1. Überlieferung
Frühdruck:
Octaua propoſitio. ‖ Franciſcus vir catholicus et totus apoſtolicꝰ cruci‖fixi Iheſu veſtigijs ſic ſe ingenti diligentia ſtuduit ‖ confoꝛmare. ‖ […] ‖ Propoſitio nona. ‖ Vexilliferum et autcſignannm diuum Franciſcuꝣ ‖ elegit per quam vitam paſſionem Jheſu volu⸗‖it renouare. ‖
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp; u. a.
⁌ Incipiunt diſputationes Minoꝛitice habite ‖ Wittenberge in eoꝛum conuentu quarto die ‖ Octobꝛis Anno.m.ccccc.xix. in eoꝛum ‖ capittulo triennali ibidem ꝓ tunc ‖ celebrato. ‖
[Leiden]: [Jan Seversz], [1520?], fol. A7r‒A8v.
8°, 12 Bl., A8, B4.
Editionsvorlage:
SUB Göttingen, 8° H.E. Ord. 104/20 Rara, Digitalisat.Bibliographische Nachweise:
- Benzing, Lutherbibliographie, Nr. 818e.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 19.
- VD 16 B 6129.
Editionen:
- WA 59, 678‒697.
- Hammer, Militia Franciscana.
Literatur:
- WA 59, 606‒678.
- Hammer, Militia Franciscana.
- Brecht, Luther 1, 312‒315.
- Kruse, Universitätstheologie, 232–236.
- Schlageter, Franziskaner, 21–46.
2. Inhalt und Entstehung
Im Rahmen des Anfang Oktober in Wittenberg abgehaltenen Provinzkapitels der Franziskaner fand am 3. und 4. Oktober eine Zirkulardisputation1 statt, in deren Kontext Andreas Karlstadt als Mitglied der theologischen Fakultät Wittenbergs gegen die hier edierten Thesen 8 und 9 disputierte.2 Die Datierung folgt einerseits dem Druck A, auf dessen Titelblatt das Datum des 4. Oktober vermerkt ist, und andererseits einem Brief Luthers an Staupitz vom Abend des 3. Oktober 1519.3 In diesem erwähnt Luther eben jene Franziskanerdisputation, die am folgenden Tag fortgeführt werden solle.4 Vergleicht man den Druck mit Luthers Brief, so bleibt unklar, inwiefern und wann die im Druck erwähnten Opponenten, also auch Luther selbst, in diese Disputation eingriffen. Entweder begann die Disputation zwischen den Franziskanern und den Vertretern der Wittenberger Universität bereits am 3. Oktober und ging auf den nächsten Tag über5 oder die Franziskaner disputierten zuvor dieselben Thesen »unter sich«, während die Wittenberger zuschauten und erst am folgenden Tag in die eigentliche Disputation mit den Franziskanern eintraten.6 Die Disputation als solche steht wiederum im Kontext einer Reihe von Auseinandersetzungen, die die Wittenberger zur inneren und äußeren Ausdifferenzierung ihrer Lehre führten; sie kann als beispielhaft für das gemeinsame Auftreten der Wittenberger Theologen im Sinne ihrer reformatorischen Lehre gelten.
