1. Überlieferung
Frühdrucke:
Von abtuhung der Bylder / ∥ Vnd das keyn Betdler ∥ vnther den Chri⸗∥ſten ſeyn ſoll. ∥ Carolſtatt. in der Chriſtlichē ∥ ſtatt Wittenberg. ∥ [TE] [Am Ende:] Gedruckt tzu Wittenberg Nickell Schyr⸗∥lentz / nach Chriſti geburt Tauſent ∥ funffhundert vn̄ tzway vnd ∥ tzwentzigſten Jar. ∥
[Wittenberg]: [Nickel Schirlentz], [1522].
4°, 20 Bl., A4–E4.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, A: 146.12 Theol. (15).Weitere Exemplare: SUB Göttingen, 8° Theol. thet. II.171a. — BSB München, 4 Polem. 534. — HAB Wolfenbüttel, A: 116.6 Theol. (31). — HAB Wolfenbüttel, H: H 69.4 Helmst. (1). — HAB Wolfenbüttel, H: Yv 1746.8 Helmst. — HAB Wolfenbüttel, H: Yv 2175.8 Helmst. — HAB Wolfenbüttel, H: Yv 2431.8 Helmst. (5). — [A1] UB Würzburg, Th. dp. q. 458.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 87.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1928.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 48A.
- VD 16 B 6214.
Die Titeleinfassung verwendete der Drucker Schirlentz bei verschiedenen Karlstadtdrucken.1 Zur weiteren Versionsbeschreibung s. u.
Von abtuhung der Bylder / ∥ Vnd das keyn Betdler ∥ vnther den Chri⸗∥ſten ſeyn ſol⸗∥len. ∥ ⸪ ∥ Carolſtatt in der Chriſtlichē ∥ ſtatt Wittenberg. ∥ [TE] [Am Ende:] Gedruckt tzu Wittenberg Nickell Schyr⸗∥lentz / nach Chriſti geburt Tauſent ∥ funffhundert vn̄ tzway vnd ∥ tzwentzigſten Jar. ∥
[Wittenberg]: [Nickel Schirlentz], [1522].
4°, 20 Bl., A4–E4.
Editionsvorlage:
SB-PK Berlin, Cu 1259 R.Weitere Exemplare: KiB Eisleben, 247p. — ULB Halle, If 4960. — Gymnasial-Bibliothek Freiberg (hsl. Dedizierung Karlstadts unter dem TH: »Dem Erenwirdigem Hern Nicolao Demuth ∣ probst des Newe werkes zu hall etc meynem oh[eim]«)., .
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 88.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 48B.
- VD 16 B 6215.
Die Bogen A–E der Drucke A und B sind in unterschiedlichen Varianten gedruckt worden: Bogen A und C in drei Varianten, Bogen D und E in zwei und Bogen B in nur einer. Bei Bogen A ist der Schöndruck (fol. A1r, A2v, A3r, A4v) durch Neusatz verschieden, der Widerdruck gleich; ähnlich Bogen D (Korrekturen auf fol. D1r, D3r, D4v). Bogen C wurde auf beiden Seiten neugesetzt (Korrekturen auf fol. C1r, C2r, C2v, C3r, C4r). Der letzte Bogen zeigt nur eine Satzänderung auf fol. E1r. Es handelt sich bei A, A1 und B um Zwitterdrucke;2 die editorische Aufnahme zweier Varianten mit eigenen Siglen (A, B) erfolgt nur auf Grund der Abweichungen auf dem Titelblatt. Anhand einiger Verbesserungen scheint A die korrigierte Fassung von B gewesen zu sein;3 die seltene Pressvariante A1 zeichnet sich durch Verschlimmbesserungen einer Kustode (fol. A4v) und eines relativen Anschlusses (fol. C4r) aus.4 Die Variantenbestimmungen erschweren sich dadurch, dass die Bogen der unterschiedlichen Pressvarianten inkohärent Exemplaren zugeordnet wurden, sodass sich Lagen der Varianten A, A1 und B in einem Exemplar finden lassen.5 Als reine Varianten A und B sind die oben den Siglen zugeordneten Exemplare anzusehen. Bei einer Reihe von Exemplaren aus München und Göttingen entsprechen nur Bogen C und D der Variante B;6 wenige Exemplare weisen dagegen eine Mischform auf, die Bogen C und D der Variante A mit Bogen A der Variante B vermengt.7
Von abthieung der ∥ Bylder/ Vnnd das keyn ∥ Betler vnder den Chꝛi∥ſten ſein ſoll. ∥ Carolſtatt in der Chꝛiſtlichen ∥ ſtat Wittenberg. ∥ [TE]
[Straßburg]: [Ulrich Morhart d. Ä.], [1522?].
4°, 22 Bl. (letztes Blatt leer), A4–D4, E6.
Editionsvorlage:
SB-PK Berlin, Cu 1260 R.Weitere Exemplare: SLUB Dresden, Hist.eccl.E.243,22. — UB München, 4 Theol.5463(3:10. — HAAB Weimar, 4 IX:137b(n.17.).
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 89.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1927.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 48C.
- Benzing, Bibliographie strasbourgeoise, Nr. 892.
- VD 16 B 6213.
Variante C ist ein Straßburger Nachdruck von A. Die Titeleinfassung ist mit der sogenannten Indianerbordüre aus der Offizin Schürer (Datierung unten rechts »1519«) versehen.8
Editionen:
- Simon, Flugschriften, 231–279; 227–230.
- Laube/Looß, Flugschriften 1, 105–127; 2, 1024–1032.
- Streitschriften und Flugblätter, Nr. IX.
- Karlstadt, Bilder (Lietzmann), 3–30.
- Berns, Strittigkeit 1, 91–114.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 263–276.
- Barge, Karlstadt 1, 386–394.
- Müller, Karlstadt, 64–67.
- Köhler, Literaturbericht, 526–528.
- Fuchs, Wirken, 531.
- Leroux, Christian City.
- Rupp, Karlstadt, 102–105.
- Rupp, Puritanism, 315.
- Sider, Karlstadt, 166 f.
- Lindberg, Beggars.
- Michalski, Visual Arts, 43–50.
- Furcha, Essential Carlstadt, 100–128 Nr. 4.
- Schnitzler, Wittenberg 71 f.
- Kruse, Universitätstheologie, 367–369.
