1. Überlieferung
Handschriften:
Die autographe Handschrift a hat Textverluste (das Blatt ist beschnitten) in der rechten unteren Ecke zu verzeichnen, sodass das Briefdatum nicht mehr zu identifizieren ist. In der oberen linken Ecke steht die Datumsangabe »1521«, wohl verbessert aus »1520«, aber möglicherweise nicht von Karlstadts Hand. Ebenso ist Karlstadts Name am Ende der Adresse nicht autograph. Es haben sich Spuren des Siegels Karlstadts mit roten Lackresten erhalten. Vom Siegel ist eine Mondsichel mit einem von drei Sternen in der Mitte identifizierbar.
Bibliographische Nachweise:
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 102.
Editionen:
- Jäger, Carlstadt, 506 Anhang Nr. 1.
- Millet, Correspondance, 41 Nr. 124 (Regest).
- Capito, Correspondence 1, 182 f. Nr. 124.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 506.
- Barge, Karlstadt 2, 209 mit Anm. 152.
Beilage: Wolfgang Capito an [Justus Jonas], [Halle?], 1521, [vor dem 30. September]
Handschriften:
Wasserzeichen der Blätter: Ochsenkopf mit Augen und Nüstern, auf dem sich ein doppelkonturiges, in Rundungen auslaufendes Kreuz befindet, um welches sich in vier Bögen eine Schlange windet. Wahrscheinlich Basel 1519, vgl. Picard Nr. 77460; oder Solothurn 1518/19, Picard Nr. 77491.
Editionen:
- Millet, Correspondance, 41 Nr. 123 (Regest).
- Capito, Correspondence 1, 181 f. Nr. 123.
2. Entstehung und Inhalt
Die Edition von Erika Rummel hat trotz des Hinweises auf das Autograph weitgehend den Text von Jäger, der auf der Zürcher Abschrift beruht, mit dessen Entzifferungsfehlern übernommen.1Karlstadt antwortet mit seinem Brief vermutlich auf ein Schreiben Wolfgang Capitos2, des kfstl. Kanzlers und Rats Kardinal Albrechts, des Erzbischofs von Mainz und Magdeburg, oder auf ihm anderweitig zugetragene Informationen. Entgegen der Vermutung Olivier Millets, übernommen von Erika Rummel, ist dieser Brief aber nicht die Antwort auf einen – nur abschriftlich überlieferten – Brief Capitos, der weder Adressat noch Datum aufweist.3 Dieser Brief wird hier als Beilage mitediert. Da Capito darin dasselbe Anliegen, nämlich Auseinandersetzungen um die Rolle des Alten Testaments im Umfeld der Wittenberger Theologie, vorträgt, gehört der Brief in die unmittelbar gleiche Zeit wie der vorliegende Brief Karlstadts an Capito. Der Adressat jenes Briefes Capitos ist jedoch nicht Karlstadt, sondern, wie aus dem Brieftext hervorgeht, der Propst des Wittenberger Allerheiligenstifts, Justus Jonas.4
Karlstadt beginnt damit, dass er erfahren habe, dass die Gesundheit Capitos unbeständig sei. Capito halte vor, gehört zu haben, dass einige [in Wittenberg] das Alte Testament ablehnten. Der Verdacht aber sei fern, dass der Universität [Wittenberg] angerechnet werde, dass sie in öffentlichen Vorlesungen und Disputationen sich ereifere, dass nichts am Neuen Testament Anstoß erregen könne, weil es nicht Moses enthalte [dass also das Neue Testament deshalb nicht anstößig sei, weil es die Gesetzesvorschriften nicht weitertrage]. Die Wittenberger dächten so über Moses wie über die Propheten, die Christus approbiert habe. Capito klage über die ungewöhnliche Freiheit der Wittenberger, dann aber über die Schamlosen, die die beste Seele ins Verderben stürzten. Karlstadt fühle sich bedrängt durch die Frechheit einiger Menschen, doch werde die freie Philosophie Christi verkündigt, wenn man selbst öffentlich die Stimme für den Eckstein erhebe, der gesetzt sei zum Fall vieler und auf den die unfrommen Füße eintreten.
Täglich ersehne KarlstadtCapitos hebräisches Lexikon. Wenn Capito es länger für sich behalte, bietet Karlstadt an, es mit Capitos Erlaubnis auf seine Kosten abschreiben zu lassen. Er wünscht, Capito persönlich zu treffen.
