Nr. 189
66 Conclusiones: De coelibatu presbyterorum
TODO, [1521, [vor Ende Juli]]

Einleitung
Bearbeitet von Stefania Salvadori

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
DE COELIBATV PRESBY⸗∥TERORVM.
in:
Luther, Martin; Melanchthon, Philipp; Karlstadt, Andreas Bodenstein von
LVTHERI , ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ, in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel : [ Adam Petri ], 1522, fol. C4r–C6v .
8°, [56] Bl., A8–G8 (fol. A1v und G8v leer).
Editionsvorlage:
ÖNB Wien, 77.Cc.281.
Weitere Exemplare: BSB München, Polem. 3020,13.
Bibliographische Nachweise:

Handschrift:

Handschrift:

[a:]KBSG, Ms. 366, fol. 277r–278r

Diese Thesenreihe, die bereits Barge Karlstadt zuschreibt,1 ist nur in der Basler Sammlung von 1522 überliefert, wo sie unmittelbar nach 48 Conclusiones de coniuratione mortuorum (KGK V) und unmittelbar vor 15 Conclusiones de decimis (KGK 212) gedruckt ist. Sie wurden, wie die gesamte Sammlung, von Schappeler in seinem Ms. 366 abgeschrieben.2

Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Wann diese Thesen disputiert wurden, ist nicht bekannt. Nach Barge war es vor Ende Juli, denn Luther äußert sich gegen sie in einem Brief an Spalatin vom 1. August 1521.3 Die von Luther verwendete Formulierung scheint zwar ein wörtliches Zitat aus der hier edierten vierten These zu sein: »[…] Melius esse nubere quam uri«, wiederum ein Zitat aus 1. Kor 7,9. Der argumentative Zusammenhang bezieht sich jedoch offenbar eher auf die 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181). Der Grundsatz, es sei besser zu heiraten als zu brennen, wurde auch in der dritten These über das Zölibat aufgestellt, dem in der vierten und fünften These die Feststellung folgte, dass es zwar sündhaft sei, ein früher abgelegtes Gelübde zu brechen, man aber noch schwerer sündige, wenn man in Unkeuschheit lebt. In dieser Abfolge formuliert Luther auch seine Gegenargumente.4

Da aber die in den 7 Conclusiones de coelibatu behandelten Themen auch in diesen hier edierten 66 Conclusiones de coelibatu ausgearbeitet und umformuliert werden, und da nicht ausgeschlossen werden kann, dass Luther gegen beide gleichzeitig argumentierte, bleibt der von Barge angegebene terminus ante quem »vor Ende Juli« sinnvoll. Die Identifizierung der von Albert Burer am 30. Juni 1521 an Beatus Rhenanus gesandten und von Karlstadt »pridie sanctorum Petri et Pauli«, d. h. am 28. Juni bestrittenen Thesen5 mit den hier edierten 66 Conclusiones de coelibatu bleibt offen: Sie ist zwar chronologisch nachvollziehbar, aber ohne weitere historische Belege nur als Hypothese zu betrachten. Angesichts des engen thematischen und argumentativen Zusammenhangs zwischen den 66 Conclusiones de coelibatu und den im Sommer 1521 verfassten Schriften zum Zölibat (insbesondere KGK 181, KGK 190 und KGK 203) liegt die Vermutung nahe, dass auch die hier edierten Thesen zwischen Ende Juni und Ende Juli 1521 verfasst und disputiert wurden.

Die 66 Conclusiones de coelibatu befassen sich gezielt mit der Priesterehe, wobei Themen und Argumente aufgegriffen und neu ausgearbeitet werden, die bereits in den Thesen und Schriften des Sommers 1521 angeschnitten wurden. Die ersten sieben Thesen stellen das göttliche Wort als die einzig sichere Wahrheitsnorm in den Mittelpunkt, deren Verständnis aber nicht bloß das Ergebnis menschlicher Vernunft, sondern seinerseits eine göttliche Gabe sei (Th 1 f.).6 In der Schrift und insbesondere in den Worten des Apostels Paulus sei eindeutig festgelegt, dass Heiraten keine Sünde darstelle, und dass es besser sei, zu heiraten als zu brennen (Th. 3 f.). Jeder – und sei es auch ein Engel aus dem Himmel – der dem göttlichen Wort widerspricht, etwas hinzufügt oder wegnimmt, begehe Gotteslästerung und unterliege deshalb einer Bannstrafe (Th. 5–7). Dasselbe gilt von denen, die die Gebote (praecepta) und Ratschläge (consilia) Gottes verwechseln (Th. 8 f.). Das ist ein Vorwurf an Calixt II. und an alle seine Nachfolger: Sie hätten aus dem Zölibat eine Pflicht gemacht, die Seelen der Gläubigen in Ketten gelegt und viele in schwere Sünde getrieben, indem sie sie in ihre Heuchelei hineingezogen hätten (Th. 10–13). Vielmehr müsse jeder das, was Christus erlaubt (und damit nicht auferlegt), frei an- oder ablehnen, umso mehr diejenigen, die die göttlichen Wahrheiten nicht verstehen (Th. 14 f.).