- Kaufmann, Sozialethische Vorstellungen, 344–346.
Beilage: Eine löbliche Ordnung der fürstlichen Stadt Wittenberg (1522, [zwischen 24. Januar und Anfang Februar])
Frühdrucke:
Frühdrucke:
Ain lobliche ordnun̄g ∥ der Fürſtlichen ſtat Wittemberg ∥ Jm tauſent fünfhundert vnd zway vnd ∥ zwaintzigſten jar auffgericht. ∥
[Augsburg]: [Melchior Ramminger], [1522].
4°, 3 Bl.
Editionsvorlage:
BSB München, 4 J.germ. 202,11.Weitere Exemplare: SB-PK Berlin, Gu 19700. — ULB Halle, Ye 2893. — BSB München, Res/4 J.pract. 88#Beibd.1. — RFB Wittenberg-Evangelisches Predigerseminar, MSW522/1. — RFB Wittenberg-Luthergedenkstätten, Kn A 117/682.
Bibliographische Nachweise:
- Weller, Repertorium, Nr. 2228.
- VD 16 W 3697.
Ain lobliche ordnun̄g ∥ der Fürſtlichen ſtat Wittemberg ∥ Jm tauſent fünfhundert vnd zway vnd ∥ zwaintzigſten iar auffgericht. ∥ ❦ ∥ [TH]
[Augsburg]: [Melchior Ramminger], [1522].
4°, 3 Bl., TH.
Editionsvorlage:
SB Regensburg, 999/Jur.3093.Weitere Exemplare: SB Regensburg, 999/Caps. 51(17. — ÖNB Wien, 33.M.62.
Bibliographische Nachweise:
- Weller, Repertorium, Nr. 2227.
- VD 16 ZV 30957.
Unterscheidung von A auf Titelblatt: »iar«, mit Blättchen und Titelholzschnittleiste. A verbessert Fehler von B.
Ain lobliche ordnung der ∥ Fürſtlichen ſtat Wittemberg. Jm tau⸗∥sent funf hundert vnd zwey vn̄ ∥ zweintzigſten jar. auff⸗∥gericht. ∥
[Speyer]: [Johann Eckhart], [1522].
4°, 3 Bl.
Editionsvorlage:
Bibliothek Otto Schäfer Schweinfurt, OS 1394.Bibliographische Nachweise:
- VD 16 ZV 23463.
Nachdruck von A.
Newe oꝛdnung der Stat ∥ Wittenberg. ∥ M.D. xxij. jar. ∥ Des Newen biſchoffs zu ∥ der Lochaw verhoꝛ ∥ vn̄ diſputation voꝛ ∥ dem Biſchof vō ∥ Meiſſen. ∥ ✠ ∥
[Bamberg bzw. Coburg]: [Georg Erlinger bzw. Aegidius Fellenfürst], [1522].
4°, 7 Bl., TE.
Editionsvorlage:
BSB München, Res. 4° Polem 3363(18).Weitere Exemplare: RFB Wittenberg-Evangelisches Predigerseminar, EKU 614. — HAB Wolfenbüttel, A: 171.21 Quod. (1).
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 W 3698.
Die Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung ist in vier zeitgenössischen, 1522 erschienenen Drucken überliefert. Ein Wittenberger Druck konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Die Druckvarianten A, B und C stehen in unmittelbarer Abhängigkeit voneinander. A und B sind bei Ramminger in Augsburg erschienen; B mit Titelblattschmuck, dennoch als schlechtere Variante, denn A unterscheidet sich nicht allein durch das Titelblatt (»jar« statt »iar«, es fehlen die Schmuckelemente Blattherz und Holzschnittleiste), sondern auch durch veränderten Zeilensatz und Abweichungen einzelner Zeichen (u. a. Verwendung von »oͤ«). An zahlreichen Stellen sind Textkorrekturen festzuhalten (»Item« statt »Ittem«, »seynd« statt »send«, »alters« statt »altar«). Die Ausgabe von Johann Eckhart in Speyer9 erscheint – bis auf wenige Ausnahmen – als Nachdruck der verbesserten Fassung A. Der Variante D, mit den sog. Fellenfürst-Typen in Coburg oder Bamberg gesetzt, ist der Disput von Lochau beigefügt.10 Der Druck unterscheidet sich in einer Reihe von Lesarten. Die Textversionen A, B, C auf der einen und D auf der anderen Seite scheinen auf verschiedene, sachlich jedoch wenig differierende handschriftliche Vorlagen zurückzugehen, deren Übereinstimmung gegenüber der Handschriftenversion a überwiegen.
Handschrift:
Handschrift:
Abschrift Stephan Roth. Die Handschrift a der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung entspricht bis zum 13. Artikel den Drucken A, B und C, abgesehen von Wortabweichungen und einer auffälligen Umstellung der Syntax im 3. Artikel. Die Artikel 14 und 15 sind in der Handschrift jedoch in fünf Abschnitte aufgegliedert, sodass das Manuskript insgesamt 18 Artikel zählt; die Artikel 16 und 17 der Drucke sind vollkommen ausgelassen. Artikel 3 weist signifikant divergierende Formulierungen und veränderten Satzbau auf, die dem im Druck durcheinander geratenen Satz den richtigen Sinn verleihen; auch die in Artikel 1 genannte »Bruderschefft« ist gegenüber der Lesung »Priesterschaften« der Drucke vorzuziehen. Clemen vermutet, dass es sich bei der Handschrift um eine ursprüngliche Textfassung handeln könnte.11Roth unterhielt Verbindungen zu führenden Wittenberger Persönlichkeiten.12 Anders als die Drucke ist der Text der Handschrift aber nur begrenzt öffentlichkeitswirksam geworden.
Editionen:
- Lietzmann, Kastenordnung, 4–6.
- Sehling, Kirchenordnungen 1.1.1, 696–698.
- LuStA 2, 525–529.
- Laube/Looß, Flugschriften 2, 1033–1037.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 260–263.
- Barge, Karlstadt 1, 378–385.
- Müller, Karlstadt, 49–67.
- Barge, Gemeindechristentum, 76–94.
- Köhler, Literaturbericht, 523–525.
- Fuchs, Wirken, 530 f.
- Rupp, Karlstadt, 101 f.
- Rupp, Puritanism, 315.
- Sider, Karlstadt, 165 f.
- Lindberg, Beggars, 321–331.