Der erste und unmittelbar im Kontext der Franziskanerdisputation stehende Konflikt ergab sich mit den observanten Franziskanern in Jüterbog und fiel in die Fastenzeit des Jahres 1519. Dort hatte Franz Günther, ein Schüler Luthers,7 in der Nicolaikirche gegen Beichte, Fasten und Heiligenverehrung gepredigt, sodass sich der dort ansässige observante Franziskanerkonvent veranlasst sah, gegen die für sie provokante Ansichten einzuschreiten. Eine Aussprache allerdings erfolgte nicht, vielmehr wurde der Streit durch die Einbeziehung weiterer Anhänger der Wittenberger Reformation, darunter ein nicht eindeutig identifizierbarer Augustiner-Lektor8 aus Wittenberg und Thomas Müntzer9, weiter gesteigert. Letztlich wandte sich der Franziskaner-Lektor Bernhard Dappen10 mit jeweils einem Brief an den Brandenburger Bischof Hieronymus Scultetus11 und an seinen Generalvikar Jakob Gropper.12 Diese beiden waren wiederum in die Hände Luthers geraten, der daraufhin ein Antwortschreiben verfasste.13 In diesem Brief vom 15. Mai 1519 ging Luther nicht nur inhaltlich auf die Vorwürfe der Franziskaner ein und verteidigte die Aussagen seiner Anhänger als schriftgemäß, sondern machte auch deutlich, dass seine »Lehre« bereits seit drei Jahren »an unserer Universität« von »scharfsinnigen und aufmerksamen Männern« betrieben worden sei und er sich dagegen verwahre, dass sie nun von ungelehrten Franziskanern als häretisch beurteilt werde.14 Dadurch deutete Luther die Vorwürfe Dappens nicht auf sich allein, sondern erkannte in ihnen einen Angriff auf die Wittenberger Kollegen im Ganzen. Weiter rief Luther zu einer Rücknahme der Vorwürfe der Franziskaner auf, ansonsten würde er ihren Orden durch die Veröffentlichung ihres Schreibens und dessen Widerlegung brüskieren.15
Der Streit erfuhr einige Monate später durch Eck eine Ausweitung, als diesem, unmittelbar nach der Leipziger Disputation, die zwei Briefe Dappens»contra Luteranos« von Bischof Hieronymus Scultetus übergeben wurden und er auf dessen Ersuchen hin in knapp zwei Stunden ein Gutachten dazu anfertigte.16 Mitte August war dieses Gutachten wiederum bei Luther angelangt und veranlasste ihn, eine Gegenschrift zu diesem und gegen die Jüterboger Franziskaner zu verfassen.17 Sie erschien Ende September bei Lotter d. Ä. in Leipzig18 unter dem Titel Contra malignum Eccii iudicium defensio.19 Obgleich Luther die Veröffentlichung seiner Antwort auf Bitten einer Delegation, die vom sächsischen Provinzial der observanten Franziskaner Johannes Amberg20 nach Wittenberg geschickt worden war, noch verhindern wollte,21 konnte der Druck nicht aufgehalten werden, sodass Luther am 30. September bereits in der Lage war, Günther ein Exemplar zukommen zu lassen.22
In diese Gemengelage fiel nun das in Wittenberg stattfindende Provinzialkapitel und die damit verbundene Franziskanerdisputation. Ein Provinzialkapitel war notwendig geworden, nachdem im Lyoner Generalkapitel vom 11. Juli 1518 die sächsische Ordensprovinz neu eingeteilt worden war23. Die observanten Franziskanerklöster, darunter auch die Jüterboger, bildeten von da an die Provincia Saxoniae Sanctae Crucis und die »martinianisch« geprägten Franziskaner24, wie auch die Wittenberger, wurden in die Provincia sancti Joannis Baptistae zusammengefasst. Als Gerhard Zöthelm zur Visitation in die beiden Provinzen geschickt worden war, beauftrage er die Martinianer damit, ein Provinzialkapitel in der Kustodie Magdeburg abzuhalten.25 Die Wahl fiel letztlich auf Wittenberg, wozu die ansässigen Franziskaner den Kurfürsten in einer Bittschrift um Erlaubnis baten.26 Als Grund des Kapitels führten sie Angelegenheiten »von der eynikeyt, uff das es zcu einem ßelligen ende nach dem willen Gottes gebracht mocht werden«, an.27 Was das Provinzialkapitel in Wittenberg diskutierte und entschied, ist nach gegenwärtigem Stand der Forschung in Details nicht überliefert worden28; die im Rahmen des Kapitels abgehaltene Zirkulardisputation allerdings wurde in einem protokollartigen Druck festgehalten.
Dabei handelt es sich nicht um ein notarielles Protokoll, sondern um eine anonyme Mitschrift, deren unbekannter Verfasser29 in tendenziöser Weise den Verlauf und Inhalt der Disputation wiedergibt30: Die Rolle der Opponenten wird breiter als die der Respondenten entfaltet, deren Aussagen meist gekürzt wiedergegeben werden.31 Die Opponenten finden namentliche Erwähnung, die andere Seite bleibt anonym.32 Präsentiert werden zuallererst, auf dem Titelblatt, die einzelnen Thesen:33
1. Satz: Gnadenvoll beschloss die göttliche Güte, im Greisenalter der Welt eine bestimmte neue Ritterschaft seiner streitenden Kirche erkennen zu geben (Opponent: Philipp Melanchthon).
2. Satz: Der heilige Franziskus sei in ihr Gleichbild umzugestalten, und zwar habe er seraphische Wirkungen (Opponent: Philipp Melanchthon).
3. Satz: Zu dieser erwählte sie als Bannerträger und Vorkämpfer den gottgemäßen Franziskus, durch den sie das Leben und Leiden Jesu erneuern wollte (Opponent: Nikasius Claji).
