Nr. 209
53 Conclusiones: De cantu Gregoriano
[[Wittenberg]], [[1521, Mitte Dezember]]

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
DE CANTV GREGORIANO ∥ DISPVTATIO.
in:
Luther, Martin; Melanchthon, Philipp; Karlstadt, Andreas Bodenstein von
LVTHERI , ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ, in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. B7r–C1r.
8°, 56 Bl., A8–G8, fol. A1v und G8v leer.
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020, 13.
Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77.Cc.281. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, Ag 8 548d. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 1516. — RFB-Luthergedenkstätten Wittenberg, SS 2272. — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, LC590/1. — RFB-Evangelisches Predigerseminar Wittenberg, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:

Handschrift:

Handschrift:

[a:]KBSG, Ms. 266, fol. 287vfol. 276r–v
Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Die Verfasserschaft Karlstadts ist durch eine polemische Passage des Erasmus Alber in seiner Schrift gegen Karlstadt und dessen Anhänger bezeugt. Als eine direkte Referenz auf die letzte These der vorliegenden 53 Conclusiones de cantu Gregoriano kann Albers folgende Aussage gewertet werden: »Nůn vernemet Carlstads argument, und lachet auch nicht. Gleich wie nůr ein Gott ist/ also sol auch nůr ein stimme sein/ darumb sol man kein Discant. Baß/ noch Alt singen.«1 Bereits Riederer, der nur die erste und letzte These abdruckte, hat an Hand derselben Stelle aus der Schrift Albers die Verfasserschaft Karlstadts nachgewiesen, dem die Forschung seither folgte.2 Die Datierung der 53 Conclusiones ist auf Grund einer textuellen Referenz auf das Gutachten der reformfeindlichen Mitglieder des Stiftskapitels vom 14. Dezember 1521 zur Messreform genauer zu fassen. Dort heißt es, dass der Messgesang kein Wolfsgeheul sei, sondern die Seele und den Geist erhebe.3 Darauf reagieren zwei der hier vorliegenden Thesen direkt.4 Aus diesem Grund sind die 53 Conclusiones in die unmittelbare zeitliche Nähe zu dieser Diskussion über die Änderung und Erneuerung der Gottesdienstpraxis Mitte Dezember 1521 zu datieren.

Die 53 Conclusiones befassen sich mit der Funktion des Gesangs im Gottesdienst und im Buß- und Heilsgeschehen. Sie rufen zu einer grundsätzlichen Reform des Gesangs im Rahmen der gottesdienstlichen Erneuerung in Wittenberg auf. Die ersten vier Thesen fragen nach der Funktion des Gebetes und des Gesangs. Das Gebet diene der Erhebung des Geistes zu Gott, nicht der Gesang.5 Es erfolgt im Herzen, wo sich die Seele im Angesicht Gottes ergieße. Diese Art des Gebetes sei schon im Alten Testament als das Gebet der Hanna, Frau des Elkana, belegt. Thesen 5 bis 10 befassen sich mit dem Verhältnis von Geist und Gesang in der gegenwärtigen, römisch geprägten Kirche. Die Psalmen in Nachtwachen und Stundengebeten zu singen, heiße nicht zu beten. Fanatisch sei es, im Gesang dem Ton an Stelle des Geistes den ersten Rang zuzusprechen. Der gregorianische Gesang halte den Geist von Gott fern, da sich der Geist des Sängers eher mit der musikalischen Notation beschäftigt als mit dem Geist der gesungenen Worte. Ist der Gesang angenehm, erhebe er den Sänger zur Überheblichkeit; ist er bitter, führe er den Sänger zu Husten und Gallentätigkeit [Rülpsen], den Hörer zu Gelächter.

Die folgenden drei Thesen (11–13) stellen heraus, dass die Priester derzeitig eher nach dem Klang ihrer Stimmen beurteilt würden und nicht nach der Sittlichkeit ihres Lebenswandels wie einst. Heute brüllten sie in den Kirchen, einst spendeten sie den Armen Almosen; sie erholten sich faul im Müßiggang, während sie früher den Aposteln eine Freude machten, indem sie das Wort Gottes verkündigten. Die Thesen 14 bis 23 denunzieren den gregorianischen Gesang in der Kirche als unnötigen Prunk. Wie der Klang der Orgel sei er über den Klang hinaus nichts. Dagegen sage Christus: »Mit den Lippen ehren sie mich, aber ihr Herz ist fern von mir.«6 Der Mensuralgesang7 behindere wahre Frömmigkeit und sei stracks aus der Kirche zu verbannen. In die Höhe aufsteigende Töne nenne man Hyla, die in die Tiefe absteigenden »taratantara«.8 Zusammen mit diesen Tönen seien Orgeln, Trompeten und Flöten an die Theater und Fürstenhöfe zu verbannen, denn die Erhebung des himmlischen Brotes und das üppige Orgelspiel klängen im Saitenspiel zusammen wie Schafs- und Wolfstöne. Karlstadt verweist an Hand des Liedes »Wohlauf guter Gesell von hinnen« auf die zeitgenössischen Messkontrafakturen, die weltliche Lieder in Messoratorien umarbeiteten.9 Messe und Sakrament werden nach Christi Worten zu seinem Gedächtnis10 bzw. nach Paulus zur Verkündigung seines Todes gefeiert,11 nicht zum Gedächtnis der Venus, von Aristokraten oder zur Erinnerung an den Tod des Pyramus und die Vergnügungen der Thais.12 Es sei besser, einem Armen eine Silbermünze zu spenden als den Orgelspielern eintausend Goldstücke, es sei denn, man wolle in der Seelennot verharren.

