1. Überlieferung
Frühdrucke:
EPISTOLA ANDREĘ CAROLOSTADII ‖ ADVERSVS INEPTAM ET RIDI/‖CVLAM INVENTIONEM IO/‖ANNIS ECKII ARGVTATO‖RIS, QVI DIXIT,LIP/‖SIAE, CVM VR/‖GERET/‖VR. ‖ OPVS BONVM ESSE A DEO TOTVM, ‖ SED NON TOTALITER. ‖ […] ‖ [Am Ende:] IMPRESSVM VVITTENBERGAE ‖ PER IOAN: GRVNENBERGIVM. ‖ ANNO SALVTIS M. D. XIX. ‖
Wittenberg: Johannes Rhau-Grunenberg, 1519.
4°, 18 Bl., A4–C4, D6.
Editionsvorlage:
[A₅Lp] UB Leipzig, Lib.sep.1960at.Weitere Exemplare: [A₁] Concordia Seminary St. Louis, L 270.6 K (3). — [A₁Br] Domstiftsarchiv Brandenburg, G: B 4,14,16. — [A₂] ULB Halle, 66 A 4152 (7). — [A₃Wo] HAB Wolfenbüttel, A: 112.4 Theol. (16). — [A₄] RFB Wittenberg, LC 708,6. — [A₄Wo] HAB Wolfenbüttel, H: 55.4 Helmst. (3). — FB Gotha, Theol 4° 00195–196 (32). — RSB Zwickau, 17.9.3 (6).
Bibliographische Nachweise:
- Riederer, Versuch, Nr. 16.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 24.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 14A.
- VD 16 B 6154.
Der Druck ist in fünf Pressvarianten ausgegangen, die Korrekturen erfolgten augenscheinlich im Satz. A₁ ist ein fehlerhafter Druck. Fol. A1v Z. 9 setzt ein mit ausgelassenem Buchstaben: »olostadius«; fol. A1v Z. 22 wurde die Wendung nicht in den Genetiv Plural gesetzt: »arbitror pronūctiationē«. Die Blattsignatur von fol. D2r fehlt. Neben dem Exemplar in Brandenburg (A₁Br), dessen handschriftliche Einträge unten genauer beschrieben werden und bei dem die Blätter D2 und D3 komplett fehlen, gehört zu diesem Typus ein Druck in St. Louis, dessen Titelblatt eine Widmung an Paul Lindenau von der Hand Johannes Agricolas aufweist.1 Typ A₂ verbessert fol. A1v Z. 9 zu »rolostadius«, alle anderen Fehler bleiben bestehen. Dieser Typ liegt nur in einem Exemplar in Halle vor. Bei Typ A₃ ist der erste Fehler auf fol. A1v korrigiert; um den Genetiv Plural in Z. 22 einzufügen, wurde der Präfix von »pronunctiationem« abbreviiert, jedoch verschlimmbessert ein neuer Fehler die Wendung in »arbitror, ꝓnūctiationē«. Die Blattsignatur »Dij« wurde noch nicht gesetzt. Variante A₄ verbessert beide Fehler auf fol. A1v, doch noch immer fehlt die Blattsignatur »Dij«. Der verbesserte Druck A₅, dem die Edition folgt, korrigiert diese Druckfehler: fol. A1v Z. 9: »rolostadius«; A1v Z. 22: »arbitrorū ꝓnūctiationē«; die Blattsignatur »Dij« ist gesetzt. Zudem ist Zeile 9 auf fol. A1v gegenüber Typ A₁ leicht nach rechts verschoben.
