Nr. 212
15 Conclusiones: De decimis
[[Wittenberg]], [[1521, Ende]]

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich BubenheimerAlejandro Zorzin

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
DE DECIMIS PRO⸗∥NVNCIATA.
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
LVTHERI , ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ,in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis,& ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Mıſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis.&c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. C 7r–v.
8°, [56] Bl., A1–G8 (fol. A1v und G8v leer).
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020,13.
Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77. Cc. 281. — RFB Wittenberg, LC 590/1. — RFB Wittenberg, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:

Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

In seinem Exkurs zu Karlstadts Thesen 1521/22 ordnete Hermann Barge,1 wie schon vor ihm Carl Friedrich Jäger,2 diese ohne Namensangabe in der Mitte 1522 gedruckten3 zweiten Basler Sammlung Wittenberger Thesenreihen enthaltenen Grundsätze (pronunciata) Karlstadt zu.4 Die theologische Diskussionsgemeinschaft an der Wittenberger Universität könnte darüber anlässlich einer Zirkulardisputation oder einer Gradverleihung debattiert haben. Da die im September 1521 veröffentlichte erste Basler Sammlung Wittenberger Thesenreihen5 diese 15 Conclusiones de decimis nicht enthält, wurden sie wohl erst im letzten Jahresdrittel 1521 aufgestellt.6

Karlstadts Grundsätze (pronunciata) beginnen mit der Aussage, dass sich diese nicht mit dem Neuen Gesetz begründen lassen (Th. 1); das Argument vom Alten Gesetz auf das Neue sei hier nicht beweiskräftig (Th. 2).7 Vom Zehnten sei im Neuen Gesetz kein Wort zu finden, außer wo Christus mit den Pharisäern handelt (Th. 5). Priester, die einer christlichen Herde Abgabe des Zehnten abverlangen, irrten gewaltig (Th. 3). Zehntabgaben, wie gegenwärtig geleistet, schadeten mehr als sie nutzten, weil sie Zunder für schimpflichen Müßiggang liefern (Th. 4). Wer Zehntabgaben vom Altar einsammelt, dem er nicht dient, handele grob sträflich – trinke und esse zur Hölle (Th. 6). Altardienst erfordert Verkündigung des Wortes Gottes; wer nicht predigt, kann nicht ohne Sünde Zehntabgaben erhalten (Th. 7). Diese an einen Fremden zu geben, das heißt an einen Dieb und Räuber, stehe sowohl der Liebe als auch der Not (des Nächsten) entgegen (Th. 10). Deshalb seien Zehntabgaben mit Mut aufzuheben und für die Armen unserer Gemeinde umzuwidmen (Th. 11). Weder von Christus noch von den Aposteln ist den Laien, die ihren Kirchendienern das zum Leben Nötige liefern, geboten, darüber hinaus Zehntabgaben zu leisten (Th. 13). Jede Stadt soll also kraft göttlichen Rechts ihren eigenen Bischof haben, das ist ein Priester, der mit Predigt und Lehre wirken soll (Th. 14). Lapidar ist Karlstadts Abschlussthese: Wer über Zehntabgaben anders urteile, trete sowohl Christus als auch Paulus mit Füßen.

Auffallend ist im Zusammenhang mit der unabdingbaren Predigttätigkeit (Th. 7 u. 8) die darauffolgende Th. 9. In Verbindung mit Paulus' Vorbehalt über Rede und Lehre seitens Frauen (1. Kor 14,34) folgert Karlstadt (wahrscheinlich in Hinblick auf Frauenklöster), sie könnten wegen fehlender Predigttätigkeit nicht ohne Sünde Zehntabgaben erhalten.

Die Thesenreihe »de decimis« steht der zum Gebot »Non furtum facies« (KGK III, Nr. 172) thematisch nah und bietet eine frühe Diskussionsgrundlage reformatorischer Kritik am Zehntabgabensystem zur Finanzierung kirchlicher Ämter. Die Ablehnung desselben scheint sich bei Karlstadt zeitgleich mit dem von einer Gruppe reformfeindlicher Wittenberger Stiftsherren geleisteten Widerstand gegen die Abschaffung der Privatmessen gefestigt zu haben.8 Am 10. Dezember 1521 benennt er die verhängnisvolle Verbindung von Kirchendienst und Einkommensabsicherung in seiner Schrift Sendbrief Erklärung Pauli an Sympathisanten in Annaberg.9 Die biblisch-juristische Radikalität seiner 15 Conclusiones de decimis spricht für ein Klima, in dem sich (gegen Ende November 1521) die Positionen zuspitzten.

