Privatmessen werde nicht gebilligt. Mögen sie der Heiligen Schrift im strengen Sinn nicht entsprechen, so verbiete diese sie nicht ausdrücklich. Zudem sei sie für die schwachen Brüder im Glauben zu belassen.22 3. Die Austeilung des Kelchs an die Laien, mithin des Abendmahls in beiderlei Gestalt, sei unverrückbar, da biblisch mit Jesu Worten »yr solt alle daraus trincken«23 belegt. Zum Ende bittet der Ausschuss Kfst. Friedrich III., er möge die Missbräuche der Messe abstellen. Drohenden Verleumdungen, er handele wie ein [hussitischer] Böhme,24 möge er keine Beachtung schenken, denn alle, die sich für die Sache Gottes einsetzten, hätten in der Geschichte Schande erlitten. In einem Nachtrag auf einem gesonderten Blatt geht der Ausschuss noch auf einen bisher unerwähnten, thematisch jedoch besonders heiklen Punkt ein: Den Vorwurf an Zwilling, er habe sich gegen eine Anbetung des Sakraments gestellt.25 Zwilling umging im Verhör durch die Ausschussmitglieder diese Anklage, indem er betonte, sich in keiner Weise gegen eine Anbetung Christi im Sakrament ausgesprochen zu haben – was die Ablehnung der Adoration der elevierten Hostie nicht ausschloss. Tatsächlich hatte er sich vermutlich ähnlich in seiner Predigt am 6. Oktober geäußert.26

Das Aktenstück des Berichts wurde handschriftlich an den Kurfürsten gesandt und bereits 1522 separat und anonym, ohne Nennung der Ausschussmitglieder, veröffentlicht.

Der Vergleich der Sätze Heinrichs von Zütphen zur Erklärung der Position der Wittenberger Augustiner mit dem Bericht des Ausschusses lässt viele Übereinstimmungen erkennen, wobei Heinrich in seinen Forderungen über den Kommissionsbericht hinausgeht.27 So spricht sich bekanntlich der Bericht nicht gegen Privatmessen bzw. das Abhalten der Messe durch Einzelne aus, wie es die Augustiner geboten hatten. Zütphens Erklärungssätze sind von Wolfgang Simon28 in drei größere und sieben untergliedernde Argumentationsblöcke aufgeteilt worden, die hier in leichter Abwandlung wiedergegeben werden.

Abschnitt 1: Die Wirklichkeit der gegenwärtigen Messe (Thesen 1–29). Er entwickelt am Beginn in zwei Sätzen die Grundthese, dass die gegenwärtige Messfeier die Auslöschung von Glaube und Liebe bewirke. An dem falschen Verständnis der Messe als gutes Werk und Opfer hingen alle Missbräuche der Messfeier. Darauf baut eine soteriologische Argumentation auf (Thesen 3–10). Sie setzt ein mit einer Kritik am Prunk der Kirchenbauten, deren Ausstattung ihre Aufgabe als Versammlungsraum der Gläubigen weit übersteige.29 Diese Kritik erhält sodann eine messtheologische Dimension, da die enorme Größe der Kirchenbauten Ausdruck des Wunsches sei, möglichst viele Messen abzuhalten, um Gott die eigene Frömmigkeit zu beweisen und zur Erteilung des Heils zu bewegen. Dies aber sei Ausdruck einer Werkgerechtigkeit. Zütphen stellt das Wort Gottes und den einfältigen, schlichten Glauben in einen unüberwindbaren Gegensatz zum Prunk der Zeremonien, Messen und Gesänge.30

Der nächste Abschnitt (Thesen 11–29) entwickelt mit der Kontrastierung von Priester und Laien im Angesicht der Einsetzung Christi eine ekklesiologische Argumentation. Dem Einsetzungswort gemäß sei der Empfang des Abendmahls zentral, nicht das Messzeremoniell. Auf Grund dieser Schwerpunktverschiebung von der liturgischen Handlung auf die Austeilung verschwindet der Unterschied zwischen Priestern und Laien in messtheologischer Hinsicht. Die gegenwärtig praktizierte Trennung des Volkes Christi sei eine Entstellung des Antlitzes der Kirche, ihre Überwindung ziehe das Ende der innerpriesterlichen Hierarchien, der kirchlichen Jurisdiktion sowie des weltlichen und politischen Anspruchs des Klerus als auch seiner rechtlichen Exemtion nach sich. Die Ursache all dieser Missstände sei die Idee von der Verdienstlichkeit der Messe. Auf ihr beruhten der ganze religiöse Geschäftsbetrieb als auch die Ausweitung des Kirchenbaus.

