1. Überlieferung
Handschriften:
Nachlass Spalatins.
Der hier edierte Brief ist in 4 Exemplaren überliefert. Ein weiteres Exemplar aus der ehemaligen Königsberger Stadtbibliothek gilt heute als verschollen.1Die Weimarer Abschrift stammt aus dem Nachlass Spalatins, der auch auf fol. 406r den Dorsalvermerk schrieb: »Epistola Doc'torum' A'ndreae' Carolostadii: ∥ Ph'ilippi' Melanchthonis: et Io'hannis' ∥ Agricolae: ad Ioannem Slei∥nitzium: Episcopum Misnen'sem' ∥ M. D. XXI«. Der Schreiber des Brieftextes ist Johannes Schwertfeger, der ab Juni 1521 als Nachfolger Wolfgang Stähelins zum Professor für kanonischen Recht angestellt wurde und höchstwahrscheinlich die Kollegen der Leucora bei der Verfassung ihrer Schriften in Hinblick auf juristische Belegstellen – wie nach Luthers Vermutung im Fall von Melanchthon und dessen Arbeit am Passional Christi und Antichristi im Frühjahr 1521 – unterstützte.2 Ob Karlstadt, Melanchthon und Agricola sich bei der Verfassung des hier edierten Stückes an Schwertfeger wandten und sich mit ihm absprachen, bleibt unklar. Der Jurist schrieb aber offensichtlich den Brief ab und leitete ihn Spalatin zur Prüfung weiter. Letzterer hat dann seine Verbesserungen notiert, damit der Brief abschließend angefertigt werden könnte.3 Diese Weimarer Handschrift repräsentiert höchstwahrscheinlich die Wittenberger Version und bildet aus diesem Grund die Vorlage unserer Edition.4
Die zwei Handschriften aus Dresden sind saubere, professionelle Abschriften von unbekannter Hand und basieren auf derselben heute verschollenen Vorlage, welche die Verbesserungsvorschläge Spalatins meistens übernahm. Sie tragen einen ähnlichen Dorsalvermerk.5 Das Exemplar aus Zwickau stammt aus dem Nachlass von Stephan Roth, der auch der Abschreiber war. Ob er eine Kopie des hier edierten Briefes von Melanchthon oder anderen erhielt, ist nicht klar. Aus den in dieser Version enthaltenen minimalen Auslassungen im Vergleich zu den anderen Abschriften lässt sich vermuten, dass Roth eine weitere – von den anderen unabhängige – Vorlage (es ist nicht auszuschließen, einen früheren, von den drei Autoren verfassten Entwurf) nutzte.
Editionen:
- Supplementa Melanchthoniana 6/1, 144–146 Nr. 159.
- MBW 1, 312–315 Nr. 152.
Literatur:
- Hasse, Seidlers Ordnung, 76–97 .
- Bubenheimer, Bischofsamt, 166–170.