4. Satz: Franziskus, der katholische und ganz apostolische Mann, trachtete, sich so mit ungeheurer Sorgfalt den Fußspuren des gekreuzigten Jesus gleichzugestalten (Opponent: Johannes Dölsch).
5. Satz: Die Echtheit der Stigmata des seraphischen Vaters teilt nicht nur mit [die Historie, sondern auch der Glaube]34, und ein einleuchtendes Beispiel bringt die Durchbohrung der gottgeweihten Hände und Füße bei (Opponent: Sebastian Küchenmeister, Nikolaus Amsdorff, Martin Luther).
6. Satz: Deswegen mögen schweigen die ganz verkehrten Taboriten, die häretischen Böhmen, die gegen die gottgeweihte Ordensgemeinschaft des gottgemäßen Franziskus kläfften (Opponent: Martin Luther).
7. Satz: (Wdh. von 5; Opponent: Martin Luther).35
8. Satz: (Wdh. von 4, Opponent: Andreas Karlstadt).
9. Satz: (Wdh. von 3; Opponent: Andreas Karlstadt).36
10. Satz: Es ist überhaupt jene Observanz der Ordensleute zur Zeit der Apostel eingesetzt, und nicht wegen der [Einhaltung durch alle]37 Christen, wie die Verleumder [sagen]38, und so weiter (Opponent: Philipp Melanchthon).
11. Satz: Es ist besser für einen Theologen, mit den vorzüglichsten Vätern des orthodoxen Glaubens sich aufs Faseln einzulassen als mit einigen Leuten, gering an Wissen und Lehre, Ungewöhnliches zu sinnen, um nicht zu sagen: verwegenen Unsinn zu treiben (Opponent: Philipp Melanchthon, Martin Luther).
Anhand der elf aufgelisteten Thesen können nun Aussagen über die Konstitution der Disputation sowie die Rolle Karlstadts innerhalb dieser gemacht werden. Zum einen ist es auffallend, dass der Reihenfolge eine gewisse Hierarchie innewohnt. Sie scheint nämlich den akademischen Rang der Opponenten abzubilden.39 Da Melanchthon erst kürzlich am 19. 9. 1519 den niedrigsten theologischen Rang erworben hatte, steigt er ein.40Karlstadt, als dienstältester Doktor der Theologie, beschließt die Reihe.41 Zum anderen gibt der Druck nur acht inhaltlich unterschiedliche Thesen wieder; die restlichen drei sind Wiederholungen vorheriger. Diese lassen wiederum vermuten, dass den Opponenten in irgendeiner Weise die Thesen bekannt waren, sodass sie die jeweiligen Thesen, zu denen sie opponieren wollten, auswählten. Indem Karlstadt ausschließlich Thesen wiederholend aufgriff, scheint seine Rolle darin bestanden zu haben, die Debatte an diesen Punkten zuzuspitzen.42 Zum dritten lässt sich beobachten, dass die Thesen abgesehen von einer Vertauschung der 2. und 3.43 bis zur 6. einem argumentativen Schema folgen und erst ab These 10 mit einem neuen Themenkreis einsetzen. Die ersten sechs Thesen stehen hierbei im Kontext einer Rückbesinnung auf Franziskus44 und werden durch eine in apologetischer Ausrichtung gegen die Böhmen formulierte 6. These geschlossen.45 Ab These 10 steht eine Verhältnissetzung bzw. Abgrenzung zur Wittenberger Theologie im Vordergrund der Diskussion. Dabei richtet sich die 10. These vermutlich gegen die schon in Jüterbog von dem unbekannten Augustinereremiten ausgesprochene Äußerung, dass von jedem Christen die Einhaltung des gesamten Evangeliums gefordert werde.46 Die 11. These wiederum könnte direkt gegen die Wittenberger Theologie polemisieren. Für Theologen sei es nämlich besser, sich mit den »Vätern des orthodoxen Glaubens« als mit »Halbwissern und Doktörchen« einzulassen.47
