1. Überlieferung
Handschrift:
Handschrift:
Autograph Karlstadts. Auf der Adressenseite findet sich eine gestrichene ältere Signatur: »Cent V Apend. 34m Umschlag 5«. Darunter Stempel der Stadtbibliothek Nürnberg. Auf der Textseite ist sowohl am oberen als auch am unteren Rand jeweils mit Bleistift die heute gültige Signatur »Autogr. 239« notiert. Am linken Rand oben hat eine Hand des 16./17. Jh. folgenden Vermerk angebracht: »Lutherum accusat Carlstadius, quod imaginum demolitioni se opposuerit.« Darüber schrieb eine Hand vermutlich des 19. Jh.: »Epistola ad Hectorem Poemerum Noribergensem.« Unterhalb des ersten Vermerks ein dritter in brauner Tinte: »Handschrift von Carlstadt«.
Edition:
- Bubenheimer, Heimat, 44–48.
Literatur:
- Bubenheimer, Karlstadt, 656; 658 f.
- Bubenheimer, Bodenstein, 54 f.
- Bubenheimer, Heimat, 26–28.
2. Entstehung und Inhalt
Anlass des Briefes Karlstadts an Hektor Pömer1 in Nürnberg ist eine Empfehlung für den in Wittenberg tätigen Schulmeister Georg Mohr,2 der die Stadt verlassen musste oder wollte, doch nutzt Karlstadt die Gelegenheit, Pömer über seine Sicht auf die jüngsten Entwicklungen in Wittenberg nach Luthers Rückkehr von der Wartburg am 6. März 1522 zu unterrichten. Er drückt sein Unverständnis über dessen öffentlichen Auftritt aus. Unerklärlich und geradezu antagonistisch erscheint für ihn die Diskrepanz zwischen den gemeinsam entwickelten Reformansätzen vor dem Wartburgaufenthalt und Luthers Betrachtungsweise der während seiner Abwesenheit verwirklichten Veränderungen in der Stadt nach der Rückkehr, was denjenigen, die sich nun als Evangelische bezeichnen, Kummer bereite. Karlstadt verbleibt in respektvoller und monastischer Anrede an Luther (»bonus pater«), muss aber feststellen, dass dieser die eigene Sache in Rücksichtnahme auf die christliche Liebe für die Schwachen widerrufe, was dazu führe, dass er diejenigen, die im Glauben erweckt sind, nicht mit derselben Liebe umfange. Luther besudele seine und Karlstadts Sache, was zu ertragen wäre, wenn er nun nicht dulden würde, was er einst als unfromm und blasphemisch bezeichnet habe. Karlstadt aber fürchte nicht Menschen, sondern nur den Zorn Gottes. Einige erkannten schon Vorzeichen am Himmel. Karlstadt bittet am Ende Pömer als vortreffliches Mitglied der Universität Wittenberg3 um Vernichtung des Briefes, da er nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei. Den Feinden sei der Stand der Dinge zu verheimlichen; es bleibe nur die Hoffnung auf Gott, der den Gefallenen wieder aufrichten wird.
Der Brief an Hektor Pömer ist die einzige überlieferte unmittelbar zeitgenössische Klage Karlstadts über Luthers Wirken nach dessen Rückkehr von der Wartburg. In den zwischen 9. und 16. März 1522 gehaltenen Invocavitpredigten hatte sich Luther vehement gegen die in seiner Abwesenheit in Wittenberg durchgeführten Gottesdienstreformen gewandt.4 Zielscheibe der Kritik waren der Propst Justus Jonas, Karlstadt und der Augustinermönch Gabriel Zwilling,5 obwohl auch Melanchthon die Reformen ebenso, wenn nicht im Herbst 1521 sogar radikaler, vorangetrieben hatte. Laut Luther hätten sich die Messneuerungen gegen die im Glauben Schwachen, d. h. die bei der alten Lehre verbliebenen Mitglieder der Gemeinde gerichtet. Die Gestalt des Abendmahls wie die Fragen der Ohrenbeichte, der Sprache der Messliturgie und des Messgewands seien aber nicht über die christliche Liebe und den Glauben zu stellen, die im Zentrum der evangelischen Lehre stünden. Luther kritisierte, dass die strikte Befolgung des biblischen Gesetzes und des Abendmahlrituals nach biblischem Vorbild in Wittenberg zu einer rein äußerlichen bzw. fleischlichen Nachfolge Christi geführt habe, die sich von der Liebesbotschaft als Kern des Christentums entfernte.6