- Kruse, Universitätstheologie, 362–366.
- Neuser, Abendmahlslehre, 164–171.
- Simon, Messopfertheologie, 504–507.
- Schnitzler, Wittenberg 70 f.
- Pallas, Wittenberger Beutelordnung, 120–128.
- Krentz, Ritualwandel, 190 f.
2. Entstehung und Inhalt
Predigtgrundlage und Anlass der Schrift
Die Schrift Von Abtuung der Bilder beruht in weiten Teilen auf einer Predigt Karlstadts gegen Bilder, Statuen und Votivgaben, die er am 26. Januar 1522 gehalten hatte.13 Ihre Widmung ist auf den 27. Januar datiert.14 Bald nach ihrer Abfassung ist die Abhandlung in der Offizin von Nickel Schirlentz gedruckt worden, der 1521 seine Laufbahn als Hausdrucker Karlstadts begonnen hatte.15
Die Widmungsvorrede ist an Graf Wolfgang von Schlick16 gerichtet, dessen Familie die Herrschaft über die neu gegründete Bergbaustadt St. Joachimsthal innehatte. Sie unterrichtet den Grafen über die aktuelle Entwicklung in Wittenberg und die jüngsten Beschlüsse des Stadtrates, d. h. über die am 24. Januar beschlossene neue Stadtordnung. Karlstadt stellt drei zentrale Themen der Ordnung heraus: 1. Die Messe in der Stadtpfarrkirche finde nun gemäß biblischen Vorgaben in einheitlicher Form statt.17 2. Aus den Kirchen sollen die Bilder entfernt werden.18 3. Niemand solle mehr betteln müssen oder dürfen (im Falle der Mendikantenorden);19 Arme erhalten ihren Unterhalt aus einem Gemeinen Kasten, in den die Einnahmen der Kirchen fließen.20 Zudem seien Maßnahmen zum Schutz der Witwen und Waisen in Vorbereitung.21 Indem Karlstadt seine Hoffnung ausdrückt, dass der Graf von der Ehrlichkeit des Vorhabens der Wittenberger und dessen Übereinstimmung mit dem biblischen Bericht überzeugt sei, zielt er darauf, Reformen in St. Joachimsthal anzustoßen.
Zum Inhalt der Schrift
Da die Messreformen schon Gegenstand anderer Schriften Karlstadts gewesen seien, stellt er in dieser Abhandlung in zwei Teilen die Bilder- und die Bettelfrage in den Mittelpunkt. Der erste Teil setzt ein mit der Klage über die Allgegenwärtigkeit der »Ölgötzen« in den Kirchen: Man findet sie auf Altären, in der Höhe des Kirchenraumes und an den Wänden – ein Bezug auf Altarbilder, Wandbilder und freischwebende, aufgehängte Bilder und Skulpturen. Im Haus Gottes aber sei nur Gott selbst zu verehren Alle anderen Abbildungen müssen entfernt werden. Dafür gebe es drei Gründe: 1. Sie stehen im Widerspruch zum Ersten Gebot. 2. Der Altar erinnere an das Opfer Christi; daher seien Bilder auf Altären besonders schädlich und teuflisch. 3. Die Entfernung der Bilder aus dem Gotteshaus entspreche Vorgaben der Heiligen Schrift.
Karlstadt definiert »Ölgötzen« als geschnitzte und gemalte Bilder, also Skulpturen und Gemälde. Ihre Verehrung beeinträchtige die Verehrung Gottes, denn die Liebe zu diesen Bildern zeige sich in ihrer kunstvollen Ausgestaltung22 und dem prominenten Ort ihrer Aufstellung – nämlich dort, wo Gott verehrt werden müsste. Die Bilderverehrung tötet die Seelen der Spender und Anbetenden.23Karlstadt stellt nun verschiedene Arten der falschen Bilderverehrung zusammen. Dazu zählten 1. Votivgaben (Messgaben) in Form wachsartiger Nachbildungen von Körperteilen oder Häusern.24 Mit der Weihung und Aufstellung solcher Votiva und Devotionalien verhielten sich die Christen wie die von Gott getadelten Juden.25 2. Wallfahrten (»Laufen«) zu »Ölgötzen« mit den Beispielen Wilsnack und Grimmenthal,26 da sie dem Ersten Gebot widersprächen. Zum 3. Heiligenbilder auf dem Altar. Sie seien besonders teuflisch, da an diesem Ort nur Gott und Christus angerufen werden dürfe, und seien daher tausend Mal besser in der Hölle oder im Feuerofen aufgehoben.27
Als nächstes setzt sich die Schrift mit der päpstlichen Heiligen- und Bildertheologie auseinander. Demnach würden nicht die Bilder, sondern die Heiligen, die sie darstellten, angebetet. Dem entgegnet Karlstadt, dass eine Glossierung unnötig sei, da Gott es verbiete, dass die Gläubigen in der Kirche ihr Knie vor etwas anderem als ihm beugten. Papst Gregor der Große habe Bilder als Bücher für die Laien bezeichnet, doch durchdringe dieses Verständnis die theologische Materie nicht, denn Bilder seien nur in der Lage, das fleischliche Leben und Leiden abzubilden, das Wort Gottes aber ereigne sich geistlich.28 Mit dem Einsatz geschnitzter und gemalter Heiligenbilder zur Krankenheilung gelange der Gläubige allenfalls zu einer fleischlichen Vorstellung der Passion Christi. Selbst das Kruzifix unterliegt Karlstadts Kritik, indem er es als Holz bezeichnet und heraushebt, dass es im Heilsprozess nicht darum gehe, wie Christus am Kreuz gelitten habe, sondern warum.29
