1. Überlieferung
Frühdruck:
DE FIDE ET OPERBVS ∥ AXIOMATA.
in:
Luther, Martin; Melanchthon, Philipp; Karlstadt, Andreas Bodenstein von
LVTHERI , ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ, in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. B5r–B6v.
8°, [56] Bl., A8–G8, fol. A1v und G8v leer.
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020, 13.Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77.Cc.281. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, Ag 8 548d. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 1516. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 2272. — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, LC590/1. — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 L 7642.
Handschrift:
Handschrift:
Editionen:
- Riederer, Disputationen, 184 f.
- Jäger, Carlstadt, 207–209.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 207–209.
- Fischer, Beichte 2, 129.
- Barge, Karlstadt 1, 301–303 mit Anm. 143–150; 481 Nr. 15.
2. Entstehung und Inhalt
Karlstadts Verfasserschaft der 46 Conclusiones de fide et operibus wurde von Riederer1 in Zweifel gezogen, später dagegen ohne Begründung angenommen.2 Barge verwies nicht allein auf den »äußerlichen Umstand, daß das in der Basler Thesensammlung auf unsre 46 Thesen folgende Stück (Thesen de cantu Gregoriano)3 gleichfalls sicher von Karlstadt herrührt,«4 sondern auch auf den an Karlstadts Theologie erinnernden Gehalt der Thesen 34 und 35 sowie auf einen inhaltlichen Zusammenhang der 12., 15. und 27. These mit seiner nach dem 30. September 1521 veröffentlichten Schrift De legis litera (KGK 197).5 Die Idee von der Freundschaft zum Gesetz als freiwilliger Dienst an Gott legte Karlstadt in den vorliegenden 46 Conclusiones an und bildete sie in De legis litera in ihrer Spezifik weiter aus, sodass aus diesem Konnex die Autorschaft Karlstadts und der ungefähre Zeitpunkt der Disputation im September 1521 abgeleitet werden können. Die Thesen können keiner Promotion zugeordnet werden und scheinen eher, wenn sie disputiert wurden, den freitäglichen Zirkulardisputationen zugehörig.
Gleichsam sind die Thesen Ausdruck der Wittenberger Reformdiskussionen und spiegeln den Austausch innerhalb der sich in den Debatten ausbildenden Diskursgemeinschaft. Üblich ist, dass einige der vorliegenden Thesen Sätze Luthers aufnehmen und in andere Argumentationszusammenhänge überführen.6 Darüberhinaus fällt jedoch auf, dass sich die Thesen 27, 44 und 45 in wörtlichen Anleihen mit Melanchthons Korintherbriefexegese (zu 1. Kor 9,26) auseinandersetzen, in dessen Zusammenhang auch die Thesen 28 bis 32 stehen.7 Eine genaue Datierung des Ablaufs der Vorlesung könnte Aufschlüsse für die Datierung von Karlstadts Thesenreihe liefern. Melanchthon gab im Mai 1521 den lateinischen Text des 1. Korintherbriefes als Übungstext heraus8 und begann daraufhin am 29. Mai mit der Vorlesung.9 Am 1. Oktober 1521 las er über 1. Kor 13,12.10 Über das 16. Kapitel des 1. Korintherbriefes las Melanchthon kürzer, um am 29. Oktober die Vorlesung zu beenden.11 Am folgenden Tag behandelte er bereits den 2. Korintherbrief.12Von beiden Vorlesungen hat sich eine Nachschrift von Daniel Schilling13 in Breslau erhalten.14Der Druck der Exegese, von Luther veranlasst und mit einem Widmungsbrief versehen, ist auf den 23. Oktober 1522 datiert.15Karlstadt lag für seine Thesenreihe also noch nicht der Druck der Auslegung Melanchthons vor, sondern er muss auf Manuskripte bzw. Mitschriften zurückgegriffen haben; vielleicht gehörte er selbst zu den Hörern. Bei etwa gleichbleibendem Vorlesungstempo kann die in den Thesen angesprochene Passage (zu 1. Kor 9,26) Ende August gelesen worden sein. Daher sind die 46 Conclusiones im September 1521 entstanden und abgehalten worden.
Die Thesen können unterteilt werden in eine Art Prolog (Thesen 1–3) sowie zwei größere Blöcke: der erste (Thesen 4–26) befasst sich mit dem Verhältnis von Glaube, Gesetz und Werk, mit einer Abzweigung zur Frage, wie sich der gläubige Christ menschlichen Vorschriften unterstellt (Thesen 19–26); der zweite Block (Thesen 27–46) widmet sich der Frage der Entlohnung der Dienstunterstellung des Christen unter Gott, die letztlich mit der Verheißung Christi beantwortet wird.
