1. Überlieferung
Handschrift:
Schreiberhand. Ursprünglich waren die mehrseitigen Textauszüge dem hier als Beilage 1 edierten Brief von Rektor und Senat der Universität Wittenberg hinzugefügt. Dort auch die Titelei und Beischriften zur gesamten Akte.
Editionen:
- Barge, Karlstadt 2, 563–565 Nr. 15a.
- BAKFJ 2, 725 f. Nr. 1589 (Regest).
Beilage 1: Brief des Rektors und des Senats der Universität Wittenberg an Kurfürst Friedrich III. (1522, 27. April)
Handschrift:
Brief von derselben Schreiberhand. Überschrift der Akte von zeitgenössischer Hand, fol. 1r: »Allerley Befehlige und dergleichen Schriften, die druckerey und Liberey belangend[.] Ao. 1522. 32. 4. 6. 8. 9. 42. 3. Reg. U. Lit. W.W.W. fol. 168. 169.« Auf fol. 2r Überschrift von einer Hand des 19. Jh.: »1522. Schriften betr. die Irrungen der censurübenden Universität Wittenberg mit Dr. Carlstad über die Inhibition eines von ihm in Druck gegebenen Buches[.] Reg. O. pag. 168 WWW. 1.« Mit einem Präsentationsvermerk auf der Adressenseite fol. 3v: »Universitet zu Wittenberg etlich puechen halben so sie zudrucken verboten und wes sich solchen verbot zu wieder do der Carlstadt in solchen die Meß bel[angend] zu trucken unterstanden«.
Edition:
- Barge, Karlstadt 2, 562 f. Nr. 15a.
Beilage 2: Kurfürst Friedrich III. an die Universität zu Wittenberg (1522, 30. April)
Handschriften:
Ausfertigung von unbekannter Hand mit dem Unterschriftenkürzel des Kanzleischreibers Hieronymus Rudelauf1 und Siegelspuren; die Unterschrift ist in kräftigerer Tinte gesetzt. Das Schreiben des Kurfürsten an die Universität aus Colditz vom 30. April 1522 befindet sich in einer Akte mit dem Titel: »Dr. Andreas Carlstadt u. die von ihm verursachten Irrungen. 1510, 1522–1524«. Die Adresse fol. 2v mit einem Vermerk: »Wehnter[?]2 druckung etzlicher bucher«.
Konzept vermutlich von der Hand des kfstl. Kanzleischreibers Hieronymus Rudelauf.
Editionen:
- Barge, Karlstadt 2, 565 f. Nr. 15b.
- BAKFJ 2, 728 Nr. 1592 (Regest).
Literatur:
- Barge, Karlstadt 1, 453–459 mit Anm. 294–299; 2, 563–565 Nr. 15.
- Bubenheimer, Scandalum, 272 f. Anm. 34.
- Freudenberger, Dungersheim, 185 f.
- Hasse, Bücherzensur, 189–193.
2. Entstehung und Inhalt
Die konfiszierte Schrift über die Messe, die sich wie die Bitte an Ochsenfart (KGK 229) gegen den Leipziger Professor Hieronymus Dungersheim4 richtet, gehört in den April 1522. Dies geht aus dem hier als Beilage 1 mitedierten Schreiben von Rektor5 und Senat der Universität Wittenberg an Kurfürst Friedrich III. von Sachsen vom 27. April 1522 hervor. Überliefert sind allein die diesem Schreiben hinzugefügten und von einer Universitätskommission herausgezogenen Stellen. Sie lassen den Schluss zu, dass der gesamte Bogen A und somit Titelblatt und Anfang der Schrift fehlten, die Bögen B1 bis H4 (insgesamt 7 Bögen) aber bereits gedruckt worden waren.6 Es folgten noch 28 zum Zeitpunkt der Konfiskation ungedruckte, von Karlstadt autograph beschriebene Blätter, vermutlich die Vorlage für den Drucker. Der Verbleib der bereits gedruckten Bögen und des beschlagnahmten Manuskripts ist unbekannt.
