Nr. 191
Das Reich Gottes leidet Gewalt
1521, [August]

Einleitung
Bearbeitet von Stefania Salvadori

1. Überlieferung

Frühdrucke:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Berichtung ∥ dyeſſer red. ∥ Das reich gotis/leydet gewaldt/vnd die ∥ gewaldtige nhemen oder rauben ∥ das ſelbig. ∥ Regnū celorū,vim patitur.et violēti rapiūt illud. ∥ Matthei. XI. ∥ Wittemberg. ∥ Andreas Bodenſtein von Carloſtadt ∥ [Am Ende:] Gedrukt tzu : wittemberg yhm Jar.M.D. XXI. ∥
Wittenberg: [Nickel Schirlentz], 1521.
4°, 12 Bl., A4, B4, C4.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 2258.8° Helmst.
Weitere Exemplare: BSB München, 4 Exeg. 980,8. — BSB München, Res/4 Polem. 3363,4.
Bibliographische Nachweise:

[B:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Berichtung diſſer rede. ∥ Das reych gottis leydet gewald vnd die ∥ gewaldtige nhemen oder rauben das ∥ ſelbig. ∥ Math.Xi. ∥ Regnum celoꝛū vim patitur.et violenti ∥ rapiūt illud ∥ Wittemberg. ∥ Andꝛeas Bodenſtein.von Carolſtadr. ∥
[Wien]: [Johann Singriener], .
4°, 11 Bl., A4, B4, C3.
Editionsvorlage:
BSB München, Exeg. 1364 x.
Weitere Exemplare: SUB Göttingen, 1 an: 8 H E ECCL 378/5:2 RARA.
Bibliographische Nachweise:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Der hier edierte Text bietet einen ausführlichen Kommentar zu Mt 11,12. Den einzigen Anhaltspunkt für dessen Datierung – abgesehen von der Jahresangabe 1521 am Kolophon der Erstausgabe bei Schirlentz – liefert die zweite einer vermutlich im Juli disputierten Thesenreihe (KGK 188), in der diese umfassende Abhandlung anscheinend avisiert wurde. Der Widmungsbrief an Nikolaus Demuth1 ist auch auf den 29. Juli 1521 datiert. Aufgrund dieser Hinweise kann man davon ausgehen, dass die Schrift Reich Gottes im August 1521 veröffentlicht wurde.2

Es bleibt offen, ob diese Schrift im Rahmen einer breiteren Debatte entstanden ist, die in jenen Monaten in Wittenberg stattfand. Karlstadt kritisiert in seinem Kommentar nicht nur die patristischen Auslegungen, sondern auch eine Interpretation von Mt 11,12, die – wie in der Literatur behauptet – den damals teilweise übereinstimmenden humanistischen Kontext und der Wittenberger Reformation zuzuordnen sei,3 jedoch macht er keine genauen Angaben. Die Ausgestaltung dieser »evangelischen« Auslegung ist so allgemein, dass sie auf viele zeitgenössische Autoren zutreffen kann. Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass Melanchthon unmittelbar nach seiner Promotion zum Baccalaureus biblicus im September 1519 seine Lehrtätigkeit an der theologischen Fakultät mit einer Vorlesung über das Matthäusevangelium begann, die sofort großen Erfolg und Aufmerksamkeit erregte.4 Im darauffolgenden Mai erreichte er das 26. Kapitel.5 Obwohl Melanchthon am 11. Dezember 1519 verkündete, dass er an eine Veröffentlichung seiner Exegese dachte,6 wurde der Plan aufgegeben und erst 1523 fortgesetzt.7 Im März 1521 traf aber auch Johannes Bugenhagen in Wittenberg ein8 und brachte wahrscheinlich den ersten handschriftlichen Entwurf seines Kommentars zum Matthäusevangelium mit, der zwischen 1519 und Herbst 1520 in Treptow entstanden war.9 Das Matthäusevangelium, dem Erasmus in seinem Novum Instrumentum zahlreiche adnotationes gewidmet hatte,10 wurde schließlich im Mai 1521 von Johannes Lang aus der griechischen Ausgabe des Erasmus ins Deutsche übersetzt.11Luther selbst hatte im Frühjahr 1521 über das Matthäusevangelium gepredigt12und es in seinen lateinischen Postillen wieder aufgegriffen;13 es ist nicht klar, ob er einen umfassenderen Kommentar plante.14 Vor allem in seinem am 28. März gehaltenen Sermon von der würdigen Empfahung des heiligen wahren Leichnams Christi15 hatte Luther dargestellt, wie die Sünder nach der Verkündigung durch Johannes den Täufer zum Reich Gottes hinliefen und ihm Gewalt taten (Mt 11,12); ähnlich waren die Gläubigen dazu eingeladen, wie Kranke das Sakrament als eine Arznei zu empfangen und damit die Einladung Christi (Mt 9,12 f. u. Mt 11,28) wahrzunehmen.