In den folgenden Thesen wird dann das tiefere Wesen der Begierde näher erläutert. Diese »amoris ignes« – hier als postlapsarische fleischliche Begierde verstanden – könnten nicht beherrscht werden, ohne Sünde zu begehen, egal ob der Wille einwilligt oder sich widerstrebend wehrt und sich damit selbst Gewalt antut (Th. 16–18). Denn wie keusch man auch äußerlich erscheinen mag, innerlich brennt die Begierde, und wer ihr aus Angst vor Strafe oder aus Opportunismus widersteht, offenbare nur seine Falschheit und Unkeuschheit (Th. 19 f.). Wie in den Schriften Super coelibatu (KGK 190) und besonders Von Gelübden Unterrichtung (KGK 203) kritisiert Karlstadt also auch in diesen Thesen die Heuchelei von Mönchen, Nonnen und überhaupt all denjenigen, die aus Angst oder Gewohnheit mehr den menschlichen Gesetzen (einschließlich dem Kirchenrecht, das die Verpflichtung auf die Ehelosigkeit formulierte) als der Heiligen Schrift folgten. Wie Th. 21 verdeutlicht, seien Liebe und Ehrfurcht nämlich allein Gott geschuldet, nicht den Menschen und ihren Gesetzen. Der Gegensatz setzt sich in den folgenden Thesen fort: Während derjenige, der nur äußerlich Enthaltsamkeit übt, aber eine teuflische Natur in seinem Inneren birgt, sei nur derjenige wahrlich keusch, der sich nicht nur äußerlich, sondern auch in seinen inneren Gedanken und Neigungen mit Freude enthält (Th. 22–24). Derartige äußerlich und innerlich vollkommene Keuschheit sei jedoch eine göttliche Gabe (Th. 25), wie Karlstadt auch in Super coelibatu (KGK 190) betont. Mit Ausnahme derjenigen, die diese Gabe erhalten haben und nicht heiraten müssen, lasse sich die Keuschheit also nicht anderen Menschen vorschreiben, da sie eine göttliche Fähigkeit sei und somit nicht in menschlicher Macht liege. Eine nur in äußeren Werken gespielte Keuschheit vernichtet oder beherrscht dagegen nicht die Begierden in der menschlichen Seele, an die sich stattdessen das Gebot aus Röm 7,7 richtet: »Non concupisces« (Th. 26–30). Aus diesem Grund stoße eine simulierte Keuschheit die Seelen in Sünde und Verdammnis. Der Vorwurf, der zuerst allgemein an Calixt II. und seine Nachfolger erhoben wurde,7 wird hier noch einmal thematisiert: Es sei töricht, die Ratschläge – z. B. im Zölibat zu leben, wenn man die Gabe der Keuschheit empfangen hat – über die Vorschriften – wie die des »Non concupisces«, die für alle und immer gilt – zu stellen (Th. 31). Diese Abstufung zwischen Ratschlägen und Geboten (consilia und praecepta) wird auch in den Schriften vom Sommer/Herbst 1521 thematisiert. In der erweiterten Fassung von Super coelibatu (KGK 190) formuliert Karlstadt sie neu in den Abschnitten, deren Hauptthese es ist, fromme Traditionen und sogar Sakramente der Verkündigung und dem Hören des Wortes unterzuordnen. Die Argumentation in Von Gelübden Unterrichtung (KGK 203) kreist ebenso um die Forderung, Gott mehr zu ehren als jedes menschliche Gesetz oder jede Tradition.

Nach der Feststellung, dass niemand das in Röm 7,7 ausgesprochene Gebot aus eigener Kraft vollständig erfüllen könne (Th. 32), stellt Karlstadt erneut klar, dass die Keuschheit eine göttliche Gabe sei, derer sich niemand rühmen könne, weil durch sie Gott in einzelnen Menschen wirke (Th. 33–35). Diejenigen, die sich rühmen, keusch zu sein, obwohl sie diese Gabe nicht haben, werden wiederum als Heuchler dementiert (Th. 36 f.). Deshalb sollen diejenigen, die die Gabe der Keuschheit empfangen haben, sich frei entscheiden, im Zölibat zu leben: alle anderen sollen sich lieber für die Ehe entscheiden, als eine ihnen mangelnde Tugend vorzutäuschen (Th. 38 f.).