Natürlich sind Bilder für Karlstadt grundsätzlich – und vor allem in allen außerkirchlichen Zusammenhängen – erlaubt, doch entfalten sie keine Heils- und Trostwirkung. Um aber den verfestigten fleischlichen Aberglauben auszulöschen, empfiehlt er die geordnete Beseitigung aller Bilder aus den Kirchen durch die Obrigkeit. Historisch erinnert er an den Bericht des Hieronymus über die Fahrt des Bischofs Epiphanius von Salamis nach ort.Anablatha. Der Bischof habe dort in der Kirche einen Vorhang mit Christusbild entdeckt und zerschnitten, denn er wollte nur die [Verlesung der] Schrift in der Kirche zulassen. Das Problem der Bilderverehrung, so die Quintessenz dieses historischen Einschubs, sei also alt, und bereits Hieronymus habe mit der Überlieferung des Berichts seine grundsätzliche Zustimmung zur Bilderentfernung gegeben. Am Beispiel der Verehrung des Heiligen Christophorus werde deutlich, dass das Bild wie ein Gott angebetet und somit zu einem »Ölgötzen« werde. Karlstadt vergleicht den Akt der Bilderverehrung mit Hurerei. Gott aber will das Herz der Gläubigen einnehmen, dafür sei es unnötig, sich menschengemachte Bilder vor Augen zu stellen.30
Im folgenden Abschnitt bekennt Karlstadt seine eigene Bilderfurcht und Scheu, Bilder zu verbrennen, seine Angst vor dem Teufelsnarr, vor Schatten und vor unheimlichen Geräuschen.31 Doch bestehe das Problem darin, dass sich die Abgötter im Innern der Menschen befänden, die Furcht vor Bildern einjagten. Die Bilder säßen fest und tief im Herzen. Doch zeige die Bibel, dass sie keine Macht hätten. Der Geist Gottes schreie gegen die »Ölgötzen« an. Die inneren Hemmnisse seien nichts als Anfechtungen des Teufels.32 Daher sei es Aufgabe der Obrigkeit, die Bilderentfernung zu exekutieren, andernfalls falle sie göttlicher Strafe anheim, weil sie gegen die Schrift und das Glaubensärgernis handele. Denn Christus sei nicht gekommen, das [alte mosaische] Gesetz zu brechen, sondern zu erfüllen.33
Der zweite Teil der Abhandlung setzt mit der Forderung ein, dass es unter den Christen keine Bettler geben dürfe und niemand für Brot laufen [wallfahren] bzw. betteln solle.34 Der Akt der Nächstenliebe verbindet sich mit sozialen Aspekten: Selig sei, wer Armen Achtung schenke und Bettelei und Hunger verhüte; dabei sei es besser, die Not vorbeugend zu verhindern als erst nach ihrem Eintreten zu lindern – eine Absage an das bisherige Prinzip der Gabe von Almosen an bereits Notleidende. Die Bettler sollten nicht mit Gewalt vertrieben werden, sondern durch Unterstützung ihres Lebensunterhalts. Wie es schon Luther35 vorschlug, sei es Aufgabe der christlichen Stadt, ihre eigenen Bürger zu versorgen, indem der wohlhabendere Christ mit Almosen und Abgaben an die Stadt dem Mitbürger hilft. Seien die eigene Familie und das Gesinde sicher versorgt, könne der Rest abgegeben werden.36 Letztlich redet Karlstadt in der Fürsorgefrage einer Tauschwirtschaft per Leihe das Wort. Gottgewollt sei Armut nur, damit Wohlhabendere ihre Sittlichkeit beweisen könnten.37 Voraussetzung der Fürsorge sei es aber, dass jeder sich als tätiges Mitglied der Gemeinde verstehe. Somit sei für die Unterstützung durch die Obrigkeit eine Teilhabe durch Arbeit zwingend.
Karlstadt gibt eine Reihe von praktischen Vorschlägen, die sich ähnlich in der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung wiederfinden lassen. Für Handwerker in Notlage oder bei Betriebsaufnahme wird eine Unterstützung gefordert.38 Der Magistrat solle die Verteilung der Güter organisieren.39 Geliehenes solle nicht zurückgefordert werden, da für Christen stets Jubeljahr sei und im biblischen Erlassjahr nichts zurückgefordert werde.40 Hier schließt sich der Kreis zum ersten Teil der Abhandlung: Die mosaischen Bestimmungen zum Erlassjahr (nach 5. Mose 15) besäßen weiterhin bindende Kraft. Karlstadt bemüht dafür historische Analogien. Die hebräischen Knechte vergleicht er mit Leibeigenen in Neapel und Rom.41 Freigelassenen Knechten und Mägden [in der Bibel: Sklaven] sei eine Wegzehrung und finanzielle Hilfe mitzugeben.42 Allerdings müsse die Hilfe reziprok sein: Wenn vormals Arme zu Geld kämen, sollten sie der Gemeinschaft bzw. dem Leiher Mittel zurückgeben.
Die folgenden Passagen wechseln die Stoßrichtung und nehmen die Bettelorden ins Visier. Studenten sollten nicht betteln.43 Besser sei es, das Handwerk der Eltern zu erlernen, da die Jungen dann auch nicht zu verlogenen Pfaffen würden.44 In Wiederaufnahme des Freilassungsmotivs sollten die Äbte die Mönche freigeben45 und ihnen Geleitgeld zur Verfügung stellen, die Mönche wiederum im Handwerk arbeiten. Zum ersten Unterhalt könnten sie die Kelche und Messgewänder des Klosters verkaufen.46 Ein Mönchs- und Nonnenleben sei nicht gottgefällig.47 Daher sollten die Bettelorden verboten und die Klöster aufgehoben werden.48
Alle finanziellen Mittel seien im Gemeinen Kasten zu sammeln, dem auch die Einkommen der Bruderschaften zufließen sollten.49 Die meist Heiligen unterstellten Bruderschaften bedeuteten nur eine Zerteilung der Christenheit,50 sie seien letztlich Fress- und Saufgemeinschaften, die andere verachteten, ihre Zeit mit übler Nachrede verbrächten und daher aufzuheben.51 Auch die Zinsen der geistlichen Lehen gehörten in den Kasten.52 Mit dem Ende der gestifteten Seelmessen verschwänden diese Lehen, zugleich auch viele Pfarrstellen. Ohnehin gäbe es viel zu viele Pfarrer.53 Daher solle sich im Sterbefall das Lehen erledigen.54 Den noch lebenden Pfarrern aber werde nichts genommen, allein schon, um deren Bettelei zu verhindern.55 Überhaupt sei das gesamte Einkommen der Kirchen möglichst im Gemeinen Kasten zu sammeln.