Eine vergleichbare Argumentation mithilfe ähnlicher Bibelstellen verfolgt Karlstadt in der gleichfalls um Juli 1521 verfassten Abhandlung Von den Empfängern des Sakraments (KGK 183). Er kritisiert dort nicht nur die kirchlich gebotene Privatbeichte vor dem Empfang des Abendmahls (siehe dazu auch die erste These in KGK 188), sondern diskutiert auch, ob Christen ihrer Sünden wegen vom Sakramentsempfang fernbleiben sollen. Die Antwort auf diese letzte Frage ist ein »Nein«: Christus ist für alle Sünder gestorben und hat alle zum Abendmahl eingeladen. Dabei rekurriert Karlstadt auch auf Mt 11,28 um darzustellen, wie Christus alle, die beschwert sind, zu sich rufe. Diese Aufforderung wird mit Bezug auf Mt 9,12 f. nochmals präzisiert: Der himmlische Arzt heile die Kranken, nicht die Gesunden. Die Sünden sollen daher den Kranken (d. h. einen Gläubigen, der als postlapsarischer Mensch zwar immer sündige, aber dennoch auch bereuen und mit festem Glauben das Sakrament empfangen könne) nicht vom Abendmahl fernhalten, »sunder viel mehr treyben und antzunden/ das er bald und schwind lauff zu dem hochwirdigen sacrament.«16

Genau diese Argumentation (der Arzt Christus biete alle Sünder seine Gnade an; die Christen sollen zu ihm laufen und seine Lehre mit festen Glauben empfangen) und diese Bibelstellen (aus Mt 9 u. Mt 11) – diesmal spezifisch auf die Menschenmengen bezogen, die in die Kirchen strömen, um die Verkündigung des Wortes zu hören – sind das Kernstück der sogenannten evangelischen Auslegung von Mt 11,12, die Karlstadt in dem hier edierten Text behandelt. Unter Beachtung dieser Ähnlichkeiten zwischen der eigenen Argumentation in Von den Empfängern des Sakraments (KGK 183) und Luthers Sermon von März 1521, lässt sich also die von Karlstadt dargelegte neue Auslegung von Mt 11,12 nicht nur als kritische Auseinandersetzung mit der patristischen Tradition – die der biblischen auctoritas endgültig untergeordnet ist – interpretieren, sondern auch als Positionierung in einer breiteren Diskussion über das Matthäusevangelium innerhalb der reformatorischen Gruppe und dies nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Abendmahlsfrage.

In der vorliegenden Schrift bietet Karlstadt eine neue Interpretation von Mt 11,12: Diese Bibelstelle habe bisher niemand richtig verstanden. Gegen die traditionellen Varianten des positiven Auslegungstyps (dem Himmelreich Gewalt anzutun, sei möglich und sogar erlaubt, um das Heil zu erwerben), schlägt Karlstadt als erstes einen negativen Auslegungstyp dieses Verses (dem Himmelreich Gewalt anzutun, ist eine böse Handlung, die die göttliche Strafe verdient und zum Scheitern bestimmt ist) vor. Polemisches Ziel sind, wie im Widmungsbrief an Nikolaus Demuth explizit betont wird, die neuen Pelagianer, die sich auf diese Stelle berufen, um zu behaupten, der Mensch könne das Himmelreich aus eigener Anstrengung erobern. Vor ihnen wurde jedoch in einer langen Traditionslinie dieser Bibelstelle eine positive Bedeutung zugeschrieben, weshalb Karlstadt im ersten Teil von Reich Gottes prominente patristische Autoren widerlegt.