In den nachfolgenden Thesen beruft sich Karlstadt auf die Heilige Schrift als Zeugnis der Wahrheit und zitiert 1. Tim 3,2, um zu bestätigen, dass in apostolischer Zeit Bischöfe Ehefrauen hatten (Th. 40).8 Jede Verfälschung des biblischen Textes, der die urchristliche Praxis der Priesterehe bestätigt, sei daher zu verdammen, besonders diejenige im Kirchenrecht. Dieser wird von Karlstadt ironisch »Kakocanon« genannt, verzerrt oft die Schrift und schädigt die Seelen, ihm ist daher nicht zu gehorchen, da seine Vorschriften nicht der Erbauung, sondern der Zerstörung dienten (Th. 41–43). Das gleiche Prinzip wird auch allgemein auf Gelübde angewandt: Wenn man ein Gelübde abgelegt hat, das Gott und damit dem Gewissen widerspricht, gebe es keinen Grund, das Gelübde nicht zu brechen (Th. 44–46).

Die anschließenden 4 Thesen greifen die Vorbehalts-Klausel »soweit es die menschliche Gebrechlichkeit erlaubt«9, die bereits in der sechsten der 7 Conclusiones de coelibatu (KGK 181) thematisiert wurde, als Pendant zur vorangegangenen Thesen auf. Das Zölibat sei eine göttliche Gabe, der die menschliche Natur in ihrer Gebrechlichkeit, vielmehr in ihrer Neigung zur Sünde entgegensteht (Th. 47–50). Aber gerade wegen dieser Gebrechlichkeit der menschlichen Natur könnten necessitas und charitas, welche imstande sind, das göttliche Gesetz zu mäßigen, die menschlichen Gesetze umso mehr lösen, besonders wenn diese der Schrift widersprechen und das Seelenheil gefährden (Th. 51–53). So wie kein (guter) Vater seinem Sohn, so dürfe auch kein (guter) Papst den Mönchen und Priestern die Ehelosigkeit oder die Ehe aufzwingen (Th. 54 f.).

Die letzte Thesengruppe schließt die kreisförmige Argumentation. Zum einen wird die Überlegenheit der Schrift als einzige Norm der göttlichen Wahrheit wieder hervorgehoben; zum anderen muss alles, was ihr widerspricht – wie eben das Zölibat – abgelehnt werden, um die christliche Freiheit nicht zu zerstören (Th. 56–59). Diejenigen aber, die glauben, das Fleisch aus eigener menschlicher Kraft zähmen zu können, irrten und zeigten damit, dass sie die Gebrechlichkeit ihrer postlapsarischen Natur nicht erkennen (Th. 60 f.). Indirekt wird also daran erinnert, dass die Erlösung ein freies göttliches Geschenk ist. Karlstadt bringt dann eine Analogie: So wie die Juden die göttliche Natur Christi zu verdunkeln suchten, indem sie immer von seiner menschlichen Natur sprachen, so halte das päpstliche Zölibatsgelübde den Presbyter von einer legitimen Ehefrau ab, die seine Aufgabe nicht behindern und seine Ehre nicht beschädigt würde, sondern drängen ihn zu Konkubinen, die seine Ehre definitiv delegitimieren (Th. 62 f.). Daraus entspringe nicht nur die Delegitimierung des einzelnen Priesters, sondern eine Reihe von Skandalen, Betrügereien und vor allem die Missachtung des göttlichen Wortes. Die Zölibatslehre sei nach diesen teuflischen Früchten zu beurteilen (Th. 64 f.). In der letzten These, als Abschluss des Beweisganges oder als Ausruf, wiederholt Karlstadt sein Grundprinzip: »Man muss Gott mehr als den Menschen gehorchen«. Um dies dreht sich auch die darauffolgende Schrift Von Gelübden Unterrichtung (KGK 203).


1 Barge, Karlstadt 1, 476–479.
2Zu Schappeler und seinem Ms 366, das eine Abschrift der Basler Sammlung von 1522 enthält, siehe die Einleitung zu KGK 179.
3 Barge, Karlstadt 1, 476 f. Verweis auf WA.B 2, 371,40 u. 44 Nr. 424: »Iam ista ratio, quod melius est nubere quam uri […] Nam ego nec sacerdotibus coniugium dederim propter solam ustionem […].« Zu diesem Brief siehe auch die Einleitungen zu KGK 181 und KGK 203.
4 WA.B 2, 371,40–44 Nr. 424.
5Vgl. Rhenanus, Briefwechsel, 281, zitiert auch in KGK 181 (Anmerkung).
6Zum Wesen der Schrift und den Voraussetzungen und Grenzen ihres Verständnisses, siehe KGK III, Nr. 163.
7S. auch in Th. 10–13.
8Siehe auch den fünften Kanon in Melanchthons Edition der Canones qui dicuntur apostolici, vgl. KGK 190 (Anmerkung).
9Die Aussage »quantum fragilitas humana permittit«, die gewöhnlich im Kontext der Weiheliturgie ausgesprochen wurde, war bereits in Luthers Adelsschrift zitiert und zur Kritik des Zölibats interpretiert worden. Siehe diesbezüglich KGK 181 (Textstelle).

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