Zur Abfassung der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung
Es ist offensichtlich, dass die von Karlstadt entwickelten Ideen einer Neuordnung der städtischen Armenfürsorge sich komplementär zu den Forderungen der vom Rat der Stadt errichteten Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung (hier als Beilage ediert) verhalten. Sein Anteil an den aufgestellten Artikeln ist unübersehbar.56 Auch die Datierung der – ersten Fassung der – Stadtordnung auf den 24. Januar 1522 erschließt sich aus der in Von Abtuung der Bilder erfolgten Festlegung auf »freytags nach Sebastiani«.57 Allerdings weisen einige Indizien auf mehrere Überarbeitungen und eine etappenweise Entstehung zwischen dem 24. Januar und dem 14. Februar hin, sodass die Vermutung besteht, dass die handschriftliche Fassung auf das Januardatum zurückgeht und bis Anfang Februar überarbeitet wurde, um dann in den Druck zu gelangen.58 Die Druckfassung weist zwei zusätzliche Artikel zur Beschränkung des Zinssatzes auf 4% und zur Finanzierung der Ausbildung armer Kinder auf.59 Zu den Verhandlungen zwischen Rat und Universitätsvertretern über die Ordnung äußerte sich der frisch gewählte Bürgermeister und gleichzeitige kurfürstliche Rat Christian Beyer am 25. Januar gegenüber Hugold von Einsiedel.60 Er erläuterte die wesentlichen Inhaltspunkte, wobei besonders die Formulierung heraussticht, dass die Messe auf die Art wiedereingeführt würde, wie sie von Christus eingesetzt worden war, und bekannte, sich in der Diskussion als einziger für die Erhaltung des Kruzifix ausgesprochen zu haben: »Ich disputirt allein von crucifix, sye wolen es nicht mehr gut sein lassen.«61Karlstadt nahm intensiv an den Beratungen teil,62 plädierte für ein entschiedenes Vorgehen und zweifelte an der Entschlossenheit des Rates.63 Der Einbezug der kirchlichen Einnahmen in den Gemeinen Kasten sollte daher möglichst rasch erfolgen, bevor sich die Ratsseite plötzlich wieder gegen eine Reform entscheide.
Inhalt der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung
Die Ordnung ist in 17 Artikel unterteilt. Sie beschäftigt sich zuerst mit der Neugestaltung der Liturgie und sanktioniert die seit Dezember ausgeübten Gottesdienstgebräuche. Die Reform der Messe erfolgte gemäß der Schrift, doch blieben viele Teile des römischen Kanons – bis auf die Teile, die Opfercharakter tragen – erhalten. Die Laienkommunikanten empfingen Brot und Wein, ausgegeben in die Hand; die Gottesdienstsprache sei Deutsch. Bilder in den Kirchen – seien es Heiligen-, Marien- und Christusfiguren – sollten ebenso wie Altäre geordnet entfernt werden; übrig blieben drei bilderlose Altäre.64
Alle kirchlichen Einnahmen sollten insgesamt in einem dafür einzurichtenden Gemeinen Kasten zusammengeführt werden. Dazu zählten die Zinsen der Gotteshäuser, beruhend auf den Seelmessstiftungen, den Einkünften der Lehen (gestiftete Altarpfründen) und der Bruderschaften sowie einer jährlich aus dem Einkommen von Klerikern und Bürgern zu erhebenden Armensteuer (Art. 1, 2 und 11). Das Klostergut sei bereits inventarisiert in Hinsicht auf eine baldige Aufhebung der Klöster (Art. 6). Das Ende der Seelmessen und der geistlichen Lehen würde zu einer deutlichen Verringerung der Einnahmen der Priester führen. Erhalten blieben die Lehen nur, damit die derzeit von ihnen abhängigen Priester nicht der Bettelei anheimfielen. Im Todesfall des Priesters aber würden sie erlöschen und ganz an den Gemeinen Kasten fallen.
Auch die religiösen Bruderschaften sollten aufgelöst werden, von denen es zu dieser Zeit in Wittenberg 21 gab.65 Bettler dürfe es keine mehr geben in der christlichen Stadt Wittenberg. Dieser Artikel richtete sich zuerst gegen professionelle Laienbettler, aber auch gegen Bettelmönche und Terminierer66. Kranke Bettler sollten der städtischen Armenfürsorge anheimfallen, [ehemalige Bettel-]Mönche aber möchten sich vom Klostervermögen ernähren und das, woran es ihnen fehlt, selbst erarbeiten.67 Die eigene Versorgung und Selbstbeköstigung werden zur Voraussetzung für die Aufnahme stadtfremder Schüler; Stationierer68 seien nicht mehr erlaubt.69
Den Priestern wurde das gelassen, was sie zum Unterhalt benötigten. Auch ihre Tätigkeit änderte sich. Anstelle der weggefallenen Seelmessen und Vigilien sollten sie arme, kranke Leute besuchen, ohne zu Testamentariern (Begünstigten) eingesetzt werden zu dürfen. Die Mittel aus dem Gemeinen Kasten sollten nur für gemeinnützige Zwecke für die gesamte Gemeinde eingesetzt werden.70 In erster Linie dienten sie der Fürsorge der städtischen Notleidenden, aber auch der Unterstützung von Waisen und armen Kindern (Art. 10) bzw. begabten Kindern Armer für einen Schul- und Universitätsbesuch, um weltliche Beamte und gelehrte Prediger für die eigene Stadt auszubilden (Art. 17). Auch zinslose Darlehen an mittellose Handwerker sollten aus dem Kasten vergeben werden (Art. 9). Sie seien zu einem festgesetzten Termin zurückzuzahlen, könnten aber auch erlassen werden, wenn es jenen an Möglichkeiten fehlte (Art. 11). Wohlhabende könnten für 4% Zinsen Kapital aus dem Kasten leihen (Art. 16).71 Dies zeigt, dass die Stadtordnung die Zinsnahme nicht als einen an sich sündhaften Akt ablehnte, sondern den Zinsfuß begrenzen und die üblichen Wirtschaftsformen abmildernd gestalten wollte.
Letztlich bezieht sich die Ordnung auch auf die innerstädtischen Sitten, dabei vornehmlich auf die Frage der Prostitution. Sogenannte unsittliche Personen, also Prostituierte und andere unehrenhaft Tätige, wurden aufgefordert zu heiraten. Seien sie dazu nicht bereit, müssten sie aus der Stadt vertrieben werden. Wirte, die nicht sesshaften Personen Herberge gewährten, sollten bestraft werden (Art. 14).