Abschnitt 2: Die allgemeine Wahrheit der Messe (Thesen 30–41). Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht die Entwicklung der Messe als Kommunion31 und Kommunikationsgemeinschaft (Thesen 30–39). Kriterien für die Messbeurteilung seien das Wort Gottes, die Heilige Schrift, Glaube und Liebe. Das Abendmahl als Erinnerung an die Hoffnung des Glaubens bedeute einerseits, dass für Gott kein Opfer mehr zu erbringen sei, andererseits, dass die Erinnerung in der Gemeinschaft erfolge und alle Werke sich auf den Nächsten als Akte der Nächstenliebe bezögen. Im Gegensatz dazu stehe die Privatmesse, da sie einen Gottesbezug des einzelnen, isolierten Gläubigen darstelle (Thesen 40 f.). Sie ist – im Kontrast zur Gemeinschaft des Mahls und der Nächstenliebe – Ausdruck einer »egoistische[n] Ökonomisierung«32 der Messe.

Abschnitt 3: Die Durchsetzung der Wahrheit der Messe (Thesen 42–70). Der erste und umfassendere Teil dieses Abschnitts befasst sich mit den Hindernissen beim Kampf gegen die Gefährdung des Glaubens (Th. 42–60). Im Mittelpunkt steht die Diskussion des Ärgernisses (scandalum). Die Debatte um das Verhältnis von öffentlichem Anstoß (scandalum publicum) und Verletzung der göttlichen Gebote (scandalum in rebus divinis)33 erweitert Zütphen um die Frage nach dem Ärgernis bei schwachem Gewissen (scandalum pusillorum).34 Doch stellt er sogleich heraus, dass eine Messfeier, die nicht der Einsetzung Christi gemäß und daher mit Missbräuchen durchsetzt sei, das größte scandalum darstelle. Jeder, der weiterhin Messen stiftet, verlängert den Missbrauch und die Pervertierung des Christentums. Auf Grund der Aufhebung der Unterschiede zwischen Priestern und Laien trügen dafür beide Verantwortung.35 Unter Aktualisierung von Christi Ausruf, dass derjenige, der geringsten Anlass zum Ärgernis gebe, untergehe (Mt 18,6), sei umso entschlossener Widerstand zu leisten, wenn der Glaube in Gefahr sei.36 Da Christus die Privatmesse nicht eingesetzt habe, rückt sie ins Zentrum des Ärgernisses (Th. 55). Dem Einwand, die Abschaffung der Privatmessen belaste das Gewissen der Schwachen (Bezug auf 1. Kor 8,3), stellt Zütphen die Reinigung des Tempels von den Wucherern durch Christus entgegen. Das Ärgernis sei die Perversion der Funktion des Gotteshauses zu einem Wirtschaftsbetrieb (Th. 57). Da gemäß Christus die Messe auf die Gemeinschaft ausgerichtet sei, werde die Austeilung bzw. die Kommunion für das Abendmahl konstitutiv.37 Die Selbstkommunion durch den Priester sei das Gegenteil zum Leib der Kirche; Gottesdienst sei Dienst an anderen, nicht für sich selbst (Th. 61). Die Privatmesse gerät so zu einer ungerechtfertigten Aneignung von Blut und Leib Christi durch eine Privatperson (Th. 65). Nur der Verzicht darauf hebe das Ärgernis auf. Das Abendmahl bestehe in der gemeinsamen Erwartung der Wiederkehr Christi und der Verkündigung seines Todes (Th. 67), die Austeilung in beiderlei Gestalt entspreche der Einsetzung durch Christus und sei daher unhintergehbarer Konsens (Th. 71). Letztlich zähle aber allein der Glaube und das Hören des Wortes, wenn es am Dienst am Sakrament fehle (Th. 64).38