Karlstadts zu jenem Zeitpunkt wohl schon gereifter Entschluss, sein zölibatäres Priesterleben zu beenden, verbunden mit Überlegungen zu einer alternativen Einkommensform, könnte seine Perspektive auf biblische Regeln hierzu beeinflusst haben. In diese Richtung weisen ihm zugeordnete Aussagen wie jene, dass wenn es mit der evangelischen Messe nicht vorangehe, er keine Messe mehr halten, sich in Wittenberg ein Haus kaufen und anderen Bauern gleich selbst für seinen Unterhalt sorgen werde.10 Dazu könnten ihm auch die zuerst von Ulrich Hugwald entwickelten Vorschläge zu einem evangelischen Lebensstil Impulse gegeben haben.11 Karlstadts 12. These (Vom Acker [Brot] esse, wer diesen bestellt, und von der Rebe [Wein] trinke, wer sie pflanzt, und kein anderer, egal ob du dessen Anteil Zehnten oder Elften nennst) scheint in diese Richtung zu weisen.


1Vgl. Barge, Karlstadt 1, 494, Exkurs V, Nr. 21: »Daß Karlstadt der Verfasser gewesen ist, ergeben gewisse Übereinstimmungen mit anderen seiner Thesen – abgesehen davon, dass auch der Inhalt der Thesen für diese Annahme spricht. Vergl. These 14, die echt Karlstadtsche Berufung auf das ius divinum. Ferner These 15: Qui de decimis aliter sentit. Vergl. damit die Wendung in der letzten der 66 Zölibatsthesen (Nr. 11 unseres Exkurses): Qui de coelibatu aliter docet. These 11 enthält einen Hinweis auf die [Wittenberger] Neuordnung des Armenwesens.«
2Zu Von Abtuung der Bilder (KGK V) vermerkte Jäger, Carlstadt, 262, dass Karlstadt: »Auch sonst […] um diese Zeit in seinen öffentlichen Kundgebungen allgemein soziale Fragen (berührt); so hielt er um diese Zeit eine Disputation de Decimis: er führt hier in 15 Sätzen die Gedanken aus: Decimae in nova lege non sunt fundatae, und in der letzten These sagt er geradezu: qui de Decimis aliter sentit, Christum et Paulum una conculcat.«
3Zu dieser (Basler) Zusammenstellung bemerkt Bubenheimer, Scandalum, 333: »Insgesamt gilt von der Thesensammlung, daß sie weder nach Verfassern noch chronologisch geordnet ist, so daß man aus der Abfolge der einzelnen Thesenreihen kaum feste Schlüsse ziehen kann. Zur Bestimmung einzelner Thesenreihen sind daher vorwiegend inhaltliche Argumente notwendig.«
4Im ersten Teil der zweiten Basler Sammlung (auf fol. A2r–C7v) sind nach Mitte 1521 aufgestellte Thesen von Melanchthon und Karlstadt enthalten. Dabei sind die 15 Conclusiones de decimis die letzte in einer Folge von fünf ohne Autorenangabe wiedergegebenen Thesenreihen (fol. B5r–C7v), deren erste vier gleichfalls Karlstadt zugewiesen wurden: 66 Conclusiones de coelibatu (KGK 189); 46 Conclusiones de fide et operibus (KGK 192); 53 Conclusiones de cantu Gregoriano (KGK 209); 48 Conclusiones de coniuratione mortuorum (KGK V).
6Im Dekanatsbuch sind für diese Zeit Einträge zu folgenden unter Karlstadts Vorsitz durchgeführten Promotionen zu finden: 20. Sept. 1521 Promotion des Tilmann Plettner – Thesen nicht bekannt; 11. Okt. 1521 Promotion des Heinrich Aurifaber – Thesen nicht bekannt; 14. Okt. 1521 Promotion des Justus Jonas und Tilmann Plettner – Thesen nicht bekannt; 29. Nov. 1521 Promotion des Johannes Wunschalt OFM – Thesen nicht bekannt. Zur Tätigkeit Karlstadt als Praeses siehe Einleitung zu KGK 178. In ihrem Bericht vom 4. Nov. 1521 an den Kfst. weisen die reformfeindlichen Stiftsherren darauf hin, dass der Propst [Justus Jonas] »vor wenig tagen auch offentlich gepredigt, Das die gestiften messen und ßelampte den verstorbenen nicht hulflich weren, allein lesterung gots und der ßelen pestilentz. Er wolle hie und anders wo getreulich helffen, Das sie abgethan […]. Do durch ethliche von den unßeren vorursacht, ire memorien und jhartag bei unßer kirchen zu widerruffen und an andere orte, do sie gehalden, zuwendenn« (Müller, Wittenberger Bewegung, 59 Nr. 25).