2. Entstehung und Inhalt
Der hier edierte Brief wurde als Privatschreiben6 von Karlstadt, Melanchthon und Agricola am 18. Juli 1521 verfasst7 und an den Bischof von Meißen mit der Bitte um Freilassung von Jakob Seidler gesandt. Der Fall des Pfarrers von Glashütte, der inhaftiert wurde, nachdem er sich entschlossen hatte, sein Zölibatsgelübde zu brechen und zu heiraten, ist weitgehend bekannt.8Seidler, der wahrscheinlich aus dem Ort stammte, wo er ab 1519 Pfarrer wurde,9 hatte sich am 24. Oktober 1520 in Wittenberg immatrikuliert10 und sich auf die Seite der Reformtheologie gestellt. In diesem Zusammenhang hatte er sich wahrscheinlich auch mit der Frage des Zölibats und der Klerikerehe auseinandergesetzt,11 spätestens in der ersten Maihälfte 152112 seine Überlegungen umgesetzt und eine Frau namens Magdalena geheiratet, mit der er bereits im Konkubinat lebte.13 Am darauffolgenden 17. Mai14 ließ ihn Georg von Sachsen verhaften und dem Bischof von Meißen, Johann VII. von Schleinitz15, ausliefern, wobei er die Zuständigkeit des geistlichen Gerichts in diesem Fall anerkannte.16Matthias Seidler, Jakobs Onkel, war in der ersten Junihälfte nach Wittenberg gereist und hatte einen Brief mitgebracht, in dem Philipp Seidler, Jakobs Bruder, die Universität um Hilfe bat, da sowohl seine eigenen Versuche als auch die der Glashütter Gemeinde, den Gefangenen freizubekommen, erfolglos geblieben waren. Philipp berichtete, wie der Bischof von Meißen die von Seidler angeblich vertretenen Auffassungen in Artikel zusammengefasst und an Jakob geschickt hatte mit der Aufforderung, eine schriftliche Verteidigung zu verfassen; dies sei geschehen, aber »der Bischoff will an der antwort [Seidlers] kein genuge haben«.17Philipp legte seinem Brief deshalb auch eine Kopie des bischöflichen Klageschreibens bei und erklärte, dass die darin seinem Bruder zugeschriebenen Aussagen meistens fiktiv waren.18 Die Universität schickte ihrerseits den Brief Philipp Seidlers mit der dazugehörigen Klageschrift des Bischofs an den Kurfürsten Friedrich den Weisen mit der Bitte, beim Bischof für die Freilassung des Glashütter Pfarrers zu vermitteln.19Neben dem hier edierten Brief an den Bischof, auf den wir noch eingehen werden, wurden weitere Trostbriefe aus Wittenberg an Seidler gesandt.20 Ein gewisser Haltungswechsel seitens des Meißner Bischofs muss im Spätsommer 1521 stattgefunden haben,21 da am 9. Oktober Seidler unter der Bedingung freigelassen wurde, dass er den Abschluss des Prozesses allein, ohne seine Ehefrau, in Döbeln abwarten sollte.22 Doch holte sieSeidler nach Döbeln und hielt dort evangelische Predigten, was den Bischof herausforderte.23 Erneut inhaftiert, konnte Seidler fliehen und wurde beim Fluchtversuch nach Böhmen von Georgs Amtsleuten nochmals verhaftet und dem Bischof von Meißen übergeben. Erst im November 1523 kam er auf Bürgschaft seiner Verwandten frei, musste aber versprechen, niemals wieder zu predigen und ins Exil zu gehen.24Seideler verließ daher Sachsen, ließ sich gegen Ende des Jahres bei Nürnberg als Spitalprediger nieder und starb dort 1557.25
Der Fall Jakob Seidlers zeigt deutlich, wie komplex die Interessen sind, die in jenen Monaten für die entstehende Reformation mitspielten. Die Problematik um die Priesterehe war nämlich nur eine Facette des in Wittenberg erarbeiteten, umfassenderen Programms zur Neuformulierung des christlichen Gemeinwesens, das die heimgekehrten Studenten der Leucorea 1521 zu verwirklichen sich bemühten.26 Liest man die vom Bischof von Meißen formulierten Anklageartikel gegen Seidler, wird deutlich, dass sich nur die ersten zehn auf die Priesterehe bezogen. Dem Pfarrer von Glashütte wurde auch die Kritik an der Heiligenverehrung, die Ablehnung des Fastengebotes, die Erteilung des Abendmahles unter beiderlei Gestalt, die Kritik an der päpstlichen und bischöflichen geistlichen Autorität, die Verteidigung der Lehren von Jan Hus und Hieronymus von