Die Thesen 24 bis 41 stellen die rechte Verkündigung des Gotteswortes im Haus Gottes als dem Haus der Liebe der Messe nach römischem Ritus mit gregorianischem Gesang im Haus des Lärmes gegenüber, das nur eine Berechtigung besitzt, wenn dort der Lärm des Propheten Jesaja als seltener Ruf in der Wüste, der den Geist des Menschen zu Gott erhebe, ertöne.13 Klingende Gebete, die aus dem Herzen kommen, seien nicht abzutun, sondern die tönenden, die allein aus der Luftröhre durch die Wangen hervortreten, die ohne Aufmerksamkeit und Verständnis [der Worte Gottes] geschehen wie das Gezischel der Ungelehrten und die Klagegesänge der Nonnen. Ohne Verständnis der Worte mit der Laute zu einer unbekannten Sprache zu tönen, bedeute, das Wort zu missachten. Heilsamer als tausendmal den ganzen Psalter durchzuträllern wäre es, allein das Wort des Herren zu verwenden. Hunderte Jungen vertrieben in ihrer ganzen Jugend schnatternde Gänse mit einem Lied. Das ungelehrte Volk rufe dumm »Amen« und wisse nicht, was auch immer es von Gott erbittet, wenn es [die Lieder] ausbliese. Daher solle der Grieche griechisch, der Afrikaner afrikanisch, der Deutsche deutsch den Psalter singen und beten. Die Kirche, deren Oberhaupt Papst Gregor I. war, habe dieses Gemurmel eingeführt, jedoch nicht die Kirche, deren Oberhaupt Christus ist. So wie Christus über das müßige, nutzlose Wort urteile,14 so müssten die Gläubigen Rechenschaft über den schnatternden Gesang ablegen. Beides nütze dem Nächsten nichts.

Die Thesen 42 bis 49 widmen sich den festen Riten der Kirchengesänge, vornehmlich in den Mönchsorden. Verfügungen zum Gesang zur siebten Stunde bzw. zu den Stundengebeten, strenge Festlegungen mit Strafen bei Abweichungen, welche Gesänge in welchem Orden und welcher Diözese durchgeführt würden, seien nicht Frömmigkeit, sondern Fanatismus ohne Unterscheidung von Fleisch und Geist. Der jetzige Gesang habe so viel Anmut wie ein Acker voller Sand. Der Gott dieser Frömmigkeit meine, dass ihm Genüge getan werde, indem er diese Tiere des Bauches (die Mönche) wie Masthühner fett mästet.

Die letzten vier Thesen sind eine Art Synthese der ganzen Thesenreihe. Gott habe wenig Interesse an dieser Spende [des gregorianischen Gesangs], lasse aber diejenigen, die langsam und träge im Glauben sind, sich an diesen Gütern erfreuen, bis sie sich bekehrt haben und für das Bessere aufnahmebereit seien. Wenn der Gesang in der Kirche erhalten werden solle, dann lediglich einstimmig, sodass nur ein Gott, eine Taufe, ein Glauben und ein Gesang sei.

Die Ablehnung der Umzüge und der prunkvollen Kleidung, der Orgelmusik, der Vielzahl an Gebeten, Gesängen und Kerzen findet sich im Zusammenhang mit der Sakramentselevation bereits in Lutherschriften des Jahres 1520.15 In seinen Arbeiten über die Frage der Gelübde im Frühsommer 1521 beklagt Karlstadt das Gemurmel und Geheule der Mönchsgesänge als sinnlos und ohne Verstand.16 Mit der sich verschärfenden Diskussion um die Reform der Messe, dynamisiert durch den Gottesdienst mit Abendmahl in beiderlei Gestalt, aber ohne Elevation der Hostie im Augustinerkloster in Wittenberg am 6. Oktober 1521 und die Predigten Gabriel Zwillings, woraufhin Kfst. Friedrich III. die Universität zur Erstellung eines Gutachtens bzw. Berichts aufforderte, wuchs das Bedürfnis nach Fixierung der geplanten Neuerungen und ihrer Umsetzung in der Praxis.17 Das Gutachten des reformfreundlichen Universitätsausschusses vom 9./12. Dezember 1521 hatte sich (wohl unter Federführung Karlstadts) beklagt, »daß man solle Meß halten und Horas canonicas ohn alle Besserung der Kirche und des christlichen Haufens heulen«.18 Die Reformgegner am Allerheiligenstift versetzten dem, unmittelbar nach Lesung des gegnerischen Textes: »Darumb die Kloster und Stifft nicht umb heulen, sondern eintrechtig zu singen […].«19 Vor allem die Passage, dass beim Gesang in der Messe mehr Wert auf den Klang und von diesen ausgehenden Erschütterungen der Seele als auf Verständnis der Worte gelegt werden solle, was den Geist der Menschen ebenso wie der Klang der Orgel erhebe (zumal viele Gottesdienstbesucher selbst deutsche Predigt nicht verstünden), reizte Karlstadt. Die 53 Conclusiones sind die ausführliche Reaktion darauf und bekämpfen gesangliche Lautmalereien, langgezogene, mehrstimmige Wechselgesänge, große Chöre und den exzessiven Einsatz von Instrumenten wie jeglichen Prozessionsprunk. Gesang in der Kirche erhält keinen Platz im Bußgeschehen, die Erhebung der Seele zu Gott erfolgt im Gebet, nicht im Gesang. Mensuralgesang und Instrumentaleinsatz haben nichts in der Messe verloren, die Neufassung von allgemeinem Liedgut in Form von Messoratorien (Messkontrafakturen) sei frevelhaft. Im Zentrum des Gottesdienstes stehe die Verkündigung des Wortes in verständlicher Form, d. h. in der Landessprache, zugestanden wird einstimmiger Gesang.