Die Beziehung der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung zur Beutelordnung
Das Verhältnis der undatierten Wittenberger Beutelordnung72 zur Stadtordnung ist nicht endgültig geklärt. Einerseits wurde sie als Ausführungsverordnung zur Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung aufgefasst und ihre Entstehung dementsprechend nach dieser in den Februar 1522 gelegt.73 Andererseits fallen viele Übereinstimmungen mit Ideen Luthers auf, die dieser 1520 in den beiden Wuchersermonen und der Adelsschrift entwickelt hatte, sodass eine Entstehung auch Ende 1520/Anfang 1521 denkbar ist.74 Laut Beutelordnung ist eine Auswahl von vier Bürgern der Gemeinde aus den jeweiligen Vierteln als Vorsteher der lokalen Armenfürsorge vorgesehen, die über Vermögen, Wesen, Stand, Herkommen und Redlichkeit der Armen ihres Viertels gut informiert sein müssen. In den Gemeinen Kasten gehen die Kollekten der Kirchen ein. Nach der Sonntagspredigt werde über die Verteilung der Gelder an Arme beraten. Für die Öffnung des Kastens sind drei Schlüssel notwendig, von denen einer beim Bürgermeister und zwei bei den Vorstehern und ihren drei beigeordneten Räten deponiert werden. Diese Maßnahme dient der Verhinderung von Argwohn und Vorteilsnahme. Jährlich ist von den Vorstehern Rechenschaft über die Gelder abzulegen. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, dafür zu sorgen, dass keine Jakobsbrüder und Romanisten [Wallfahrer nach Santiago de Compostella und Rom] in die Stadt kommen. Die Stadt solle dann Getreide zur Armenversorgung aufkaufen, wenn es billig ist; ebenso im Sommer das Holz für den Winter.75 Beide Güter sollten an Vermögende gegen Geld abgegeben werden, an die Stadtarmut aber kostenlos. Zudem solle ein Gebäude für Arme errichtet werden, die an Infektionskrankheiten leiden.
Auffällige Übereinstimmungen zeigt die Beutelordnung besonders mit LuthersAdelsschrift.76 Diese will Bettelei abschaffen und sieht eine Fürsorge der eigenen Stadtarmut unter Ausschluss stadtfremder Bettler vor;77 empfiehlt die Einsetzung von Vorstehern einer lokalen Armenfürsorge, die den Rat über die Bedürftigen und deren Bedürftigkeit unterrichten, wonach sich die Austeilung der Gelder zu richten habe;78 schließlich sollten die Kirchenkollekten in den Kasten überführt werden.
Zwei Neuerungen unterscheiden die Stadtordnung von der Beutelordnung wesentlich. Zum einen verankert sie zinslose Kredite für Handwerker, Waisen und arme Kinder, eine Unterstützung Verschuldeter mit billigen Krediten sowie Schul- und Studienstipendien für Kinder armer Leute – Forderungen, die sich ähnlich in Luthers sozialethischen Schriften des Jahres 1520 finden lassen. Noch grundlegender aber scheint, dass der Gemeine Kasten der Stadtordnung eine massive finanzielle Aufstockung durch die Zusammenführung aller kirchlichen Einkünfte erhielt. Hinzu traten die Zinseinkünfte der geistlichen Institutionen, Bruderschaften und Zünfte, die im Todesfall freiwerdenden Benefizien und der gesamte inventarisierte Klosterbesitz. Bei Bedarf konnte zudem eine jährliche Abgabe der »priester oder burger«79 als »eine Art allgemeiner Kirchensteuer«80 zur Armenfürsorge erhoben werden. Dieses Modell der lokalen Armenfürsorge kann als die »historisch primär wirksam gewordene Konzeption des Gemeinen Kasten« gelten, die »wohl maßgeblich auf Andreas Bodenstein von Karlstadt zurückgeht.«81
Zur zeitgenössischen Armen- und Bilderdiskussion
Wie bei Karlstadt nicht unüblich, entwickelte er den in Von Abtuung der Bilder und in der Stadtordnung aufgestellten Forderungskatalog in mehreren Schriften dieser Zeit. Die Idee des dauerhaften christlichen Erlassjahres und der zinslosen Leihe, aber auch jene der Verpflichtung der Schuldner, Unterstützungen im Falle eigener Vermögensvermehrung zurückzuzahlen und der Kontrolle der Mittelvergaben durch die städtische Obrigkeit sind Themen der 10 Conclusiones de anno iubileo et anno remissionis,82 die dementsprechend im Januar 1522 disputiert worden sein müssen. Im Sendbrief von seiner Wirtschaft veröffentlichte Karlstadt die Beschlüsse des Generalkapitels der Augustinerkongregation vom 6. Januar 1522.83 Letztlich ist nicht zu übersehen, dass Karlstadt seine Ausarbeitungen in Von Abtuung der Bilder und in der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung als praktische Ausführung von Vorschlägen verstand, die Luther in den beiden Wuchersermonen und der Adelsschrift im Jahr 1520 angestoßen hatte. Luther schlug die Abschaffung der Seelmessen vor84 und forderte, dass Mönche – abgesehen von denen, die die Unterweisung der Brüder in der Bibel übernahmen – sich von Arbeit ernähren sollten.85 Bettelei gehöre nicht in eine christliche Stadt, vor allem stadtfremde Bettler und Wallfahrer seien nicht mehr aufzunehmen.86 Die Armen hätten aber zu arbeiten.87 Zinsnahme sei unchristlich, daher Zins und Rentenkauf zu verbieten;88 möglichst auch die Prostitution.89 Der Obrigkeit gebühre die Durchsetzung der Verordnungen.90 In starkem Praxisbezug fordert Luther, Amtsvorsteher einzusetzen, die den Magistrat über Bedürftige informieren.91 Schließlich solle die Armenfürsorge vorbeugend ansetzen und nicht erst, wenn die Notlage bereits groß sei92 – diesen Ansatz sollte Karlstadt wiederholen. Seine Forderung nach dauerhaftem christlichen Erlassjahr findet einen Bezug zu Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16, die auf Grund der Aufhebung der mosaischen Kultvorschriften durch Christus postuliert, dass jeder Tag für einen Christen ein Festtag und jeder Ort heilig sei.93
Dennoch stellt sich die Frage, warum die Bilderfrage nun, im Januar 1522, so virulent wurde, dass sie Anlass zu einer Predigt sowie dieser zentralen Schrift Karlstadts gab und als Artikel in die Stadtordnung aufgenommen wurde. In den Auseinandersetzungen über die Messreform im Dezember 1521 wie auch in den sechs Forderungen der Bürgerschaft vom Dezember 1521 war sie noch kein Thema.