Die Exemplare aus Leipzig (A₅Lp) und Brandenburg (A₁Br) tragen auf dem Titelblatt autographe Widmungen an Georg Spalatin (A₅Lp: »D. Georgio Spalatino patrono optimo | A Carolo. D D«) bzw. Hermann Tulken (A₁Br: »Charissimo fratri Hermanno Tulichio | homini eruditionis multę | et exussi iudicii | Andreas Carolo | D D«). A₁Br besitzt des Weiteren auf der letzten Seite (fol. D6v) eine auf Deutsch verfasste Adresse an denselben: »Hern Hermman Tulichi Zun Leipsigk zuehanden«.2 Beide Exemplare enthalten zudem eine Reihe von bis auf wenige Ausnahmen übereinstimmenden handschriftlichen Korrekturen, die von zwei Händen vorgenommen wurden. Bei einer von ihnen ist nicht auszuschließen, dass sie als die Karlstadts anzusehen ist. Die Korrekturen besitzen auch deshalb autoritativen Charakter, da sie unzweifelhafte Textverbesserungen bedeuten und Textzitate bzw. -allusionen korrekter und treffender wiedergeben als die Druckfassung. Sie stimmen weitgehend mit den zahlreichen, handschriftlich eingetragenen Verbesserungen überein, die A₃Wo neben zusätzlichen Zitatnachweisen, Glossierungen und Worterklärungen aufweist. Verfasst sind diese von Gangolfus Pistoris3, Succentor am Allerheiligenstift Wittenberg und somit im engeren Wittenberger Kreis tätig. Das Wolfenbütteler Exemplar A₄Wo trägt neben einigen Randbemerkungen eine handschriftliche Widmung unbekannter Hand an Magister Balthasar (Predicator).
Epistola ‖ Andree Carolo=‖STADII ADVER=‖sus ineptam & ri=‖diculā inuen=‖tionem ‖ Ioannis Eckij ‖ argutatoris, qui dix‖it Lipsiae, cū vrgeretur ‖ ¶ Opus bonum esse a deo ‖ totum , sed non ‖ totaliter. ‖ [TE]
[Leipzig]: [Valentin Schumann], [1519].
4°, 16 Bl., A6, B4, C6 (fol. C6 leer). – TE.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 143.8 Helmst. (5).Weitere Exemplare: BSB München, Res/4 Polem. 3340,18. — ÖNB Wien, 20.Dd.1237.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 25.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1879.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 14B.
- VD 16 B 6153.
Druck B nimmt die Verbesserungen des Korrekturverzeichnisses von A auf und führt darüberhinaus zahlreiche Korrekturen durch, die bis auf wenige Ausnahmen Verschlimmbesserungen darstellen.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 59f.
- Barge, Karlstadt 1, 168–172.
2. Inhalt und Entstehung
Die Epistola ist ein langer, offener Brief, gerichtet an die brandenburgischen Amtsträger Friedrich von Salza, Leibarzt des Kfst. Joachim von Brandenburg,4 und Levinus Emden, Professor der Jurisprudenz an der Universität Frankfurt a. d. O.5 Er ist der Gattung des Sendbriefes zugehörig, derer sich Karlstadt hier erstmals bedient.6 Im Text verstreut finden sich direkte Anreden an die Adressaten,7 an deren wie den eigenen Dienstherrn8 sowie gattungsbedingte Hinweise auf die Briefform.9
Die Epistola ist die erste größere Schrift Karlstadts nach der Leipziger Disputation. Das Anliegen des Werkes ist zweierlei. Zum ersten nimmt es eine Reihe von Argumenten aus der Leipziger Disputation wieder auf, von denen Karlstadt meinte, dass sie nicht zu Ende disputiert worden waren.10 Zum zweiten geht die Schrift auf einige der Polemiken ein, die Johannes Eck, seine Leipziger Unterstützer (Johann Ulrich Schulherr, Johannes Rubius) und Hieronymus Emser im Gefolge der Disputation hatten publik werden lassen.11
