Nr. 225
47 Conclusiones: De coniuratione mortuorum migrantium
Wittenberg, [1522, nach Mitte März]

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Frühdruck:

Frühdruck:

[A:][Karlstadt, Andreas Bodenstein von]
ARTICVLI DE CONIVRATI⸗∥ONE MORTVORVM ∥ MIGRANTIVM.
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
LVTHERI, ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ,in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctoribus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad ∥ moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione et præcepto. ∥ Fide & operibus. ∥ Cantu Gregoriano. ∥ Coniuratione ſpirituum. ∥ Cœlibatu preſbyterorum. ∥ Decimis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. C1v–C3r (Nr. 9).
8°, 56 Bl., A8–G8, fol. A1v und G8v leer.
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020,13.
Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77.Cc.281. — RFB Wittenberg-Luthergedenkstätten, Ag 8 548d. — RFB Wittenberg-Luthergedenkstätten, SS 1516. — RFB Wittenberg-Luthergedenkstätten, SS 2272. — RFB Wittenberg-Evangelisches Predigerseminar, LC590/1. — RFB Wittenberg-Evangelisches Predigerseminar, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:

Handschrift:

Handschrift:

[a:]KBSG, Ms. 266, fol. 276v–277r

Abschrift von der Hand Christoph Schappelers; ohne Nummerierung der Thesen.

Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Die 47 Conclusiones de coniuratione mortuorum erscheinen sowohl in der gedruckten wie handschriftlichen Überlieferung ohne Nennung des Verfassers (bzw. praeses). Auch der Titel der Thesenreihe ist sekundär und bildet nicht das Original ab. Die Zuschreibung an Karlstadt schwankt in der Forschung. Riederer zeigte sich unsicher,1 Barge dagegen hob hervor, dass »die ganze Diktion und Gedankenwelt echt Karlstadtisch [sei], so die Bezeichnung des Weihwassers, der gesegneten Kräuter, des geweihten Salzes als der Würfel des Teufels (These 31); die Berufung auf Moses und die Propheten (These 43); die Art, in der die Heilige Schrift anderen Autoritäten gegenübergestellt wird (Thesen 44, 47). Auch die Betonung der opera bona (Thesen 3 ff.), als der Früchte des Glaubens […].«2Karlstadt hatte sich in dieser Zeit bereits intensiv mit der Thematik befasst, was schließlich in einer vermutlich am 2. November 1522 gehaltenen Predigt kulminierte, die Ende des Jahres als Sermon vom Fegefeuer (KGK 233) in den Druck ging. Barge machte darauf aufmerksam, dass in beiden Arbeiten die Aufrechterhaltung des Verkehrs mit den Seelen Verstorbener als gottlos (Thesen 9–11) und die angeblichen Antworten der Seelen auf ihr Befragen als Orakel des Teufels (These 12) bezeichnet werden.3 Doch ist ebenso eine Reihe signifikanter Differenzen feststellbar. In jüngster Zeit wurde die Zuschreibung der Thesenreihe an Karlstadt durch Evener wieder in Frage gestellt und stattdessen Luther attribuiert.4 Demnach passe sie sehr gut in Luthers Strategie, das Alltagsleben der christlichen Gemeinde zu ordnen und ein Disziplinierungsregiment über das Hören und den Blick des einzelnen Christen zu entwickeln. Die wandernden Seelen werden in den – nach Evener lutherischen – Thesen zu einem Bild der Konfrontation des Gläubigen mit dem Tod, während sie im Sermon vom Fegefeuer gemäß Karlstadts eher auf Wissen basierenden Theologie an eine Erforschung des göttlichen Willens gemahnten.

Gegen eine Zuschreibung der 47 Conclusiones de coniuratione mortuorum an Luther spricht jedoch, dass die Thesenreihe in großer Zahl auf Aussagen Luthers aus vorangegangenen Schriften der Jahre 1519–1522 Bezug nimmt. Es wäre mehr als ungewöhnlich, dass Luther seine eigenen, bereits schriftlich festgehaltenen Argumente noch einmal disputieren lässt. Dagegen war es übliche Praxis der Wittenberger Diskursgemeinschaft in der Zeit der Abwesenheit Luthers auf der Wartburg 1521–22, die früheren Aussagen des Reformators mit den in der Zwischenzeit unter den Wittenberger Theologen weiterentwickelten Argumenten in Disputationen abzugleichen. Dennoch muss eine eindeutige Zuordnung der Thesenreihe an einen praesesKarlstadt offenbleiben.