Der Prolog (1.–3.) stellt die Grundthese der Freiheit der äußeren Handlungen des Christen auf, also einer Freiheit hinsichtlich seiner Werke; zugleich verwandelt ihn der Glaube in einen anderen Menschen. Dieses Spannungsfeld zwischen Freiheit und unbedingtem Glauben, der Unterstellung unter das Gebot Gottes bedeutet, beleuchtet nun die Thesenreihe. (4.) Denn der Freiheit setzen die Vorschriften und Gebote eine Grenze. (5.) Werke können nur dann vollkommen gut sein, wenn sie gemäß Gottes Gebot erfolgen; (6.) die vom Gesetz zurückgewiesen werden, sind schlecht. (7.–9.) Der gläubige Christ führe seine den Vorschriften gemäßen Handlungen aber nicht nur zum Anschein aus oder als sei er dazu gezwungen, sondern zum Gefallen Gottes, ehrlichen Herzens und frohen Mutes. (10.) Eine solche Herangehensweise erhöhe die Zuversicht, Gott zu gefallen; (11.) durch Zweifel aber würde das Werk schlecht. (12.) So werde der Dienst am Gesetz nicht zum Sklavendienst, sondern zum Freundschaftserweis. (13.–14.) Christus habe nicht nur zur Erfüllung der Gebote aufgerufen, sondern durch sein Opfer die Christen vom Fluch des Gesetzes befreit und sei ihnen zur Gerechtigkeit geworden. (15.) Ohne Glaube die Gesetze zu halten, sei – so Karlstadt – jüdische Religionsausübung, d. h. pharisäisch. (16.) Das Aufgehen des eigenen Willens im Gesetz Gottes verheiße Seligkeit, (17.) denn dieser Wille sei Geist Gottes und Gesetz zugleich. (18.) Dem Befehl Gottes – und sei er noch so ausgefallen wie die Opferung des Sohnes oder die Tötung des Nachbarn – sei zu folgen, (19.) menschlicher Vorschrift aber nur, wenn diese der Seele keinen Schaden zufüge; (20.) kollidiere sie mit dem Gebot Gottes, sei das ein Frevel. Karlstadt impliziert hier, dass meist das Umgekehrte der Fall sei.
Die letzten beiden und die folgenden sechs Thesen beschäftigen sich mit dem Verhältnis menschlicher Vorschriften zum göttlichen Gebot. (21.) Eine Tyrannei, die das Wort und den Glauben nicht auslöscht, sei zu ertragen, (22.) doch müssten die Vorschriften der Menschen genau am Geist Gottes geprüft werden, (23.) der essentiell mit dem göttlichen Gesetz übereinstimme. (24.–26.) Nach menschlicher Vorschrift zu schwören, zu fasten, sich des Fleisches zu enthalten, zu beichten und zu kommunizieren, sei dem Anschein nach gut, doch fehlte das Übrige und vor allem der Glaube, seien diese Werke nichts als Sünde, eine geschminkte Totenfeier und innerlich voller Unflätigkeiten. Karlstadt bezieht sich damit in erster Linie auf Mönchsgelübde und Klosterregeln,16 aber auch auf den christlichen Alltag gemäß römischer Praxis.