Für Karlstadt war diese Haltung unverständlich, sah er doch die durchgeführten Reformen als praktische Umsetzungen vieler Argumente Luthers aus der Zeit vor und noch während seines Wartburgaufenthalts an. Luther hatte sich für das Abendmahl in beiderlei Gestalt, Deutsch als Gottesdienstsprache und die Abschaffung der Ohrenbeichte ausgesprochen.7 Im April 1522 aber begründete er in der Schrift Von beider Gestalt das Sakrament zu nehmen die Aufhebung der Gottesdienstreformen in Rücksichtnahme auf die christliche Liebe zu den Schwachen.8 Dabei verurteilte er – bis auf die Ablehnung der Bilder – die einzelnen Teile der Reformen nicht,9 betonte aber, dass keine Eile geboten sei.10 Allein der Opfercharakter der Messe blieb suspendiert.11Karlstadt konnte diese Wendung nicht akzeptieren. In der Schrift Von Abtuung der Bilder im Februar 1522 hatte er herausgehoben, dass die christliche Welt auf Wittenberg schaue und die Stadt somit für eine evangelische Reform ein Beispiel gebe.12 Dieses Postulat nimmt er im Brief an Pömer auf, wenn er meint, dass Luthers Abwicklung der Reformen denen, die sich neu als Evangelische verstehen, den Ort der Zuflucht nehme und die Liebe verweigere.13
Noch vor Luthers Rückkehr, am 1. Februar 1522, ist Pömer durch ein Schreiben Melanchthons über die Lage in Wittenberg informiert worden. In dem Brief wurde der Augustinermönch Gabriel Zwilling, dessen Predigt im Augustinerkloster am 6. Oktober 1521 die Diskussion über die Reform der Messe in Wittenberg wesentlich beeinflusst hatte, in hohen Tönen gelobt und als Prediger für die Stadt Nürnberg empfohlen.14 Die Lage nach Luthers Rückkehr und der schnelle Umschwung gegen Karlstadt wird aus verschiedenen Briefen und Berichten deutlich. Am 27. März hatte der Student Albert Burer brieflich Beatus Rhenanus über die Situation in Wittenberg unterrichtet.15 Unter dem Eindruck der Invocavitpredigten folgt er einer Interpretation, nach der Luther zurückgekommen sei, um die Unruhen auslösenden Predigten Karlstadts und Zwillings zu beenden und den Glauben der Schwachen langsam wie eine Amme zu stärken.16 Ein zweites Zeugnis aus studentischer Sicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe ist der Brief des aus Nürnberg stammenden Hieronymus Baumgartner, seinerzeit Student in Wittenberg, an Pömer vom 18. März 1522.17Baumgartner scheint, anders als der den Betrachter gebende Burer, der bislang vorherrschenden Richtung der Reformbewegung unter Karlstadt näher gestanden zu haben, von der er sich mit dem Brief aber distanzierte. Daher heißt es bei ihm in dann doch ähnlicher Diktion wie bei Burer, dass der von der Wartburg zurückgekehrte Luther die planlose, überstürzte und ohne Rücksicht auf die Schwachen durchgeführte Vorgehensweise der Reform kritisiert und das, was eingestürzt war, wieder errichtet sowie diejenigen, die dazu beigetragen hätten, getadelt habe. Sie hätten mit schlechten Taten die ganze Welt mit dem Ärgernis erfüllt. Gott gebe, dass sie nicht länger irrten. Mit der Verwendung der ersten Person Plural reiht sich Baumgartner selbst in den Kreis der Getadelten ein. Die gleichlautenden Motive bei Burer und Baumgartner zeigen an, dass es Luther bereits gelungen war, mit den Invocavitpredigten ein einheitliches Narrativ zu verfestigen.
Vergleichbare Sprachregelungen, die das Ärgernis und die fehlende Liebe gegenüber den Schwachen kritisieren, bis hin zur Selbstanklage als Irrender, weisen auch die Berichte Hieronymus Schurffs auf, Jurist und Universitätskollege Karlstadts, die er am 9. März, also nach der ersten Invocavitpredigt, und am 15. März 1522 an Kurfürst Friedrich III. sandte.18Schurff zeigt sich schon im ersten Bericht als scharfer Gegner aller Reformmaßnahmen,19 hofft nun aber auf eine Befriedung der Situation; allein »Carlstadt ist nicht wohl zufrieden«.20