Zum Abschluss folgte eine Zusammenfassung der Argumentation und die erwähnte Bitte um Einholung der Meinung Luthers. Auf Grund dieser Sätze scheint Heinrich von Zütphen einen wesentlichen Anteil an der Diskussionsbildung der sogenannten Wittenberger Bewegung gehabt zu haben.39

Ebenfalls am 20. Oktober 1521 verfasste das Ausschussmitglied Johannes Dölsch ein Sondergutachten zu den Messneuerungen der Augustiner.40 Es befindet sich in wesentlichen Punkten mit dem Ausschussbericht im Dissens. Dölsch hält die Austeilung des Mahls in beiderlei Gestalt für unnötig und erhebt schwere Vorwürfe gegen Zwilling, der sich gegen die Anbetung des Sakraments und die Realpräsenz Christi erhoben habe.41 Die Messe sei kein Opfer, sie aber so zu nennen, kein Frevel, da es schon die Kirchenväter getan hätten. Schließlich spricht Dölsch den Seelmessen Nutzen zu und bestreitet, dass der Messritus in Mailand von dem römischen divergiere. Diese Diskussion wird der Ausschuss in seinem Gutachten vom 12. Dezember 1521 aufnehmen.42


1Vgl. Gess, Akten und Briefe 1, 208–211 Nr. 259; MBW 1, 361 Nr. 174.
2 Felix Ulscenius (Beyer) berichtet Wolfgang Capito am gleichen Tag (6.10.1521) von der gehaltenen Predigt Zwillings: »[…] nos […] vehementissime adhortatus est, ne porro auditores nos praebeamus Missae idipsumque proximum instruamus. Non enim caro et sanguis Christi nisi signum esse remissorum peccatorum adeoque reconciliati dei, non etiam sacrificium, nedum eiusmodi quiddam, quod adorari a nobis debeat. Id argumento ab institutione Eucharistiae per Christum ducto confirmarat. In Coena enim domini nec a Christo sua caro et sanguis, nec ab apostolis, denique nec a posteris adoratum esse nec sacrificatum. Nec item ullum in veteri instrumento signum passus est dominus sacrificari, nedum adorari. Multo igitur minus in novo, cuius, cum spirituale sit, sacrificandum vel adorandum a nobis esse.« Vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 14 f. Nr. 3; Capito, Correspondence, Nr. 112. S. hierzu auch KGK 199.
3Instruktion Kfst. Friedrich III. für Kanzler Gregor Brück, Lochau, 10.10.1521. Vgl. CR 1, 459 Nr. 138; Müller, Wittenberger Bewegung, 26 f. Nr. 8.
5 Tilemann Plettner (1490–1551), nach dem Studium in Leipzig und Erfurt am 18.10.1520 in Wittenberg immatrikuliert (AAV 1, 99), wohin er vermutlich in Begleitung der Söhne Wolfgang und Ludwig des Grafen Botho zu Stolberg kam, in dessen Diensten er stand (ADB 26, 262–265). Er wurde am 20. September 1521 unter Karlstadt zum Lizentiaten und am 14. Oktober 1521 zum Doktor der Theologie promoviert (Liber Decanorum, 25).
6 Justus Jonas (1493–1555), als Nachfolger des am 21. Januar 1521 verstorbenen Henning Göde am 6. Juni 1521 zum Propst des Allerheiligenstifts ernannt. Vgl. Bünger/Wentz, Brandenburg, 137. Jonas wurde am 24. September zum Lizentiaten und am 14. Oktober zum Doktor der Theologie promoviert (Liber Decanorum, 25). Zur Disputation für die erste Promotion unter dem Praeses Karlstadt, s. KGK 195. Zu seiner Rolle in der innerwittenberger Diskussion um die Erneuerung der Messe vgl. KGK 199.