Der letzte Abschnitt der Thesenreihe setzt mit These 27 ein, die den Dienst des Christen für Gott zum unentgeltlich ausgeübten Freundschaftsdienst deklariert. Die folgenden vier Thesen stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. (28.) Während eingangs die Proposition aufgestellt wird, dass Werke, die allein deshalb getan würden, um Verdienst zu erlangen oder Strafe abzuwenden, Gott nicht gefielen, kehren die Thesen 29–31 die Frage der Belohnung um: so wie Paulus rühme, nicht ins Ungewisse zu rennen, entbehrten gute Werke gewiss nicht des Lohnes. Denn nicht auf Lohn zu hoffen, heiße, die Hoffnung aufzugeben und nicht von der Barmherzigkeit Gottes zu wissen. Im Rekurs auf die 28. lautet die 32. These: Werke, die belohnt werden wollen, rechtfertigen nicht. Um dann in der folgenden, 33. These zu synthetisieren: Allein der Glaube rechtfertige, ohne Rücksicht auf Werke, seien sie gut oder schlecht. Diese Synthese wird im Folgenden ausgeführt. (34.) Ein Glaube ohne gute Werke sei unmöglich, (35.) ebenso werde der Glaube nicht ohne seine Werke belohnt. (36.) Wie die Qualität der Frucht einen guten Baum anzeige, so verdeutlichten gute Werke die Rechtfertigung des Menschen, die aus dem Glauben besteht. (37.) Gemäß Mt 15 beurteile Christus die menschlichen Werke wie Zeichen des Glaubens oder Unglaubens, (38.) wobei zuerst die Glaubensbekundung im Werk geprüft würde, (39.) denn Werke würden belohnt, weil sie im Glauben getan wurden, nicht weil sie besondere Werke sind. (40.) Daher rechne Gott bei Werken, die übel waren, doch im Glauben erfolgten, dieses Übel in Rücksicht auf den Glauben nicht an. Hier wenden sich die Thesen der Heilswirksamkeit der Verheißung Gottes und ihren Zeichen zu. (41.) Denn der Glaube rette nicht, weil man glaubt, sondern weil Gott dem Gläubigen das Heil verheiße, (42.) dass die Schuld vergeben werde, damit der Gläubige umso gewisser sei, dass jene erlassen wurde. (43.) Um aber nicht durch ängstliche, kleine Zweifel in Hoffnungslosigkeit zu stürzen, fügt Gott den Verheißungen die Bekenntnisse hinzu. (44.) Der freiwillige Dienst an Gott (im Signum der Verheißung) lässt den Gläubigen unentgeltlich (doch nicht umsonst) dienen und freiwillig von der Belohnung Abstand nehmen. Die letzten beiden Thesen unterlegen diese Aussagen biblisch (45.) mit Verweis auf 2. Sam 15,26, wo David sagt: »Wenn der Herr spricht, es gefällt nicht, bin ich zu Diensten, er soll tun, was vor ihm gut ist«; (46.) sowie mit Referenz auf Elis Spruch aus 1. Sam 3,18, der sagt: »Er ist der Herr, was in seinen Augen gut ist, geschieht.«
Die 46 Conclusiones de fide et operibus dienten, wie viele der Thesenreihen des Jahres 1521, der Wittenberger Diskussionsgemeinschaft als Versuchsreihen, die gleichsam experimentell die jüngeren Ausführungen Luthers am theologischen Detail bzw. am kirchlichen Reformalltag überprüften. Im Fall der 46 Conclusiones treffen die neue, unterdessen in Wittenberg allgemeingültige Lehre vom Glauben als einzigem Heilsmittel und Luthers Konzeption der Freiheit eines Christenmenschen auf die Frage, welchen Stellenwert angesichts dessen die göttlichen Gebote, das Gesetz und die guten Werke weiterhin haben. Wie erwähnt, finden Gedanken aus Melanchthons Korintherbriefexegese zur Frage der Heilsungewissheit und der göttlichen Verheißung teils wörtlich Eingang (Th. 27–32, 44 f.). Karlstadt bemüht sich darum, die Notwendigkeit, die Gebote einzuhalten, mit der Ansicht, dass das ewige Leben allein am Glauben hänge, zu harmonisieren, indem er Gehorsam gegen die Gebote einfordert; jedoch sollten die gesetzeskonformen Handlungen im Glauben erfolgen.17 Hierin zeigen die 46 Conclusiones die spezifische Ausprägung Karlstadt'schen Denkens. Eine große Nähe zu seiner Schrift De legis litera liefern Thesen über den Dienst am Gesetz, der den Gläubigen nicht zu dessen Knecht, sondern Freund mache (Th. 13 f., 27),18 über die jüdische Gesetzesbefolgung ohne Glaube (Th. 15),19 die Wertlosigkeit von Werken und Opfern im buchstäblichen, aber ohne geistlichen Sinn (These 24–26) und zur freudigen Übernahme des Gesetzes und seiner Vorschriften (Th. 7–9). Auch die gleich eingangs aufgestellte Aussage, dass der Christ frei sei und der Glaube ihn in einen anderen Menschen verwandelt habe (Th. 1 f.), korreliert mit dem dortigen Stellenwert der Erneuerung durch den Geist und der Beschneidung des Herzens, die einen neuen Menschen im Geist und Glauben geschaffen habe.20 Die Thesen erscheinen wie eine frühe Form von Argumentationsgängen, die De legis litera dann ausführt.