Karlstadts Schrift Von Abtuung der Bilder und die Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung boten den sich häufenden, mehr oder minder gewalttätigen Aktionen gegen Liturgica der altgläubigen Messe den Möglichkeitsraum, in geordnete und verwaltete Handlungen überführt zu werden. Bereits im Frühjahr oder Juni 1521 war bei einem Angriff auf eine Prozession in Treptow a. d. Rega die Heiliggeistkapelle verwüstet, einige der dort entnommenen Bilder zerrissen und in einen Brunnen geworfen worden.94 Ob es sich dabei um den ersten reformatorisch inspirierten Bildersturm handelte oder um eine Desakralisierungshandlung, wie sie antiklerikale Empörungen des Spätmittelalters kennzeichnen, kann auf Grund der Quellenlage nicht eindeutig geklärt werden. Seit Herbst 1521 häuften sich in Sachsen Aktionen gegen Klöster und deren liturgische Gerätschaften. In Eilenburg wurde am 5. November 1521 die Terminei der Leipziger Dominikaner gestürmt, dortige Kisten, Öfen und Fenster zerstört.95Bei den studentischen Unruhen am 4. Dezember 1521 vor dem Franziskanerkloster in Wittenberg drangen einige Studenten in das Kloster ein und zerstörten einen Altar.96 Am 6. Januar 1522 verbrannten Mönche des Augustinerklosters (wohl unter Anleitung Gabriel Zwillings) die Bilder der Klosterkirche; am 10. Januar wurden alle Altäre – abgesehen vom Hochaltar – zerstört, deren Bilder und Statuen zerschlagen und verbrannt.97
Den Akzelerator, der die zentrale Stellung der Bilderfrage entscheidend beförderte, bildeten die Beschlüsse des Generalkapitels der Augustinerkongregation in Wittenberg vom 6. Januar 1522.98 Sie verkündeten die christliche Freiheit, das Kloster zu verlassen, und setzten der Bettelei als eigener Daseinsform, einer Wesensbestimmung ihres Mendikantenordens, ein Ende. Ihren Unterhalt wollten sie nun mit Arbeit erlangen. Zugleich sollten keine gestifteten Seelmessen mehr abgehalten werden, Messgaben (missiva votiva) seien verboten.99 Diese Forderungen, verbunden mit dem Ende der gestifteten Messen, legten den Grund für die von den Mönchen selbst vorgenommene Zerstörung von Altären, Bildern und Liturgica am 6. und 10. Januar 1522.
Schließlich ist zu bedenken, dass der Rat nicht nur durch diese Ereignisse, sondern auch durch die Massenaufläufe zu den Predigten (u. a. Karlstadts), vor allem aber durch die sechs Artikel der Stadtgemeinde vom Dezember 1521 unter Druck gesetzt wurde. Diese forderten die freie Predigt für jeden Christen, die Abstellung der alten Messen inklusive Requiem, Leichenbegängnis (Seelenamt), Vigilien, Bruderschaften, Hochzeitsmesse und Votivmessen, die generelle Kommunion in beiderlei Gestalt und die Schließung von Bordellen wie Bier- und Schankhäusern.100 Anders als im Dezember 1521 mag der Rat auf Grund der aufgewühlten Lage nun dankbar den Beitrag der Universität für eine Reform von Messe und Stadtordnung aufgenommen haben.
Die gesamte Problematik eröffnet den wichtigen Konnex, der sich zwischen der Abschaffung der Bilder und dem Verbot der Bettelei auftut. Sie erhält sozialpolitische Brisanz, da die Bilderfrage mit der Lösung der sozialen Not und einer Umverteilung der Güter verbunden wird.101 Die Verklammerung der beiden Probleme war nicht in erster Linie ein geschickter rhetorischer Griff.102 Vielmehr waren die Aufhebung der Seelmessen, Bestiftungen und Altarpfründen und die Entfernung der Bilder und Statuen von Heiligen zwei Seiten einer Medaille. Die Bettelmönche wurden zur Anrufung der Heiligen nicht mehr gebraucht; damit verbunden war eine Verringerung der Spenden und Almosen. Die Sozialethik und die städtische Armenfürsorge mussten daher grundsätzlich überdacht werden. Damit ergab sich ein direkter Zusammenhang zwischen Bilderentfernung und Neuordnung der Armenversorgung, die im gut christlichen Sinne als vorwegnehmende Linderung der sozialen Not auf vollkommen neue Grundlagen gestellt werden sollte. Die Frage hatte praktische Relevanz, der eine theologische Basis und Motivation beigegeben wurde: Aufgabe der Vermögenden sei der Unterhalt der Armen.103 Die Armen sind der lebendige Tempel Gottes: sich für sie einzusetzen, bedeute den wahren Gottesdienst.104 Sie sind Gegenstand der Fürsorge der christlichen Liebe und würdige Empfänger des Zehnten und werden auf diesem Weg quasi zu den wahrhaft zu verehrenden Heiligen.105 Armenfürsorge heißt Vorsorge, damit die Notlage im Voraus abgewendet wird und der Notleidende gar nicht erst in die unangenehme Lage kommt, um Hilfe bitten oder gar betteln zu müssen;106 ebenso sei eine unnötige Diskussion der städtischen Entscheider über die Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden.107 Die Darlehen an Hilfsbedürftige sind zinslos oder gar verloren (einer Schenkung gleich); andererseits zahle der, der könne, auch zurück. Die Zinsgewinne sind stark eingeschränkt. Die christliche Stadt kennt keine Armut und Bettelei, keinen Betrug und keine gegenseitige Schädigung ihrer Bürger. Sie beruht auf gegenseitiger Rücksichtnahme und einem auf der christlichen Gemeinde, den Zünften und den kirchlichen Körperschaften begründeten, korporativen Solidarprinzip.108