7 Johannes Dölsch (um 1484–1523), seit Mai 1521 Kustos des Allerheiligenstifts Wittenberg (Bünger/Wentz, Brandenburg, 132), seit der Doktorpromotion am 23. Juli 1521 ordentliches Mitglied der Theologischen Fakultät, im Wintersemester 1521/22 ihr Dekan. Dölsch war von Eck mit auf die Bannandrohungsbulle gegen Luther gesetzt worden. Zu seinem Werdegang s. KGK I.2, Nr. 82, S. 775, Anm. 3; Kropatscheck, Dölsch, passim. Er entwickelte sich im Herbst 1521 zum Gegner der Messreformen. S. KGK 207.
8 Nikolaus von Amsdorf (1483–1565), lehrte schon seit 1502 an der Universität Wittenberg (AAV 1, 5; vgl. auch KGK I.1, Nr. 1, S. 4), seit 1507 Inhaber einer hzgl. Pfründe am Allerheiligenstift (Bünger/Wentz, Brandenburg, 124). Amsdorf trieb die Messreformen radikaler als Karlstadt voran, vor allem unter dem Einfluss der sogenannten Zwickauer Propheten, die im Dezember 1521 Wittenberg besuchten.
9 Hieronymus Schurff (1481–1554), aus St. Gallen, Jurist, bereits im Wintersemester 1502/3 in Wittenberg immatrikuliert (AAV 1,1), 1507 Professor für das Corpus iuris civilis, auch kfstl. Rat; vgl. Lück, Schurff.
10 Philipp Melanchthon (1497–1560), vertrat im Oktober 1521 in der Messfrage ebenfalls eine radikalere Position als Karlstadt, vgl. KGK 199.
11 Heinrich von Zütphen (um 1488–1524), Augustinereremit, wurde im Sommersemester 1508 in Wittenberg immatrikuliert (AAV 1, 26); 1514 Subprior im Augustinerkonvent Köln, 1515 in Dordrecht. 1520 kehrte er nach Wittenberg zurück. Am 12. Januar 1521 disputierte er pro biblia, zwei Tage später erfolgte die Promotion zum Baccalaureus biblicus (Liber Decanorum, 24); am 11. Oktober disputierte er unter Johannes Dölsch für die Promotion zum Sententiar (Liber Decanorum, 25). Nach Stationen in Antwerpen und Bremen übernahm er eine Pfarrei in Meldorf in Dithmarschen. Dort wurde er im Dezember 1524 ermordet. Vgl. ADB 11, 642 f.; 22, 554 f.; NDB 8, 431; Iken, Zütphen.
12Vgl. hierzu Bubenheimer, Scandalum, 339–342.
14ThHStA Weimar, EGA, Reg. O, Nr. 157b, fol. 18v; s. KGK 200 (Textstelle).
15Vgl. hierzu Bubenheimer, Scandalum, 341 Anm. 66; Simon, Messopfertheologie, 432. Iken, Zütphen, 22 f. spricht von Thesen, die aber »nicht […] zur Erlangung eines akademischen Grades« aufgestellt wurden, sondern die »Meinungen der wittenberger Augustinermönche« zusammenfassten.
17 Bubenheimer, Scandalum, 341. Die Widmung der Schrift Luthers ist auf den 1. November datiert. S. WA 8, 411–476. Schon am 1. August hatte sich Luther in einem Brief an Melanchthon scharf gegen Privatmessen ausgesprochen: »Et ego amplius non faciam missam privatam in aeternum.« (WA.B 2, 372,73–75 Nr. 424).
18Vgl. den Brief Albert Burers an Beatus Rhenanus vom 19. Oktober (Müller, Wittenberger Bewegung, 33 Nr. 15); vgl. Simon, Messopfertheologie, 432 mit Anm. 53.
19 Karlstadt, der in der Diskussion nach der Disputation am 17. Oktober noch um Zeit für die Reformen bat, wurde von Melanchthon ermahnt, dass es Wittenberg nicht wie dem biblischen Kafarnaum ergehen solle. So Ulscencius in seinem Bericht über die Diskussion: »Karolostadius voluit etiam tempora esse conferenda. Id dixit Philippus nec non monet, quod hic in Caphernaum satis praedicatum est.« (Müller, Wittenberger Bewegung, 47 Nr. 18). Vgl. auch KGK 199. Der hier edierte Bericht nimmt diese Sorge auf, s. KGK 200 (Textstelle). Gewendet auf Kfst. Friedrich III. in KGK 201 (Textstelle).