Nach Beginn der Drucklegung wurde Karlstadt von der Universität angesprochen, die Schrift einer eigens einberufenen Zensurkommission zur Begutachtung vorzulegen, wozu er sich bereit erklärte.7 Als Karlstadt bedeutet wurde, dass der Text von der Zensur unterdrückt werden würde, habe er zuerst den Druck weiterbetreiben und gegen die Mitglieder der Kommission vorgehen wollen, wurde aber hierin durch die schriftlich mitgeteilte Drohung »gedempfft«, von der Universität ausgeschlossen zu werden.8 Der Brief an den Kurfürsten (Beilage 1) überliefert die Vorgänge und begründet die Aufforderung zur Zensur damit, dass die Schrift Aufruhr, Streit und die Einführung schädlicher Institutionen und unchristlicher Lehre hervorbringe.
Mit diesem Schreiben führte der Senat der Universität Wittenberg eine Vorzensur ein, die festlegte, dass nur gedruckt werden dürfe, was der Rektor und die Dekane der vier Fakultäten bzw. deren Beauftragte vorher gesehen und genehmigt hätten.9 Die Universität übernahm damit die Begutachtung der zu druckenden Bücher. Doch die offizielle Vorladung der Drucker und die Aufforderung an diese, dass es ihnen »ernstlich bey straff und pen« verboten sei, unzensierte Bücher zu drucken,10 lässt ebenso wie eine Aussage Luthers gegenüber Spalatin11 den Schluss zu, dass der Magistrat der Stadt Wittenberg bei der Durchsetzung der Zensur einbezogen war, indem er die Kontrolle der Drucker übernahm.12 Wer an der Universität die Initiative zur Einführung dieser Vorzensur ergriffen hatte, ist ungeklärt. Luther selbst berichtete am 21. April, als die Zensurvorgänge einsetzten, an Spalatin, dass er Karlstadt in einem persönlichen Gespräch gebeten habe, von Schriften gegen ihn abzusehen, was jener zugesagt hätte, doch läge der Zensurkommission (»sub manu rectoris et Iudicum«) ein Druckbogen mit sechs Doppelblättern (Sexternio) von Karlstadts Buch zur Begutachtung vor.13 Die Kommission wolle, dass er das Buch zurückziehe, Luther aber dringe nicht darauf.
Maßnahmen gegen den Drucker sind in den Quellen nicht nachweisbar; allerdings wurden die Drucker mit dem Schreiben erst für zukünftige Zuwiderhandlungen in Haftung genommen. Augenscheinlich erbot sich Luther, den Drucker für den aufgekommenen Verlust zu entschädigen, indem er diesem eine eigene Schrift zum Druck überließ.14 Barge vermutet, dass es sich bei dem Drucker um Nikolaus Schirlentz gehandelt habe, der in dieser Zeit (1521/22) viele Karlstadtdrucke ausführte. Ende Mai ist ein Lutherdruck von Schirlentz als vermutliches Äquivalent belegt.15
Für eine genaue Datierung der konfiszierten Karlstadtschrift bilden also der Brief der Universität an den Kurfürsten mit der Bitte um Zensur sowie Luthers Schreiben an Spalatin den terminus ante quem (21./27. April 1522). Es ist aber eine weitere zeitliche Eingrenzung in inhaltlicher und kontextueller Hinsicht möglich. In der Widmungsvorrede der Schrift Von Abtuung der Bilder vom 27. Januar 1522 schreibt Karlstadt, dass er eine Abhandlung über die Form der Messe niedergeschrieben habe: »Den ersten artickell wie ehr mir gefelt/ hab ich/ ym buchlin von dem Herlichen abendessen/ tzum teyll endeckt.