Chrysostomus wird insbesondere die These vorgeworfen, Christen können das Gottesreich rauben und den Glauben erwerben, indem sie auf alles verzichten und ihr weltliches Leben geringschätzen. Nach Karlstadt kann dagegen nur der Geist die postlapsarische Natur »an das bitter crutz« heften. Eine ähnliche Kritik wird gegen Hieronymus formuliert, der behauptete, die Gläubigen können dem Himmelreich Gewalt antun, indem sie durch Tugend erlangen, was sie von Natur aus nicht können. Auch die Auslegung des Augustinus, der Mt 11,12 mit 1. Mose 32,25–30 zusammenbrachte, wird kritisiert. Karlstadt meint zwar, dies sei die am schwierigsten zu widerlegende Interpretation, lehnt sie aber ab, weil sie in seinen Augen ebenfalls suggeriert, der Mensch könne aus eigener Kraft Gott dazu zwingen, ihm gnädig zu sein. Die von Augustinus zitierte alttestamentliche Bibelstelle zeige dagegen nach Karlstadts Interpretation, wie Jakob mit Gott – d. h. mit seinem Engel – allein durch Gottes Wort kämpfte, da »Jacob tzuvor/ gottlich tzusag/ yhn sein hertz und mund nham« (1. Mose 32,10–13). Auch im Fall Jakobs könnte also die natürliche menschliche Kraft Gott keine Gewalt antun. Schließlich wird auch Bernhards Auslegung in Frage gestellt, wobei Karlstadt dasselbe Hauptargument wiederholt: Es sei unsinnig zu behaupten, Menschen würden irgendeine Form von Gewalt gegen Gott und sein Reich ausüben und es zugleich auch erlangen können. Die letzte besprochene Formulierung des positiven Auslegungstyps von Mt 11,12 (womöglich eine Wiederaufnahme und Umformulierung von Bernhards Auslegung) identifiziert das Reich Gottes mit der Verkündigung des Evangeliums oder des Wortes Gottes, dem die Gläubigen Gewalt antun, indem sie eifrig hinzulaufen, um es zu hören. Auch entgegen dieser allgemeinen Formulierung einer sogenannten evangelischen Auslegung – die eine Präzisierung der Interpretation Karlstadts selbst vor dem Hintergrund einer breiteren Wittenberger Diskussion darstellen könnte – betont die Schrift Reich Gottes noch einmal die totale Passivität des Menschen gegenüber dem göttlichen Wort, aus der die Unmöglichkeit ableitet wurde, dass das Geschöpf gegen den Schöpfer je Gewalt anwenden könne.17

Im zweiten Teil von Reich Gottes vertritt Karlstadt schließlich seine negative Auslegung von Mt 11,12, wobei er sie zunächst mit Stellen aus demselben Kapitel (insbesondere Mt 11,13 u. 16–19), dann auch aus den Evangelien (z. B. Joh 15,20 u. 17,20 oder Mt 23,34–37) und schließlich aus beiden Testamenten (insbesondere aus 2. Mose 32 und 4. Mose 12 oder Apg 19,23–31) untermauert.18Karlstadts Deutung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Erstens ist der Begriff »violentus« in einem negativen Sinn zu verstehen: Er bezieht sich auf diejenigen, die »gewald thuet tzu boeßheit« und vor allem auf die Gewalttätigen, die die Diener des Vaters, d. h. die Christen verfolgen und töten. Das Reich Gottes identifiziert Karlstadt zweitens mit »Christus/ und alle/ so Christo eingeleibt sein mit glauben.«Karlstadts Interpretation ist somit wesentlich mit dem Thema der Verfolgung der wahren Gläubigen verflochten. Der Glaube allein unterscheide nämlich zwischen den Angehörigen der wahren Kirche und damit des Himmelreiches und den bösen Gewalttätigen, die unter Machthabern, Laien oder sogar unter dem Klerus zu finden seien. Die Gewalt, die wahre Gläubige – und mit ihnen auch das Himmelreich, das sie bilden – erleiden, kann jedoch nie zum Erfolg führen. Denn wie sehr sich die Bösen und Gewalttätigen auch bemühen mögen, so Karlstadt, das Reich Gottes bestehe ewig »und regiret mit Christo.«19 Je mehr Gewalt und Verfolgung es ertrage, desto mehr breite sich das Himmelreich aus und werde stärker: Gott behüte und unterstütze ewig die Gläubigen und bestrafe deren Gegner.20 Die Verfolgung und das Leiden nimmt also in Karlstadts Augen eine lehrreiche Bedeutung an: Durch sie wird jener Prozess der Verzweiflung an der eigenen natürlichen Kraft und des völligen Vertrauens auf die göttliche Gnade vollzogen, der die Rechtfertigung bewirkt.21