20Vgl. KGK 199.
22Vgl. hierzu Karlstadts Argumente in der Diskussion am 17. Oktober (KGK 199).
24Die Entkräftung des Vorwurfs des Hussitismus spielte im Zusammenhang der Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt eine große Rolle. Vgl. KGK 186 (Textstelle) und KGK 205 (Textstelle).
25Vgl. hierzu den Bericht Gregor Brücks vom 11.10.: »[…] das magister gabriell […] ditz sal geprediget habenn, erstlich, das das hochwirdighe sacrament des altars nit sall angebetet werdenn; dan es sey der maynung von christo nit ausgesatzt wordenn, Sundern alleyn zcu seynem gedechtnis […].« (Müller, Wittenberger Bewegung, 28 Nr. 10).
26Vgl. den Bericht des Ulscenius: »Concionatus est magister Gabriel Augustinianus nuper contra Sacrificium missae; nam in illo valde graviter peccari dicebat, cum in signum tantum nobis sit a Christo traditum, quod ut offerri non debeat, ita nec adorari, hac una anchora nisus: Deus in spiritu et veritate adorandus est, et plane contra institutionem Christi esse.« (Müller, Wittenberger Bewegung, 47 Nr. 18).
29Diese Kritik mag die Aussage, dass »mer dann zuvil [scil. Kirchen] gebaut seind« in der Wittenberger Stadtordnung vom Januar 1522 beeinflusst haben; s. Beilage zu KGK V, Nr. 219.
30Nahezu zeitgleich kritisierte Johannes Dölsch in seiner 10. These zur Promotion von Thomas Novidagius am 4. Oktober 1521 den gewaltigen Aufwand für den Kirchenbau, vgl. Kolde, Disputationsthesen, 458.
31In diesem Gemeinschaftsmoment erkennt Simon, Messopfertheologie, 434 mit Anm. 64 Ähnlichkeiten mit Luthers Konzept des Sakramentsempfangs in dessen Abendmahlssermon von 1519.
33Vgl. den Brief von Melanchthon an Wenzeslaus Linck zur Messreform vom 9. Oktober 1521 (Müller, Wittenberger Bewegung, 22 Nr. 6).
34Dabei greift er die scholastische Unterscheidung zwischen Rücksicht auf die Schwachen und Vernachlässigung der Verstockten auf, vgl. Bubenheimer, Scandalum, 301; Simon, Messopfertheologie, 435.
35 Simon, Messopfertheologie, 436 spricht von Statusidentität. Interessant aber ist die ähnliche Vorstellung Karlstadts, dass auch der Kommunikant einen Frevel begehe, wenn er sub una specie kommuniziert. Vgl. KGK 186 (Textstelle); KGK 199 (Textstelle) und KGK 205 (Textstelle).
36Die Missbräuche der Messfeier als Gefahr für den Glauben (These 51) wird in der Diskussion im Anschluss an die Disputation am 17. Oktober ebenfalls zum Argument, vgl. KGK 199; möglicherweise unter Einfluss der vorliegenden Erklärung.
37Vgl. WA 8, 514,21–26.
39Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 341. Barge, Karlstadt 1, 339 vermutete in Heinrich von Zütphen den Wortführer der niederländischen Anhänger von Gabriel Zwilling.
40 Müller, Wittenberger Bewegung, 42–46 Nr. 17. Dieses Gutachten unterscheidet sich inhaltlich kaum von seinem im Dezember an Kfst. Friedrich III. gesandten Bedenken, s. KGK 207 (Textstelle) mit KGK 207 (Anmerkung); Müller, Wittenberger Bewegung, 102–106 Nr. 49.

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