1. Überlieferung
Frühdrucke:
Alia eiuſdem.
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp; u. a.
CHRISTIANISSI∥MI VVITTENBERGENSIS GYMNA∥ſij, multarum Diſputationū paradoxa & plane enigmata in ∥ Papiſtica illa mendacijs confuſiſſima Eccleſia:uulgaria ∥ uero ueræ Chriſti Eccleſiæ pronūciata. Atqʒ ex his ∥ lector iudicabis, quid agatur in uere Chriſtia/∥na ſchola, quāqʒ hæretica ſit Lutecia, & ∥ omnes filiæ eius. ∥ AVCTORES SVNT, ∥ Martinus Lutherus. ∥ Andreas Caroloſtadius. ∥ Philippus Melanchthon. &c. ∥ [Am Ende:] EXCVSAE ANNO DOMINI ∥ M. D. XXI. MENSE ∥ SEPTEMBRI. ∥
[Basel]: [Adam Petri], 1521, fol. b3r.
4°, 8 Bl., a4–b4 (b4v leer).
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, M: Li 5330 Slg. Hardt. (38,656).Weitere Exemplare: UB Basel, FM1 XI 9:7.
Bibliographische Nachweise:
- Benzing/Claus, Lutherbibliographie, Nr. 819.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 555.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 36.
- VD 16 C 2306.
ALIA EIVSDEM.
in:
Luther, Martin; Melanchthon, Philipp; Karlstadt, Andreas Bodenstein von
LVTHERI , ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ, in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. D8r.
8°, 56 Bl., A8–G8.
Editionsvorlage:
ÖNB Wien, 77.Cc.281.Weitere Exemplare: BSB München, Polem. 3020,13.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 L 7642.
Handschriften:
Handschriften:
Nachlaß Stephan Roth und von seiner Hand.
Abschrift von Christoph Schappeler.
Editionen:
- Riederer, Versuch, 80.
- Barge, Karlstadt 1, 480 Nr. 14.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 202.
- Fischer, Beichte 2, 221.
- Barge, Karlstadt 1, 293 Anm. 124 u. 2, 480 Nr. 14.
2. Entstehung und Inhalt
Es ist nicht klar, wann diese Thesen disputiert wurden. In den beiden Druckausgaben und in Schappelers handschriftlicher Niederschrift der Basler Sammlung von 1522 findet sich diesbezüglich kein Hinweis. Nur Stephan Roth vermerkt in seiner handschriftlichen Kopie, dass es sich um eine »Questio circularis« gehandelt habe,1 die in Wittenberg freitags abgehalten wurden. Da sich die zweite These mit den Auslegungsproblemen von Mt 11,12 befasst und eben diese Stelle in der nachfolgenden Schrift Reich Gottes (KGK 191) einer ausführlichen Analyse unterzogen ist, hat Barge vermutet, die hier veröffentlichten Thesen seien am Freitag vor oder unmittelbar nach dem auf den 29. Juli 1521 datierten Widmungsbrief des Traktats Reich Gottes,2 also am 26. Juli bzw. 2. August 1521, disputiert worden.3 Auch wenn eine präzisere Datierung ohne weitere historische Belege nicht festzustellen ist, scheint es wahrscheinlich, dass diese beiden Thesen im Juli 1521 disputiert wurden, wie die inhaltlichen Überschneidungen mit anderen in jenen Wochen diskutierten Thesen zeigen.