Karlstadt hatte sich nach dem Ende der Leipziger Disputation an die dort zwischen ihm, Eck und Luther geschlossene Vereinbarung (KGK 130) gehalten, die gebot, dass die Disputation zwar protokolliert würde, die Akten der offiziellen Protokolle aber nicht vor dem Ausgang eines Schiedsspruchs der Universitäten Paris und Erfurt erscheinen dürften.12 Er schwieg, suchte allenfalls in einem Brief an Kfst. Friedrich III. am 31. Juli 151913 dem Eindruck entgegen zu treten, den Ecks diffamierender Bericht vom 22. Juli an den Kurfürsten hinterlassen haben mag.14 Eine ausführlichere Rechtfertigung gegen die Anwürfe Ecks verfasste Luther mit der Verantwortung vom 18. 8. 1519 (KGK 134), der Karlstadt eine kürzere Passage beifügte. Nach Karlstadts Auffassung hatte Eck die Vereinbarung missachtet und zudem unverschämte Diffamierungen in die Welt gesetzt.15 Den kritischen Punkt überschritt letztlich der undatierte und heute verloren gegangene Brief des Dresdener Hofkaplans Hieronymus Emser an einen unbekannten Meißner Kanoniker, in dem er behauptete, dass Karlstadt nicht mit Eck auf eine Stufe zu stellen sei, da er er ein ungebildeter Esel sei und, statt in guter logischer und rhetorischer Manier zu disputieren, nur stichele.16 Auch wenn Emser die Wirkung seines Schreibens später bedauerte,17 war Karlstadt, dem zumindest der Inhalt des Briefes bekannt war,18 tief erschüttert und entschloss sich im Oktober 1519 zu einer Antwort in Form der vorliegenden Epistola.19 Als Erscheinungsdatum ist Ende Oktober oder Anfang November anzusetzen,20 da Eck die Schrift am 8. 11., in einem Brief an Kfst. Friedrich III., noch unerwähnt ließ,21Emser aber eine Verteidigung gegen die Epistola ans Ende des bereits erwähnten Pamphlets A venatione Luteriana aegocerotis assertio setzte.22 Dieses Werk hatte Luther am 19. 11. 1519 in Händen.23
Schon im Titel des Sendbriefes macht Karlstadt seinen Gegner Eck verächtlich, da er sich – wörtlich übersetzt – gegen die törichten und lächerlichen Anwürfe des Schwätzers Johannes Eck wende, der in Leipzig, als er in die Enge getrieben wurde, gesagt habe, dass ein gutes Werk ganz von Gott sei, aber nicht gänzlich. Damit setzt der Titel den inhaltliche Schwerpunkt, mit dem sich die Schrift in allen möglichen Varianten auseinandersetzt, neben die polemische Angriffslinie. Zum Beginn thematisiert Karlstadt den Bruch der Vereinbarung durch Eck, der in einer Reihe von Briefen und Berichten Inhalte der Disputation publik gemacht habe.24 Bereits auf der Disputation selbst, später in den Resolutiones und in der Verantwortung vom 18. 8. 1519 hatte Luther behauptet, dass die Vereinbarung nichts über eine Publikation der privat angefertigten Notizen sage und er daran denke, nun zumindest diese zu veröffentlichen sowie das, was in der Leipziger Disputation nicht zu Ende diskutiert wurde.25 Dieser Linie folgt nun Karlstadt, der mehrfach betont, dass die Veröffentlichungsbeschränkungen auf Initiative Ecks ausgehandelt wurden, der sich aber als erster nicht an diese gehalten habe.26
Ein wichtiger Gegenstand ist der technische Ablauf der Disputation und die Anfertigung der Protokolle. Eck hatte Karlstadt – erstmals auf der Disputation selbst, später gegenüber dem sächsischen Kurfürsten – vorgeworfen, heimlich eine Abschrift der Notariatsakten mitgenommen zu haben,27 während er sich gegenüber Jakobus van Hoogstraeten am 24. Juli brüstete, eine solche auf eigenen Wunsch von den Franziskanern erhalten zu haben.28Karlstadt geht nun einerseits offen mit der Tatsache um, dass ihm Protokollakten oder private Niederschriften vorliegen, indem er auf deren Wortlaut verweist.29 Andererseits offenbart er, dass Eck in den Leipziger Theologen und den geschwätzigen Dominikanern eine Reihe von Helfern fand, die ihm nicht nur protokollarische Abschriften anfertigten bzw. besorgten. Sie belieferten ihn auch mit Zettelchen und Büchern, schrieben ihm gar einen biblischen Spruch an die Tafel, wenn Eck nicht mehr weiter wusste oder es ihm an Belegen fehlte,30 was laut