In dem hier als Beilage edierten Brief an den Propst des Allerheiligenstifts in Wittenberg, Justus Jonas, entschuldigt sich Capito, auf Grund von Verpflichtungen nicht persönlich [nach Wittenberg] gekommen zu sein. Trotz seiner Freude über die Wiedergeburt der Kirche, die die Pest des barbarischen Aberglaubens vertreibe, müsse er seine Besorgnis darüber mitteilen, dass einige besonders Eifrige5 [in Wittenberg] das Alte Testament ablehnten und negierten, als wäre es eine Sünde und ein Greuel. Während einige das Gesetz überall wiedererrichtet sehen wollten, hätten andere den unbändigen Eifer, jedes von Gott gegebene Gesetz zu untergraben, indem sie die Kraft des Gesetzes zum Heil bestritten. Eine Abkürzung zu Heil und Ehre berührte diejenigen, die sich nicht darum kümmerten, dass das Gesetz nicht für den Gerechten, sondern für den ungerechtfertigten Ehebrecher aufgestellt wurde,6 wenig. Sie klagten auf wütende Weise zu Unrecht sogar an, dass weltliche Fürsten auch Gesetze aufstellten. Eine christliche Stadt und die öffentliche Ordnung erfordern Gesetze, andernfalls werde alles von blutigen Tragödien erfüllt sein. Diese übel beratenen Menschen näherten sich den scheußlichen Sophisten und eröffneten durch ihre Albernheiten eine offene Verwirrung der Ordnung. Dagegen sei es heilsam und richtig, die verkehrten Bräuche zu vertreiben, die sündige Gottesfurcht fromm zu korrigieren; eine streitsüchtige Lehre aber bewirke Schäden. Ziel der Gebote und des Evangeliums sei die Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und echtem Glauben. Wie sehr sie auch die Liebe lobten, wenn sich ein unechtes, unreines Herz mit den eigenen Leidenschaften und Begierden mische, irrten sie und widerredeten ihrer eigenen Seele; wenn sie Gutes täten und nicht auf Christus bauten, erlitten sie Schiffbruch im Glauben. Capito schreibe das, damit auf der Burg [der Schlosskirche mit Allerheiligenstift] auf dem Gipfelpunkt der Gelehrsamkeit7 von dem Bollwerk aus prüfend hinabgeschaut und die anrennenden Feinde abgewehrt würden, die in falscher Nachahmung die Früchte des Evangeliums verdürben, den wahren christlichen Frieden mit giftigen Leidenschaften störten, die Einfalt der Hörer vergifteten, die Magistraten gegen die wahren Gläubigen aufbrächten und darauf einwirkten, dass Studien, Frömmigkeit und die Neigung zum Gottesdienst verflucht würden. Beide Seiten würden mehr durch unsinnige Angriffe als durch kluge, fromme Mäßigung getragen.
An Karlstadts autographem Brief fällt die fehlende Einhaltung von Formalien auf. Er gibt weder eine genaue Adresse mit Ortsangabe des Adressaten noch ein genaues Datum an. Schreibfehler sind nicht korrigiert, die sonst üblichen Höflichkeitsbekundungen in der Anrede sehr reduziert. Der Brief nähert sich in keiner Weise einem Kanzleistil, wie ihn Karlstadt andernfalls in Briefen an Amtsträger oder hochgestellte Humanisten pflegte. Er ist eher in der Form eines schnell geschriebenen Zettels verfasst, adressiert an jemanden, der sich in der Nähe aufhielt. Capito war als Rat des Ebf. von Magdeburg gemeinsam mit seinem Kollegen Heinrich Stromer am 30. September und 1. Oktober 1521 in Wittenberg.8 Wenn Capito den als Beilage edierten Brief an Jonas vorher aus Halle nach Wittenberg geschickt oder in Wittenberg übergeben hat (bzw. ließ, denn mit Jonas hatte nachweislich nur Stromer eine Unterredung9), ist zu vermuten, dass Karlstadt die Gelegenheit für eine Übergabe seines Schreibens nutzten wollte, solange Capito noch in Wittenberg war. Angesichts seines am Ende des Briefes geäußerten Wunsches, Capito persönlich treffen zu wollen, scheint es dann doch nicht mehr zu einer Begegnung der beiden gekommen zu sein. Seltsam bleibt, dass Capito in seinem Schreiben an den Propst Jonas damit einsetzt, dass er gerne nach Wittenberg kommen würde. Dies ließe sich nur so erklären, dass er den Brief bereits geschrieben hatte, bevor er den Auftrag zur Reise nach Wittenberg erhielt.