Eine Interpretation der Passagen über die Bilderfurcht in den Herzen der Gläubigen muss die rhetorische Situation der Predigt als Grundlage der Bilderschrift einbeziehen. Indem sich Karlstadt mittels seiner Bilderfurcht mit den Vorstellungen des Kirchenvolks und ihrer Volksfrömmigkeit gemein machte, verlieh er seiner Argumentation Glaubwürdigkeit im Verstehenshorizont der laikalen Gemeindemitglieder. Karlstadts Bilderbegriff muss im Sinne eines Abbildungsbegriffs verstanden werden, der nicht nur Malerei und Statuen umfasst, sondern auch darüberhinausgehende Zeichen.109 Dies wird ebenfalls in den Passagen zur Bilderfurcht deutlich, die eine Analogie zu geisterhaften Erscheinungen, Schatten- und Geräuschassoziationen herstellt.110 Das Bild wird im übertragenen Sinn zu einer Allegorie bzw. zu einem Abbild von etwas; es ist Widerhall, Schein eines Wesens, Materialisation eines Geistes bzw. materielles Zeichen. Die Abgötter befinden sich nicht wesentlich im »Ölgötzen« selbst, sondern im Innern des Menschen. Sie flößen die Furcht vor den Abbildern ein, indem sie diesen eine ihnen nicht zukommende Aura der Heiligkeit verleihen. Tatsächlich aber seien die Bilder nur Zeichen, die zwar tief im Herzen der Menschen verankert, im festen Glauben an Gott aber zu überwinden seien. In ihrer Trugbildhaftigkeit sind sie teuflische Anfechtungen (afflictiones), gemäß Karlstadts Bußlehre dem Christen auf dem Weg zu Gelassenheit und Selbstverleugnung als Prüfung auferlegt. Im Gegensatz zu Luthers rein zeichenhaft nominalistischem111 offenbart Karlstadt als ehemaliger Thomist ein im göttlichen Bereich realistisches Bildverständnis.112 Dies könnte auch das Beharren auf strikter Einhaltung der biblisch gedeuteten Zeichen in der Eucharistie begründen. Göttliche Zeichen erhalten eine geradezu substantielle Repräsentanz. Die Heiligenbilder auf dem Altar sind dagegen Teufelsköpfe113, eine dämonische Perversion des göttlichen Zeichencharakters. Karlstadt spricht sich dezidiert gegen den Gebrauch von Bildern in Kirchen aus;114 eine generelle Ablehnung der Abbildung von Mensch und Ding auch in weltlichem Kontext ist nicht zu konstatieren.
Die Bilderschrift wurde lange Zeit als Ausdruck eines Ikonoklasmus eingeordnet, der in einen Bildersturm in der Pfarrkirche Wittenberg gemündet hätte115 bzw. vergeblich versucht habe, diesen zu verhindern.116 Jüngere Untersuchungen konnten jedoch nachweisen, dass der sogenannte Bildersturm in der Wittenberger Pfarrkirche von Anfang Februar 1522 eine sehr begrenzte Aktion gewesen ist, die weniger Auswirkungen zeitigte, als bisher vermutet. Nur eine Person wurde zur Rechenschaft gezogen.117 Das Inventar der an der Pfarrkirche angesiedelten Bruderschaft »Unser Lieben Frauen« zeigte im April 1522 kaum Verluste an.118 Die Distanzierung des Rates durch Verhängung der Strafe und öffentliche Anprangerung119 muss vor dem Hintergrund des Reichsregiments und des Rechtfertigungsdrucks vor Kurfürst Friedrich III. angesichts der durch die Messreformen seit Herbst 1521 ausgelösten Spannungen gelesen werden. Somit ist die Abhandlung Von Abtuung der Bilder als Versuch einer obrigkeitlich sanktionierten und magistral gesteuerten Ordnung der Bilderentfernung aus den Kirchen, wie es die Stadtordnung vorschreibt, zu sehen.
Dennoch kam es in der Folge zu weiteren ungeordneten Aktionen wie dem Klostersturm in Grünhain am 6. März 1522.120 Zu bezweifeln aber ist, dass dieser als Folge bzw. auf der Basis der Vorschläge der Bilderschrift erfolgte. Als Ausläufer der gesamten Diskussion ist dagegen die geordnete Abschaffung der Bilder in Orlamünde durch Karlstadt im Herbst 1523 oder Frühjahr 1524 zu betrachten.121Luther diskutierte mit den Orlamündern persönlich darüber;122 in der Schrift Wider die himmlischen Propheten, seiner großen Abrechnung mit Karlstadts Theologie, widmete er der Bilderfrage eine längere zusammenhängende Passage.123
Ob es zur obrigkeitlich vom Rat gesteuerten Bilderentfernung in Wittenberg kam, bleibt offen. Einige andere der Reformen scheinen aber tatsächlich durchgesetzt worden zu sein. Christian Beyer schrieb am 25. Januar 1522 an Hugold von Einsiedel, dass in jeder Gasse ein frommer Mann die Aufsicht über Arme und die Sünden [Schenken, Bordelle] habe – Forderungen aus der Beutel- wie Stadtordnung.124Karlstadt selbst setzte gegen Widerstand die Abschaffung der Ohrenbeichte in der Messe durch.125 Die Vertreibung der »gemeinen Frauen« aus der Stadt wurde wohl schnell erwirkt; an die Franziskaner und Augustiner erging eine Weisung, die Kleinodien aufzulisten und ihre Klöster bis Mitfasten (30. März) zu räumen.126 Es gibt Berichte, dass der Wittenberger Rat die Reform eifrig betrieben habe;127 im Ratsarchiv sind Ausführungen der Stadtordnung nachweisbar.128
Luthers Reaktion nach der Rückkehr von der Wartburg auf die geplante Bilderentfernung auf Grundlage der Stadtordnung, mithin auch auf Karlstadts Abhandlung Von Abtuung der Bilder, ist bekannt.129 In den Invocavitpredigten erklärte er den Reformansatz zu einem fleischlichen Gottesdienstverständnis, das zum Ärgernis der Schwachen und zu Unruhe in der Gemeinde geführt habe.130 Es solle um die Zerstörung der inneren Bilder und die Überwindung der Götzenanbetung in evangelischer Glaubensunterweisung gehen.131 Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass der Angriff auf die inneren Götzenbilder auch Karlstadts Ziel war, nur wollte er dafür die äußeren Bilder als Stützen des Götzenkultes, aber auch als Verletzung göttlicher Gesetze entfernen lassen. Luther erklärte die Existenz von Bildern in der Kirche und ihren Gebrauch für frei, doch meinte auch er, dass es »besser were, wir hetten sie [scil. die Bilder] gar nicht. Ich bin in [scil. ihnen] auch nit holt.«132