«16 Wenn Karlstadt hier nicht auf seine bereits im Juli 1521 verfasste Schrift Von den Empfängern des Sakraments (KGK IV, Nr. 183) rekurriert, könnte es sich um einen Hinweis auf die später konfiszierte Schrift gegen Dungersheim handeln.17 Tatsächlich ist nicht nur deren Hauptthema das Abendmahl, auch der Titel kann den Verweis bekräftigen. Karlstadt weist hier die Verwendung des Begriffs »Messe« zurück und plädiert für die Benennung cena dominica. Für eine deutsche Übersetzung als »herrliches Abendessen« spricht, dass dem lateinischen Begriff das deutsche »herlich« angefügt wurde.18 Somit wäre die Schrift nicht erst als »nachträglicher Protest gegen die Vorgänge im Frühjahr 1522«19 entstanden, sondern in weiten Teilen im Vorlauf seit Ende des Jahres 1521. Wesentliche Programmpunkte wie die Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt unter deutschen Einsetzungsworten und die Streichung von Beichte, Opfergebet und Elevation fixieren die eigene Praxis des Gottesdienstes, wie ihn Karlstadt seit seiner Christtagspredigt am 25. Dezember 1521 ausführte.20 Die Ende Januar 1522 von Karlstadt maßgeblich mitgestaltete Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung stellt ein Programm auf, wie die Messe dem biblischen Bericht gemäß zu gestalten sei (»wie sy Christus am abentessen hat eingesetzt«).21 Letztlich finden sich ähnliche Forderungen in zeitgleichen Reformschriften wie Luthers Abhandlung De abroganda missa privata, die im Dezember 1521 als Manuskript in Wittenberg kursierte und im Januar gedruckt wurde,22 und MelanchthonsPropositiones de missa (Oktober 1521). Angesichts dieser Faktenlage und auch des Umfangs der Schrift ist daher davon auszugehen, dass zumindest die Teile, die sich der Messtheologie und Ausgestaltung des Gottesdienstes widmeten, als Ausführung eines Reformprogramms bzw. als dessen schriftliche Fixierung seit Ende 1521 ausgearbeitet wurden.23
Ihre letzte Form und polemische Stoßrichtung erhielt die Abhandlung jedoch erst in der Auseinandersetzung mit den Berichten über die bischöflichen Visitationen in Lochau und Torgau Anfang April 1522. Im Gefolge des Mandats des Reichsregiments zu Nürnberg an weltliche und geistliche Fürsten vom 20. Januar 1522, die Neuerungen in den Kirchen bei Strafe zu verbieten und Sorge für die Einhaltung der kirchlichen Vorschriften und Gebräuche zu tragen,24 ordnete Bischof Johann VII. von Meißen Visitationen in Torgau, Lochau, Herzberg, Schmiedeberg und Colditz an.25 Nach anfänglichem Zögern stimmte Kurfürst Friedrich III. der Bitte zu, den Amtmann Hans von Minckwitz der Visitation als Begleitung beizugeben.26Minckwitz hatte die Aufgabe, den Kurfürsten über den Ablauf der Visitation, die Verhöre und antireformerischen Predigten zu unterrichten. Die Visitationen begannen am 2. April in Herzberg und wurden am 4. in Lochau, am 5. in Torgau und am 6. April in Schmiedeberg jeweils mit Verhören der ansässigen Pfarrer bzw. Prediger fortgeführt. Am 11. April endete die Visitationsreise in Döbeln.27 Aus Minckwitz' Berichten ist bekannt, dass Dungersheim ein prominentes Mitglied der großen bischöflichen Delegation war, der Verhöre führte und Predigten gegen die Reformen hielt. Schon am 4. April wurde der erste Bericht über die Visitation in Herzberg und die beiden dort am 2. und 3. des Monats abgehaltenen Predigten an den Kurfürsten gesandt.28 Die Predigten enthalten Aussagen, die die konfiszierte Schrift Karlstadts zentral referiert und widerlegt. So erklärt Dungersheim die Messe zum Opfer und postuliert gegen die Reformer eine Einheit der Kirche, die von den Prälaten unter Führung von Papst und Bischöfen als