Dass zumindest Luther von dem Jüterboger Konflikt – der Druck seiner Schrift gegen Eck lag nur wenige Tagen zurück48 – in seiner Vorgehensweise geprägt war, ist in seinem Bericht an Staupitz, aber auch in den Äußerungen der Disputation spürbar.49 Obgleich der tendenziöse Druck den Wittenbergern breiteren Raum gewährt und somit allein formal eine Überlegenheit ihrer Theologie insinuiert, dokumentieren ihre schriftgestützten Argumentationen eine existentielle Wucht, die auch vor einer grundsätzlichen Kritik des Ordenslebens nicht Halt machte.50 Die sich meist auf die Tradition berufenden Aussagen der Franziskaner wurden von den Wittenbergern, die allein der Schrift Autorität zusprachen, nicht anerkannt und dementsprechend kritisch hinterfragt.51 Durch Berufung auf die »Richterin Schrift«52 erfolgte für die Wittenberger eine endgültige Scheidung zwischen menschlicher Satzung und göttlichem Recht, sodass sich alle Aussagen, die sich auf Traditionen beriefen, so auch die franziskanische, dieser unterordnen mussten.53
Karlstadt selbst argumentierte in den von ihm disputierten Thesen Nr. 8 und 9 (eigentlich Nr. 4 und 3) inhaltlich im Sinne der Wittenberger Theologie. Nachdem Dölsch gegen die in der 4. These behauptete Apostolizität und evangelische Vollkommenheit des Franziskus die unbedingte Sündhaftigkeit menschlichen Handelns angeführt hatte,54 weitete Karlstadt in seiner Auseinandersetzung mit dieser These die Kritik auf den gesamten Orden aus.55 Indem die Franziskaner die Vollkommenheit ihres Lebenswandels im Zeichen des Armutsgebotes aus der Lebensweise des Franziskus ableiteten,56 würden sie einerseits ein äußeres vor ein inneres, geistliches – somit wahrhaft christliches – Leben setzen57 und andererseits sich der Idolatrie schuldig machen, da sie Franziskus in die Nähe von Christus rückten.58 Die Herleitungen ihrer abergläubischen Grundlagen59 für das Armutsgebot erkannte Karlstadt nicht an,60 weil sie erstens von allen Christen gefordert werde61 und zweitens die Franziskaner selbst an ihrer Umsetzung haderten62; überdies unterzieht er ihre Bettelarmut einer grundsätzlichen Kritik. Indem Karlstadt 5. Mose 15,4 als »ius divinum« gegen das Betteln interpretiert63 und Paulus als Beleg für eine christliche Lebensweise in Arbeit anführt64, wird Bettelei zur Sünde vor Gott.65
Bereits Nikasius Claji machte in seiner Argumentation gegen die 3. These die Überlegung deutlich, dass Franziskus von den Franziskanern an die Stelle Christi, der der eigentliche Vorkämpfer der Christen sein solle, gesetzt worden war.66Karlstadt nutzt diese These seinerseits dazu, sie mit der zentralen Erkenntnis der reformatorischen Rechtfertigungslehre in der 9. These zu konfrontieren.67 Es sei nämlich Franziskus oder auch den Franziskanern schlichtweg nicht möglich irgendetwas wiederherzustellen68, weil dies allein Gott bewerkstelligen könne.69 Die Existenz des Sünderseins negiert nach Karlstadt sämtliche Vollkommenheit, auf die sich der Mensch von sich aus stützen könne.70 Anschließend nimmt Karlstadt ein Argument Clajis, der gegen die Franziskaner Christus als eigentlichen Namensgeber der Christen Franziskus gegenüberstellt hatte,71 wieder auf und formt daraus einen Vorwurf des Schismas.72 In Anlehnung an den ersten Korintherbrief (1. Kor 1,10; 12,25; 1,13) begründet er dies durch die namentliche Bezugnahme der Ordensmitglieder auf Franziskus (»franciscani«).73 Indem Karlstadt als Gegenbegriff die »christiani«74 in Anschlag bringt, lässt er letztlich nur noch eine dem Christen gemäße Begründung auf Christus zu. Sämtliche anderen Berufungen würden nur auf Spaltungen hinauslaufen.75 Diese Erkenntnis sei sogar derart existentiell, dass nach Karlstadt auch Luther mit seiner Existenz als Bettlermönch ringen würde.76
Im Anschluss an die Franziskanerdisputation finden sich noch weitere Auseinandersetzungen, die Karlstadt ähnlich wie Luther als Einzelner für die Wittenberger Sache gegen die Franziskaner verfocht. Publizistisch lassen sie sich in den Schriften gegen Franziskus SeylerVom Vermögen des Ablass77 und Von geweihtem Wasser und Salz78 greifen, die beide in der zweiten Hälfte des Jahres 1520 erschienen sind, sowie in seiner Antwort […] geweicht Wasser belangend79 gegen den Franziskanermönch Fritzhans, vom Anfang des Jahres 1521.