Karlstadt auf Grund der mangelhaften Textkenntnisse des Ingolstädters häufiger geschah. Eine besonders unrühmliche Rolle soll ein Dominikanermönch gespielt haben, der während der Disputation hinter den Leipziger Theologen gesessen habe und Eck Spickzettel zuspielte.31 Damit reagiert die Epistola auf Vorwürfe Ecks, der sich bereits auf der Disputation darüber entrüstet hatte, dass Karlstadt seine Erwiderungen abgelesen habe, weil er – so Eck später – ein zu schwaches Erinnerungsvermögen habe.32 Überhaupt sei Karlstadt für eine Disputation ungeeignet, da er eine unangenehme Stimme und Gestik habe, nicht in der Lage sei, Gedankengänge logisch aufzubauen, und stattdessen letztlich in Beschimpfungen verfiele.33 In diesem Sinne mokierte sich auch Johannes Rubius über Karlstadts Vorhaltung, dass Eck auf der Disputation wie ein Ochse gebrüllt habe.34
Karlstadt nimmt diese Diffamierungen auf und wendet sie ironisch, indem er sich selbst als »vexator colericus« bezeichnet35 und mit einer Reihe weiterer Schimpfworte versah,36 die letztlich auf den Gegner, der ähnliche Denunziationen ausgestoßen habe, zurückfallen. An einigen Stellen legt er Details des Disputationsgeschehens – aus seiner Sicht – offen. Durch Karlstadts Argumentation in die Enge getrieben, habe Eck zitternd am Pult gestanden und sei, eben noch affektiert und schreiend, nur mehr mit sanfter, unsicherer Stimme aufgetreten.37 Die vorhergehenden Beschreibungen von Ecks Auftreten aufgreifend, beklagt Karlstadt dessen Schauspielkunst, theatralische Gesten, das Ringen mit den Händen, verstecktes Lesen der ihm zugespielten Zettel mit Blick zu den Füßen, die dröhnende, ins Schreien kippende Stimme, während es an theologischen Kenntnissen und methodischer Sorgfalt gemangelt habe.38 Gern nimmt Karlstadt das Lob des Mosellanus auf, das ihm tiefe Sorgfalt, Suche nach der theologischen Wahrheit bei Absenz von Ruhmsucht sowie Bescheidenheit in Stimme, Haltung und Miene bescheinigte.39
Schließlich diskutiert die Epistola die Frage nach dem Sieger der Disputation. Eck hatte sich schnell den Sieg angerechnet.40 Dagegen schrieb Luther am 20. Juli 1519 an Spalatin, dass sich Eck am Ende der Disputation Karlstadts Argumentation beugt, der damit die Autorität der Scholastiker erschüttert habe, dennoch aber würde sich Eck mit dem Gegenteil, seinem Sieg, brüsten.41Philipp Melanchthon und Nikolaus von Amsdorf, die der Disputation beigewohnt hatten, verbreiteten die Nachricht vom Erfolg der Wittenberger Kollegen, wenn auch mit kritischen Untertönen.42Karlstadt zeichnet in der Epistola eingangs Eck wie einen beißenden Hund, der den Sieger mit seinem Gebell verfolge;43 später ironisiert er den Streit um die Übergabe eines Siegesgeschenks.44 In Leipzig sei Eck gar an Kfst. Joachim von Brandenburg herangetreten und habe behauptet, dass Karlstadt nur mit sehr Ungebildeten verglichen werden könne, da es ihm bislang nicht vergönnt gewesen sei, mit Eck zu streiten.45 Jedenfalls unterstellt sich Karlstadt mit seiner Epistola demütig den Kfst. von Sachsen und Brandenburg und bittet sie, ihn unmittelbar anzuhören.
Inhaltlich kreist die Epistola um drei Hauptpunkte: 1.) Ecks auf der Leipziger Disputation getätigte Aussage, dass dem Menschen die Gnade von Gott »totum, sed non totaliter« verliehen werde, um dem freien Willen Raum zu schaffen; 2.) die methodischen Unzulänglichkeiten des Gegners, die (von beiden Kontrahenten) bereits auf der Leipziger Disputation thematisiert wurden; 3.) die falsche Zitation der Autoritäten durch Eck und die Gefahren einer korrupten Überlieferung der Kirchenväter, was den Vorrang der biblischen Schriften als eine Rückkehr zur Hauptquelle auch methodisch begründet.