Prag, die Ablehnung der Opfergaben an die Kirche und die Einführung einer Ordnung des Gemeinen Kastens vorgeworfen.27Seidler setzte sich nämlich in jenem Frühjahr 1521 als Führer seiner Gemeinschaft ein, von der er in Anlehnung an die Heilige Schrift eine allgemeine Neuordnung anstrebte, um sie von Traditionen zu befreien, die in seinen Augen mit dem Wort Gottes nicht übereinstimmten. Dies alles sind Themen, die auch in den Schriften der Wittenberger und darunter von Luther und Karlstadt auftauchen.28 Vor eben diesem breiteren Hintergrund mag der Brief Melanchthons, Agricolas und Karlstadts vom 18. Juli zur Verteidigung Seidlers gedeutet werden.29 Während der fast zeitgleiche Brief der Universität vom 13. Juli30 einen gemäßigten Ton hatte und sich an den Kurfürsten mit der Bitte richtete, beim Bischof zu vermitteln, wandten sich die drei Wittenberger Professoren direkt an den Bischof und ermahnten ihn deutlich. Es sollte nicht nur die Eheschließung Seidlers legitimiert und damit der Grund seiner Verfolgung delegitimiert, sondern auch seine reformatorische Tätigkeit in der Gemeinde bekräftigt werden. Melanchthon, Agricola und Karlstadt beziehen sich bereits in den ersten Zeilen auf die bischöflichen Anklageartikel und legen nahe, dass diese Aussagen enthalten, die Jakob Seidler nur zu Unrecht zugeschrieben werden. Es ist nicht auszuschließen, dass die drei Professoren die Kopie gesehen hatten, die Jakobs Bruder, Philipp, über seinen Onkel Matthias an die Universität Wittenberg geschickt hatte. Vielmehr beschränkt der Brief die Gründe für die Inhaftierung des Glashütter Priesters auf zwei: dass er geheiratet und dass er einige nicht näher spezifizierte Lehren Luthers geteilt hatte. Der Bischof wird davor gewarnt, jemanden aus anderen als den in der Schrift festgelegten Gründen zu verurteilen und damit eine Seele zu gefährden. Die Bibel verbietet niemandem die Ehe. Das Keuschheitsgelübde wie auch die kirchlichen Kanons, die es auferlegen, werden daher für bedeutungslos erklärt. Zur Unterstützung dieser These wird auf die bereits von Karlstadt (KGK 181, KGK 190 und KGK 203) entwickelten Argumente zurückgegriffen: Das Keuschheitsgelübde sei eine menschliche Erfindung, der viele nur aus Gewohnheit folgen, ohne an ihre Erfüllung zu glauben, wie sie in der Vorbehalts-Klausel »quantum humana permittit fragilitas« bekennen;31 niemand, auch nicht Synoden oder Päpste, dürfe die Seele des Nächsten durch menschliche Traditionen und Gesetze, die der Schrift widersprechen, schaden; außerdem sei die Zölibatslehre in den deutschen Gebieten – vor allem am Beispiel der Diözesen Köln und Konstanz – erst spät und erzwungenermaßen rezipiert worden.32 Ähnlich argumentiert der Brief in Bezug auf den zweiten gegen Seidler erhobenen Vorwurf, lutherische Lehren vertreten zu haben. Der Bischof wird ermahnt, den guten Glashütter Priester nicht zu verurteilen, sondern zu belehren, falls er sich geirrt habe. Dies sollte jedoch auf der Grundlage des göttlichen Wortes geschehen, nicht aufgrund menschlicher Gesetze und Traditionen.
Ob dies ein privates Schreiben – so Melanchthon – war oder inwieweit andere Mitglieder der Universität und des kurfürstlichen Hofes – etwa Schwertfeger und Spalatin – an der Aktion bewusst beteiligt waren, lässt sich nicht näher belegen. Sicherlich ist der hier edierte Brief in den breiten Hintergrund der in Wittenberg in jenen Monaten formulierten reformatorischen Veränderungen der christlichen Traditionen und Rituale einzubetten, in dem die Debatte um Priesterehe und Zölibat nur eine Facette darstellte. Der in dieser Schrift angedeutete Zusammenhang von theologischen, politischen, juristischen und historischen Argumenten war bereits in den vorangehenden Schriften Karlstadts thematisiert worden und sollte noch deutlicher in den darauffolgenden zum Fall Bartholomeus Bernhardi (KGK 211 und Beschützrede für Bernhardi, KGK V) in den Vordergrund gerückt werden.