Die Diskussion über das Schicksal Verstorbener und die Fegefeuerlehre setzte an der Universität Wittenberg schon Ende 1521 ein. Die Ursache bestand in den geplanten und in der Stadtordnung angesetzten Mess- und Sozialreformen. Die Abschaffung der Seelmessen und die Aufhebung der Bruderschaften, deren Aufgabe u. a. in der Totenmemoria bestand, aus der sie ihre soziale Selbstvergewisserung zogen,5 stellte die bisherige Praxis der Erinnerung und Verehrung der Verstorbenen in Frage. In traditioneller Vorstellung kehrten Tote als Wiedergänger ins Diesseits zurück, weil ihre Grabesruhe gestört wurde. Eine solche Ruhestörung lag vor, wenn die Seelgeräte nicht ausgeführt wurden, zu denen testamentarische Vermächtnisse und alle frommen Werke, die den Verstorbenen einen Schatz im Himmel sichern sollten, gehörten. Dazu zählten Stiftungen für Altäre, an soziale Einrichtungen, für Jahrzeiten, um Priester zu besolden, die am Todestag des Stifters eine Messe lesen, und die je nach Umfang Almosen, Glockengeläut u. a. einschließen.6 Aufgabe der wiederkehrenden Seelen (in Form von Poltergeistern, Wiedergängern und anderen Erscheinungen) war die Erinnerung an die Pflicht der Totenfürsorge.7

Der Diskurs über das Fegefeuer, den Aufenthaltsort der verstorbenen Seelen und die Existenz von Geistern war an der Universität Wittenberg vielstimmig und repräsentierte ganz unterschiedliche Ansätze. Otto Beckmann sprach sich in seinem Gutachten zur Messreform (erstellt zwischen 7. und 12. Dezember 1521) aus altgläubiger Perspektive für die Abscheidung der Seelen vom Körper mit dem Tod und ihren Aufenthalt an einem Zwischenort aus, für ihr Heil könne gebetet und geopfert werden.8 Im Gefolge des Auftretens der Zwickauer Propheten intensivierte sich die Debatte.9Nikolaus von Amsdorf wandte sich deswegen an Luther, der am 13. Januar 1522 brieflich eine Theorie vom Seelenschlaf nach dem physischen Tod bis zum jüngsten Gericht entwickelte.10 Das Fegefeuer sei, so der Brief, kein bestimmter Ort, sondern die Buße bzw. Plage, durch die sich Christus, Moses und Abraham arbeiten mussten; es findet also im eigenen Körper statt.11

Die 47 Conclusiones de coniuratione mortuorum bestreiten die Möglichkeit einer Kommunikation mit Verstorbenen, wie sie durch Erscheinung von Wiedergängern und Poltergeistern als geläufig galt.12 In gleicher Weise werden Totenbeschwörungen abgelehnt. Dies alles seien Träume oder teuflische Vorspiegelungen. Allein dem Wort Gottes sei Gehör zu schenken, nicht Poltergeistern, wandelnden Seelen oder ähnlichen Erscheinungen, die als Dämonen dem Reich des Teufels zuzuordnen seien. Alle Taten, die für die Entscheidung Gottes anzurechnen sind, erfolgen vor dem Tod, d. h. jede Möglichkeit, um Einfluss auszuüben, besteht vor dem Tod, nicht danach (These 4). Nach dem leiblichen Tod gehe die Seele sofort in Himmel oder Hölle ein. Damit waren die 47 Conclusiones de coniuratione mortuorum die erste reformatorische Abhandlung, die die Existenz des Fegefeuers bestritt.

Die komplette Ablehnung des Fegefeuers und die Beschränkung der wandelnden Seelen auf dämonische Erscheinungen sind die größten inhaltlichen Divergenzen zum Sermon vom Fegefeuer.13 Dennoch erscheint es auf Grund der Textsorte möglich, dass die 47 Conclusiones de coniuratione mortuorum eine Art Vorstudie bildeten.14 Die Gattung der Thesen erlaubt die Vorstellung und Prüfung von Argumenten auf ihre Stichhaltigkeit; sie bietet sogar die Möglichkeit, Extrempositionen und sich selbst Widerlegendes zu formulieren. Inhaltlich passt der Verweis auf 5. Mose 18,10–12 in der 9. These mit Karlstadts Vorlesung über das Buch Deuteronomium im Wintersemester 1521/22 zusammen.15 Ob die letzte, seltsam anmutende These, mit der sich der Referent vor das Gericht der Heiligen Schrift stellt, das allein über ihn urteilen dürfe, auf die wachsenden internen Spannungen in Wittenberg nach Luthers Rückkehr von der Wartburg verweist, bleibt unsicher.16 Das würde bedeuten, dass Karlstadt diese Thesenreihe noch nach den ersten Invocavitpredigten Luthers Mitte März 1522 disputieren ließ.17 Eine motivische Parallele in der 20. These mit einer Randbemerkung in dem am 27. März 1522 abgefassten Brief Karlstadts an Hector Pömer verstärkt dieses Argument.18