Inhaltlich ist ein Zusammenhang zu Karlstadts Schrift De legis litera (KGK 197) offensichtlich.10Karlstadt hatte die Vorrede dieser Schrift am 30. September 1521 Melanchthon gewidmet.11 Die Thematik war also im Schwange. Die Schrift entwickelt eine Lehre über die Bedeutung des göttlichen Gesetzes für die Christen, die im Glauben gerechtfertigt sind. Dementsprechend widerlegt Karlstadt in seinem Brief Capitos Vermutung, dass in Wittenberg die Relevanz des Gesetzes für Christen in Frage gestellt würde. Stattdessen habe er (und andere Wittenberger) das Gesetz in Disputationen und Vorlesungen geehrt. Capitos Brief an den Propst des AllerheiligenstiftsJustus Jonas wiederum ist eine klare Aufforderung, antinomistischen Tendenzen an der Universität entgegenzutreten. Antinomismus verführe nicht nur das Kirchenvolk und unterhöhle die Fundamente von Glauben und Kirche, sondern entziehe den Reformmaßnahmen das Vertrauen der Obrigkeiten und leite zu einer unbotmäßigen Kritik an der weltlichen Herrschaft über. Ob sich die Passage, nach der einige das Gesetz überall in Wirkung wünschten, auf Karlstadt bezieht, ist nicht klar. In dem Falle wäre er nicht der Adressat der Befürchtung eines Wittenberger Antinomismus gewesen. Es ist möglich, dass Karlstadt die Widmung von De legis litera an Melanchthon als überschwängliches Loblied auf diesen unter dem unmittelbaren Eindruck des ihm berichteten Gesprächs mit Capito schrieb. Den Text selbst stellte er in den folgenden Tagen fertig; darauf deuten die Thesen zur Disputation Heinrich Aurifabers, die inhaltliche Überschneidungen aufweisen und vermutlich Argumente öffentlich diskutieren ließen.12 Sowohl De legis litera als auch die Thesenreihe der 26 Conclusiones in locum Pauli (KGK 202)13 vom 31. Oktober 1521 beschäftigen sich mit zentralen Bibelstellen zum Gesetz; im Mittelpunkt steht 2. Kor 3. Auch die Ankündigung Karlstadts vom 8. Oktober 1521, die Vorlesung über das Buch Genesis abzuschließen und zum Buch Deuteronomium überzugehen,14 weist daraufhin, dass die Gesetzesfrage zur einschneidenden Thematik in Wittenberg wurde. Melanchthon berührte die Problematik im Kolleg [zum Korintherbrief] am 5. Oktober 1521.15 Seine Thesenreihe De lege, evangelio et fide beschäftigt sich ebenfalls mit dem Themenkomplex.16 Sie besitzt zwar einige Parallelen zu Karlstadts Thesen über 2. Kor 3,17 doch stehen diese einigen Passagen von MelanchthonsAnnotationes in epistulas Pauli ad Corinthios näher.
Was Capito zu dem sorgenvollen Brief an Jonas bewegte, drückt er nicht explizit aus. Es können Aussagen Melanchthons zur Aufhebung des Gesetzes und der Freiheit des Christen vom Gesetz, basierend auf der Unterscheidung von Altem und Neuem Testament, gewesen sein. In dem den Loci eingefügten Kapitel »De abrogatione legis« liefert Melanchthon die Herleitung des Gesetzes aus dem Alten Testament; Aufgabe des Dekaloges sei es, den Geist für die Abtötung des Fleisches vorzubereiten, eine Aufgabe, an der Zeremonial- und Rechtsgesetze keinen Anteil hätten.18 Das Gesetz rechtfertige nicht, sondern allein der Glauben, der somit das Gesetz überwinde.19 Doch auch die 26 Conclusiones in locum Pauli, die Karlstadt für Johann Briesmanns Disputation am 31. Oktober 1521 aufstellte, bieten Potential für eine antinomistische Lesart;20 allerdings würde dies der Datierung der Briefe von Capito an Jonas und Karlstadts an Capito zuwider laufen. Letztlich scheint Capito in Halle sehr dicht über den aktuellsten Stand der Diskussionen in Wittenberg informiert gewesen zu sein.21