Die im Januar 1522 entstandene Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung folgt diesen Vorgaben insoweit, dass sie die deutsche Sprache in der Messe vorschreibt und den Kanon reduziert, jedoch nicht vollkommen abschafft.20 Dagegen überbietet die nur in Exzerpten überlieferte, vom Senat der Universität Wittenberg konfiszierte Schrift über die Messe gegen Hieronymus Dungersheim vom April 1522 die avancierteste Behandlung des Themas: dort erkennt Karlstadt nur noch die gesungenen Einsetzungsworte als einzige gesangliche Einlage der Messe an.21

28 Thesen dieser 53 Conclusiones wurden von Havel Žalanský-Phaëton (1567–1621), einem böhmischen utraquistischen Priester, rezipiert und 1614 veröffentlicht.22 Da die Thesenreihe in der Baseler Thesensammlung nicht unter Karlstadts Namen geführt wird, sind sie ohne Autorenangabe nur als eine Entnahme aus der Sammlung gekennzeichnet.


2Jäger, Carlstadt, 262, Anmerkung 2; Barge, Karlstadt 1, 491 f.
6Vgl. Mt 15,8.
7Zur Mensuralmusik, die mit bestimmten Notationszeichen aufgezeichnet wurde, s. KGK 209 (Anmerkung).
15Vgl. Luther, De captivitate Babylonica (1520): »Principio, ut ad veram liberamque huius sacramenti scientiam tuto et foeliciter perveniamus, curandum est ante omnia, ut omnibus iis sepositis, quae ad institutionem huius sacramenti primitivam et simplicem humanis studiis et fervoribus sunt addita, qualia sunt vestes, ornamenta, cantus, preces, organa, lucernae et universa illa visibilium rerum pompa, ad ipsam solam et puram Christi institutionem oculos et animum vertamus, nec nobis aliud proponamus quam ipsum verbum Christi, quo instituit et perfecit ac nobis commendavit sacramentum.« (WA 6, 512,26–31); Luther, Ad librum Ambrosii Catharini responsio: »Augentur istae aliis horis beatae Virginis, sanctae Crucis, et tumultus illius carminum, quem deus in propheta dicit se non auditurum, nullus est finis. Et quis recenseat quantis legibus (id est peccati autoribus) et conscientiis hoc unum opus vexetur et vexet? Additae sunt voces, cantus infiniti generis et varietatis. Nam et organa universaque musica huic faciei serviunt.« (WA 7, 733,38–734,5).
16KGK 190 (Textstelle); S. KGK 203 (Textstelle); KGK 205 (Textstelle). Zum Gesang und dem unnötigen Einsatz der Orgel in der Messe vgl. bereits Luther, Adelsschrift (1520): »[…] das sie zu letzt, wie sie wirdig sein, kummen auff die hefen, das ist auff der Choral senger und orgel geschrey und faulle, kalte mesz […].« (WA 6, 452,12–14).
17Vgl. KGK 199 und KGK 200.
20S. Absatz 14 in der Beilage zu KGK V, Nr. 219: »Item die messen soͤllen nit anderst gehalten werden/ dann wie sy Christus am abentessen hat eingesetzt / doch umb etlicher sachen umbs glauben willen / lasset man singen/ de tempore/ und nit de sanctis/ und singet Introitum/ kyrieleison/ gloria in excelsis/ et in terra/ collecta / vel preces / epistel/ gradualia / on sequens / evangelium/ credo / offertorium / prefatio / Sanctus / on Canonem maior unnd minor/ dieweil die gschrifft nit gemeß seind […].«
21S. KGK V, Nr. 228: »Primo ex hoc concludit melius nichil cantandum in missa preter verba sacramenti[.]«
22Žalanský-Phaëton, Pocte (1614), 293–295. Es handelt sich um einen Abdruck der Thesen 1–2, 5–11, 14–16, 18, 22, 24, 32–40, 42, 45–46, 53.

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