1Zu Karlstadts Onkel Demuth, von 1519 bis 1523 Propst und Archidiakon am Augustinerchorherrenstift Neuwerk vor Halle/Saale siehe u. a. WA.B 2, 83 Anm. 7 u. WA.B 3, 61 Anm. 3 und Scholz, Residenz, 237 u. 240–242. Siehe dazu auch KGK 183.
2Zum Druck dieses Werkes wahrscheinlich unmittelbar nach Super coelibatu siehe auch Oehmig, Buchdruck, 120 f.Reich Gottes wurde später, wie viele andere Schriften Karlstadts, in Wien bei Singriener nochmals herausgegeben; zu ihm siehe KGK 190 (Anmerkung).
3Vgl. z. B. Hasse, Tauler, 160 f.
4Vgl. z. B. Luther an Spalatin in WA.B 1, 597,7–10 Nr. 232.
5Im SoSe 1520 setzte Melanchthon seinen Kommentar zum Römerbrief fort, an dem er bereits zur Vorbereitung der Loci arbeitete. Vgl. Melanchthon an Johannes Hess am 27. April 1520, MBW 1, Nr. 83.
6Vgl. Melanchthon an Johannes Schwebel, MBW 1, 158 f. Nr. 68.
7Zur Zwickauer Handschrift von Stephan Roth über die Matthäus-Vorlesung (1519/20) Melanchthons – auch im Vergleich zum späteren Druck im Jahr 1523 – siehe Bizer, Verheißung, 86–123 u. 289–308. Dort wird aber Mt 11,12 nicht sonderlich ausgelegt.
8Er wurde am 29. April 1521 immatrikuliert. Bugenhagen schloss rasch eine enge Freundschaft mit Melanchthon, bei dem er untergebracht war. Bereits im April 1521 widmete ihm Melanchthon seine griechische Ausgabe des Römerbriefs; vgl. MBW 1, 95 Nr. 142.
9Bugenhagen arbeitete in den darauffolgenden Jahren an diesem Kommentar und an der Passionsharmonie (1524 veröffentlicht) weiter. Zur Entwicklung von Bugenhagens Denken zwischen 1519 und 1523, insbesondere mit Bezug zum Kommentar zum Matthäusevangelium Bieber, Bugenhagen und hier vor allem – zu Mt 11,12Bieber, Bugenhagen, 135–139.
10Vgl. die Adnotationes zu Mt 11,12 in ASD VI-5, 198–200.
12Vgl. vor allem in den Jahren 1520/1521 in WA 9, 444–672. Siehe dazu KGK 191 (Anmerkung).
13Vgl. LuthersPostillas in WA 7, 463–537; es handelt sich um eine Sammlung von Modellpredigten als Hilfsmittel für Pfarrer, Prediger und Hausväter. Zur Planung dieser Sammlung siehe auch den Brief Spalatins an Luther vom 16. Oktober 1519, WA.B 1, 538 Nr. 211.
14So vermutet es jedenfalls Gerbel in seinem Brief an Luther vom 18. Mai 1521, WA.B 2, 343,31–33: »Cupimus vero omnes, institutos a te in totum Matthaeum Commentarios citissime absolvi. In his enim formam nobis totius christianae doctrinae praestare poteris officiosissime.« Es ist nicht klar, ob Gerbel frühere Nachrichten falsch interpretiert hatte; so WA.B 2, 343 f. Anm. 3. In seinem späten Antwortschreiben vom 1. November erklärt Luther allerdings, er habe sich entschlossen, keinen Kommentar zum Matthäusevangelium zu schreiben und verweist auf seine Predigten aus dem Frühjahr 1521 (vgl. Anm. KGK 191 (Anmerkung)) über Genesis und Matthäusevangelium; vgl. WA.B 2, 397,35–40 Nr. 435. Gerbel hatte 1521 in Hagenau zum ersten Mal ein Exemplar von Erasmus' griechischem Text des Neuen Testaments – ohne Paralleldruck des lateinischen Textes – drucken lassen = VD 16 B 4177.
17Eine ausführliche Erörterung der unterschiedlichen, von Karlstadt abgelehnten positiven Auslegungen und ein Exkurs über die Geschichte der Auslegung von Mt 11,12 in Hasse, Tauler, 153–166.
18Siehe auch Hasse, Tauler, 166–170.
20Vgl. KGK 191 (Textstelle). Diese Textpassage wurde als Schlussrede in KGK III, Nr. 171, S. 547, Z. 1–26 abgedruckt.
21Vgl. z. B. KGK 191 (Textstelle).

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