Die hier edierten Thesen befassen sich mit zwei unterschiedlichen Themen. Die erste These greift Mt 5,23 f. und damit das Thema der Beichte auf, das im späten Frühjahr und Sommer 1521 in Wittenberg – auch in Zusammenhang mit der Thematik des würdigen Eucharistieempfangs – zur Diskussion stand. Melanchthon hatte dieselbe Bibelstelle in seinen Loci verwendet, um eine erste Form der privaten Beichte darzustellen, durch die sich jeder Mensch direkt mit denen versöhnen konnte, gegen die er gesündigt hatte.4Luther selbst plante, ausführlich über die Beichte zu schreiben, wie er in einem Brief an Spalatin am 14. Mai bekannt machte.5 Wenige Tage später bestätigte er auch Melanchthon, dass er sein Vorhaben fortsetzen wolle, obwohl er in der Zwischenzeit das Traktat von Oekolampad zu demselben Thema erhalten hatte.6Am darauffolgenden 10. Juni schickte der Reformator schließlich Spalatin eine erste handschriftliche Fassung der Abhandlung Von der Beicht7 mit der Bitte, die Veröffentlichung zu veranlassen.8 Die Schrift wurde jedoch erst Ende September herausgegeben.9
Mittlerweile disputierte man öffentlich über die Beichte in Wittenberg. In der ersten Julihälfte waren einige Thesen Karlstadts zu diesem Thema (KGK 184) vermutlich Gegenstand eines Zensurversuchs des Kurfürsten.10Karlstadt, der sich bis zum Sommer 1521 noch nicht gegen die Institution der Beichte ausgesprochen, sondern nur deren Missbräuche kritisiert hatte,11 nahm daher im Juli 1521 öffentlich an der Debatte teil. Ähnlich hatte Karlstadt sich auch in Von den Empfängern des Sakraments (KGK 183) gegen die dem Empfang des Abendmahls vorauszugehende, kirchlich gebotene Privatbeichte ausführlich geäußert. So würde eine tiefe Scheu vor einer Teilnahme am Abendmahl in den Gläubigen geweckt, die sich ohne Privatbeichte des heiligen Sakraments nicht würdig fühlten. Karlstadt argumentierte dagegen, dass Christus für alle Sünder gestorben sei und alle zum Abendmahl eingeladen habe, damit, wer das Sakrament in festem Glauben empfängt, des Sakraments würdig sei und ihm die Sünden vergeben seien. In der hier edierten These versucht Karlstadt, die Gültigkeit der Privatbeichte noch genauer zu präzisieren und sie auf Sünden und Fehler einzuengen, derer man sich bewusst sei. Das Thema wird damit an jene christliche Gewissensfreiheit angeknüpft, auf die sich das zeitgenössische Super coelibatu (KGK 190) bezog, wo Mt 5,23 f. mit Mt 9,13 und Mt 25,40–43 zusammengestellt wurde.12
Eine ähnliche Argumentationslinie entwickelte Luther in seiner Schrift Von der Beicht. Im zweiten Teil des Traktats schlug der Reformator gegen die Argumente der römisch-katholischen Kirche seine eigene Auslegung bestimmter Bibelstellen in Bezug auf die Beichte vor. Darunter befand sich auch Jak 5,16: Luther sah diese Bibelstelle nicht in Referenz auf die Praxis der geheimen Beichte, die nur vor Pfarrern, Bischöfen und Päpsten abgelegt werden sollte. Stattdessen interpretierte er sie als Bestätigung der christlichen Freiheit, Sünden direkt vor Gott oder bei dem Bruder, der beleidigt wurde, zu bekennen und um Vergebung zu bitten. Zur Unterstützung dieser letzteren Auslegung zitierte Luther u. a. auch Mt 5,23 f.13 Nachdem die Grundlosigkeit der kirchlichen und päpstlichen Gesetze und Traditionen aufgezeigt wurde, durch die die Gläubigen nur aus Gewohnheit oder persönlichem Vorteil zur Beichte getrieben wurden, beschrieb Von der Beicht im dritten Teil schließlich die drei Freiheiten, die die Beichtenden genießen: Die erste Freiheit bestehe gerade in der Möglichkeit, nicht alle Sünden zu beichten, sondern nur diejenige, die »ym gewissenn beyssen und drucken«.14 Es kann vermutet werden, dass auch die erste These Karlstadts Teil dieser Wittenberger Diskussion um eine Neuformulierung der Beichtinstitution vor dem Hintergrund der Dynamik zwischen christlicher Freiheit und dem von der göttlichen Wahrheit erleuchteten Gewissen – auch in Zusammenhang mit der Eucharistiefrage – ist.
Die zweite These konstatiert, dass es keine befriedigende Auslegung von Mt 11,12 gebe. Inwieweit die patristischen Auslegungen als unzureichend anzusehen seien und welche Bedeutung Karlstadt dieser Bibelstelle stattdessen beimesse, erläutert die Reich Gottes (KGK 191), die höchstwahrscheinlich kurz nach oder zeitnah zu den hier edierten Thesen entstanden ist.