Ausführlich und in immer neuen Argumentationsschleifen diskutiert KarlstadtEcks Aussagen vom »totum, sed non totaliter«.46 Er nimmt nicht nur die Diskussion aus Leipzig wieder auf und reagiert nun auf jeden Baustein der Argumentation Ecks, sondern dekliniert dessen These in einer gleichsam virtuellen Diskussion weiter durch, sowohl in theologischer, identitätsphilosophischer, anthropologischer und eigentumsrechtlicher Perspektive als auch im Sinne einer Gottesschau. Nah an Worten Bernhards von Clairvaux sucht Karlstadt nachzuweisen, dass Gottes Gnade mit dem Wort in uns, zuerst aber ohne uns wirke.47 Er schlussfolgert aus Bernhard, dass a) das ganze Werk im freien Willen vollendet werde, b) es ganz aus der Gnade betrieben werde, c) die Gnade das Wirkende, der Wille das Empfangende sei.48 Der Mensch und sein Wille werden jeder Macht entkleidet, beide sind nur Werkzeug der göttlichen Gnade und werden mit der Rute des Lehrers, der Töpferscheibe, dem Beil oder der Säge verglichen, die Gott bewege; einzig die Gnade sei, scholastisch gesprochen, causa efficiens.49
Karlstadt führt biblische Nachweise an, dass voluntas, meritum und velle ganz und gänzlich von Gott seien, logisch gebe es keinen Unterschied zwischen totum und totaliter.50 Selbst Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus hätte Eck Gewalt angetan bzw. schläfrig gelesen, daher liefert Karlstadt einen nahezu ebenso breiten Nachweis bei Wilhelm von Ockham und Scotus.51 Eck habe auf der Leipziger Disputation keine Begründung und keinen Kirchenväternachweis für seine Interpretation Bernhards geliefert, allerdings falsche Lesarten eingefügt und Aussagen ausgelassen.52 In der Konsequenz der Schriftenfälschung wird Ecks Aussage vom »totum, sed non totaliter« zu einem häretischen Satz und zur allerneuesten Erfindung, die nicht einmal die Scholastiker in der Schule präsentierten.53Karlstadt sucht sogar andere Werke Ecks auf, in denen sich eine Spur dieses Satzes findet.54 In der »Dehumanisierung« des Gegners – Eck sei nicht ganz Mensch und nicht ganz von Gott geschaffen, ohne animalitas und humanitas55 – scheint bereits die drastische Polemik des Eccius dedolatus von 1520 auf.
Karlstadt nutzt die Diskussion, um Eck methodische Schwächen nachzuweisen. Bernhards Sätze bedürften eigentlich keiner ausführlichen Auslegung, da sie evident seien. Eck habe die zitierten Aussagen nicht mit Blick auf vorher und nachher Gesagtes kontextualisiert,56 korrekte Bezeichnungen ebenso missachtet wie die richtige Bestimmung von Ähnlichkeit als Ableitung des Niederen aus Höherem und umgekehrt bzw. von Unähnlichkeiten aus Genus, Modus, Kasus und Tempus.57 Tropen und Figuren seien korrekt zu verwenden, wohingegen Eck Ähnliches inkongruent einsetze, schließlich habe er logische Fehler begangen, indem er das eine wie das andere behauptete.58 Dessen Methode bestehe darin, Strohfäden aus Büchern wie aus einem Spinnrocken zu ziehen, gleichsam nach dem Zufallsprinzip zu arbeiten, ohne die textimmanente und hauptsächliche Bedeutung einzufangen.59 Durch ungenaues Studium und leichtfertige Lektüre halluziniere Eck einem ihm genehmen Sinn aus dem Text.60 Zudem mache er sich durch viele Abschweifungen bei wahren Gelehrten lächerlich,61 rede in Tautologien, mit barbarischen und fehlerhaften Verdoppelungen, schmücke das, was mit einem Wort klar wäre, unnötig aus, kurz: blöd sei, wer am Tag meint, Licht anmachen zu müssen.62Eck wird zum »grammaticulus«, wie ihn die Dunkelmännerbriefe beschreiben, das Synonym eines kleingeistigen Buchstabengelehrten.63