3Vgl. Barge, Karlstadt 1, 494.
4Vgl. Evener, Spirits, 532–535; 547–549.
6Vgl. hierzu Jezler, Himmel, 410; Lecouteux, Gespenster, 56–60; 112–115; 183–185; zur Entwicklung der Fegefeuervorstellungen und der in diesem Zusammenhang stehenden Ausweitung von Testamenten und Obituarien vgl. LeGoff, Fegefeuer, 396–403; Angenendt, Memoria, 214 f. u. 222 f.
8Vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 92 f. Nr. 44: »Weiter, daß dye messe unde seel ampte denn verstorben czutroste unde hulff komenn komenn, glaub ich […]; glaube auch, daß dye ßelen nicht mydt dem gleichnam sterbenn unde bey dem leichnam ruenn wyß auff daß jungst gericht unde alßden mydt dem Corper erweckt vnde gefordert vor daß gericht gottes, alßo itliche, wye ich bericht, von den unsernn halten wollen. [[…][…]] Aber ich glaube myd Christen unde villen heiden, daß in der stunde unde moment des Naturlichen dodes dye ßelenn vonn denn Corporen gedeilet unde durch denn godtlichen willenn an eine stad verordent unde, ßo sye denn sein im stande der gnadenn, daß durch dye gebete, ßo durch dye prister in der messe unde andernn selamptenn geschehenn, dye ßelen hulff unde trost erlangenn.« Zu Beckmanns Gutachten s. auch die Einleitung zu KGK IV, Nr. 207.
9Vgl. Oehmig, Fegefeuer, 87 f.
10Vgl. WA.B 2, 422,18–423,44 Nr. 449.
11WA.B 2, 422,27–423,33 Nr. 449: »Mea autem sententia de purgatorio sic habet, non quod certum locum arbitrer, ut Sophistae fingunt, aut omnes, qui extra coelum et infernum manent, in purgatorio esse arbitrer (quis enim hoc asseret, cum dormire possint inter coelum, terram, infernum, purgatorium et omnia, sicut viventibus contingit in profundo somno?), sed eam poenam esse sententiam, quam gustum inferni dicunt, qua Christus, Moyses, Abraham, David, Iacob, Iob, Ezechias et multi alii laboravere.«
12Zur Prägung der vorreformatorischen Vorstellung von Poltergeistern und anderen Geisterscheinungen durch die Schrift De apparationibus animarum des Jacobus de Paradiso vgl. KGK 225 (Anmerkung). Zur Zurückdrängung der Vorstellungen von Geistererscheinungen im Zusammenhang mit dem Fegefeuer im 13. und 14. Jahrhundert und ihrer Wiederkehr im 15. Jahrhundert vgl. LeGoff, Fegefeuer, 354 f.
13Dort ist das Fegefeuer kein materieller Ort, sondern ein Zustand des Begehrens der Seele nach Gott und ihres Kampfes um Selbstverneinung; vom Leib abgeschiedene, umherschweifende Seelen können noch das Wort Gottes studieren, wenn sie sich von den herkömmlichen Kirchenpraktiken wie Seelenmessen und Pilgerfahrten fernhalten. S. die Einleitung zu KGK 233.
14Vgl. Oehmig, Fegefeuer, 87–89.
17Anders Barge, Karlstadt 2, 5, der die Thesen »vielleicht noch in die Zeit vor Luthers Rückkehr nach Wittenberg« setzt.
18In der 20. These heißt es, dass der Teufel Spuren des Evangeliums in sein Blendwerk mische, um Schwert und Gift zu versüßen; im Brief [wohl über Luthers Predigten], dass ein honigsüßer Spieß wirksamer sei als grausame Folterinstrumente. Vgl. hierzu KGK 225 (Anmerkung).

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