7In Karlstadts 1521 entstandener Schrift Von den Empfängern des Sakraments verwendet er beide Begriffe; vgl. KGK 183 (Textstelle): »Die andere [biblischen] zeychen [eherne Schlange, Regenbogen, Beschneidung] deuten und enden sich in diesen zeychen des fleisch und bluets/ und seint yhr vil abgegangen/ als ausz dem alten und neuen gesetz zuvermercken ist/ […].«
8In seinem Separatgutachten an den Kfst. erwähnt Johannes Dölsch (am 20./21. Oktober 1521), dass die Mönche des Wittenberger Augustinerklosters keine Messe(n) halten wollten, um nicht zu sündigen und auch den Priestern dazu keine Ursache zu geben, die wegen des Geldes oder ihrer Fundation [= gestiftete Lehen] gezwungenermaßen Messen hielten. Dölsch erwähnt auch, dass in der Messfeier eine Predigt stattfinden muss, die deutlich mache, warum das hlg. Sakrament eingesetzt wurde, und die ohne Mitkommunikanten keinen Sinn ergebe. Vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 42–46 Nr. 17.
9Vgl. KGK 208 (Textstelle): »Nu haben unsere [Stiftsherren] ettliche Lehen/ der halbn sich ein teil befaren [= befürchten]/ das sie ire lehen verliren mogten/ so man die ewangelische Messe anrichten wolt/ […] Das macht die Meß[halter] eines blinden verstands/ das sie nicht allein gottis tzorn nit bedencken/ sondern haben auch die obirste [= Obersten] in solichen verdacht eß [= als] sollen sie lust haben das land voller bettler tzu machen […] das ist ein geschwer/ gelt genannt/ ßo man das selbe ansticht/ volget eyter/ das augen unnd vernunft blind macht.«
10Vgl. Barge, Unruhen, 125: »[…] Karlstatt […] lest sich horen, wo das furnhemen mit der ewangelisch messe nit furgang haben wirdt, well er keyn andre messe mehr halten vnd zu wittenberg eyn haus kauffen, sich da mit brauen vnd schenken gleich ein ander pauer ernehren.«
11Vgl. Barge, Karlstadt 2, 13. Von Hugwald – der in der Basler Petri'schen Druckerei mitwirkte – erschien 1520 ein Dialogus (VD 16 H 5859) und Anfang 1521 eine Ad sanctam Tigurinam ecclesiam epistola (VD 16 5858). Ausführlich zu ihm und seiner »emphatische[n] Parteinahme für die Armen und Bauern, die mit einer polemischen Distanzierung vom klerikalen Establishment und vom Gelehrtenstand einherging«, und der wahrscheinlich »der erste reformatorische Schriftsteller gewesen sein (dürfte), der […] für das Landleben warb und die akademischen Graduierungen verdammte.« vgl. Kaufmann, Anfang der Reformation, 253. »Ob Hugwalds Ideen in Bezug auf einen evangelischen Lebensstil durch literarische oder sonstige Vermittlung auf die Wittenberger Bewegung eingewirkt haben, entzieht sich unserer Kenntnis. In Hinblick auf den Entwurf eines ›alternativen‹ christlichen Lebens, das den Zwängen und Eitelkeiten der Gelehrtenkultur entrückt war, gebührt ihm die Priorität; dieses gilt etwa auch gegenüber Karlstadt, dessen Lebensentscheidungen der Jahre 1522/23 in auffälliger Nähe zu den Vorstellungen Hugwalds standen.« Kaufmann, Anfang der Reformation, 255. Siehe zu ihm auch KGK 211.

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