Stattdessen sei wie in einem Heerlager eine richtige Ordnung zu halten. Die kanonischen Schriften der Bibel stehen über den Kirchenschriftstellern.64 Angesichts einer fehlenden Übereinstimmung zwischen Bernhard und Augustinus konstatiert Karlstadt eine generelle Unsicherheit gegenüber diesen Texten,65 schließlich seien auch die patres fehlerhafte Menschen, die häufig Schriftquellen nicht im ursprünglichen Sinne anführten, sondern zur Bekräftigung ihrer Ansichten. Je mehr ihre Schriften aber auf der Bibel gründeten, desto wertvoller seien sie für die Argumentation.66 Ziel müsse sein, den Leser zur tieferen Lektüre und zu Vergleichen der Autoren anzuregen, ein scharfes Urteil anzuwenden, genau zu beobachten und den ursprünglichen Sinn zu erfassen. Eine Verdammung dieser Texte sei abzulehnen, stattdessen verschiedene Meinungen zusammenzutragen.67 Um sein an humanistischer Methodik orientiertes Vorgehen im zeitgenössischen Diskurs abzusichern, erhebt Karlstadt nicht allein Erasmus zum Oberhaupt aller Theologen, der Augustinus gleichstehe,68 sondern verwendet – allerdings nicht durchgehend – dessen Novum Instrumentum69 und untermauert die eigenen Aussagen mit einer Reihe klassischer und Erasmischer Anleihen.70
Eck dagegen erhebe die Doktrin der Kirchenväter zu göttlichen Mysterien.71 Zu einer generellen Scholastikkritik ausholend, meint Karlstadt, dass niemand den genuinen Sinn eines Textes zu erfassen vermag, dem drei Jahre mit EcksParva Logicalia und Chrysopassus genommen wurden, um dann eigene Kreaturen der Syllogistik und Metaphysik zu entwickeln.72 Den Subtilitäten Ecks stellt Karlstadt die Reinheit und Klarheit der Schrift entgegen.73 Letztlich übersteige die Aufgabe des wahren Christen diese theologischen Spielereien74, da es ihm obliege dem Leben des menschgewordenen Christus nachzueifern, sich und seine Sündhaftigkeit zu erkennen und allmählich gen Himmel aufzusteigen.75 Allein hier offenbart Karlstadt seine Theologie der Kreuzesnachfolge und Selbsterkenntnis als Bedingung zum Empfang der Rechtfertigung. Am Ende kündigt Karlstadt neue Werke an.76
Während die Verantwortung (KGK 134) zwar als gemeinsame Rechtfertigungsschrift Luthers und Karlstadts kursierte, im Wesentlichen aber eine Verteidigung der Positionen Luthers bildete, ist die Epistola als Karlstadts Versuch zu verstehen, seine Streitthematik mit Eck öffentlich argumentativ auszubreiten und sich den groben persönlichen Anschuldigungen zu stellen, die Eck und seine Partei in der Zeit seit der Disputation gegen ihn erhoben hatten. Zwar kann Karlstadt sein Anliegen, Argumente Ecks ausführlich in theologischer, philosophischer, logischer und methodischer Hinsicht zu destruieren, vorbringen, wobei er sich nicht ohne Erfolg eines ironischen Stils bedient. Doch ist der Text häufig redundant, sprunghaft und wenig konzis im Aufbau. Zudem finden sich Zeichen der Eile bei der Herstellung des Druckes wie Druckfehler, die selbst in den Errata nicht korrigiert wurden,77 Verrückungen von Marginalien78 und fehlerhafte Bibelnachweise bzw. falsche Zuordnungen von Zitaten.79
Ziel ist es, Eck methodisch und inhaltlich als Vertreter der alten scholastischen Richtung zu entlarven. Dafür bildet Karlstadt eine humanistisch-reformatorische Frontlinie unter Einbezug von Erasmus; auch die Erwähnung des Freiburger humanistischen Juristen Ulrich Zasius80 steht in diesem Zusammenhang. Parteigänger wie Friedrich von Salza, Matthaeus Hitzschold und Thomas Eschaus81 erfahren per Dedikation bzw. durch einen intratextuellen, fiktiven Dialog Unterstützung und werden zugleich für die eigene Sache in Anspruch genommen.