Hirten, die ihre Schafe hüten, geführt werde. Die Austeilung der Kommunion in beiderlei Gestalt lehnt er ab und beruft sich auf eine angebliche Priesterweihe der Apostel durch Christus.29 Dieses Thema wiederholte er in den Disputationsverhören des Torgauer Predigers Valentin Tham am 4. April und des Lochauer Pfarrers Franz Günther (dem sogenannten Bischof von Lochau) am 5. April.30 Dementsprechend muss Karlstadt innerhalb kurzer Zeit, zwischen dem 5. und 20. April 1522, die polemische Stoßrichtung gegen Dungersheim eingearbeitet haben. Die Schärfe der Schrift mag sich zusätzlich aus der Tatsache gespeist haben, dass mit Franz Günther (am 5. April in Lochau) und Nikasius Claji (am 6. April in Schmiedeberg) enge Bekannte und Schüler Karlstadts auf Grund der Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt zu den von der Visitation inkriminierten Prälaten gehörten. Karlstadt wiederum galt an der Universität Leipzig und am Hof in Dresden als die führende Gestalt der antirömischen Reform der Messe nach apostolischem Ritus in Wittenberg, dessen Einfluss es auszuschalten gelte.31
Ausweislich des überlieferten Dokuments der Zensurkommission war das Werk in zwei große Abschnitte unterteilt. Sein Ausgangspunkt waren die Definition der Messe bzw. der Wortgebrauch. Karlstadt spricht sich gegen die Verwendung des Begriffs »Messe« aus, stattdessen sei auf den paulinischen Terminus der cena dominica zurückzugreifen, dem er die deutsche Übersetzung »herlich« beifügt.32 Diese Messe sei daher auch nicht als Opfer zu bezeichnen, wie Dungersheim es in Herzberg getan habe.33 Das Abendmahl sei in beiderlei Gestalt abzuhalten. Dungersheims Verbot, dass Laien den Kelch in die Hand nehmen dürften, sei nichts als Tyrannei.34 Das biblische »accipite« rufe dazu auf, das Sakrament in die Hände zu nehmen, und nicht nur, wie einige meinten, in den Mund.35 Das Kirchenvolk habe den biblischen Anweisungen und den Zeichen der Verheißung zu folgen, diese bestünden in der Kommunion in beiderlei Gestalt.36 Höre es aber auf die falschen Prediger, laufe es Gefahr, von Gott bestraft zu werden, da es nicht seinen Instruktionen gehorche.37
Der zentrale Teil des geplanten und nicht ausgeführten Werkes kreiste um die biblisch nachgewiesene Ausrichtung des Gottesdienstes, den Ausschluss der Beichte aus dem Vorgang der Kommunion und einige die gottesdienstliche Ordnung berührende Anweisungen. Der Priester habe sich beim Sprechen der Einsetzungsworte dem Volk zuzuwenden, sie seien verständlich im Sinne des Wortes zu sprechen, sodass das Kirchenvolk die Anweisungen erfassen und verstehen kann – ein Plädoyer für die Verwendung der Volkssprache, wie sie Karlstadt bei seiner Weihnachtsmesse angewandt hatte.38 Es seien nur die Einsetzungsworte (verba consecrationis) zu sprechen bzw. zu singen, weiterer Gesang sei dagegen nicht erlaubt, selbst ein »Gloria« und auf dem Evangelium beruhendes Missale behinderten den Glauben an die Einsetzungsworte. Diese Anweisungen stehen ebenso wie die Forderung nach Abschaffung der Altarbilder – sie seien nichts als Sünde gegen das Erste Gebot – und die Ablehnung der Elevation der Hostie im engen inhaltlichen Zusammenhang mit der Wittenberger Stadtordnung vom Januar 1522, präzisieren und übertreffen sie jedoch noch.39 Die Tatsache, dass kein unmittelbarer Bezug zu den Herzberger Predigten Dungersheims erkennbar ist, stützt die These, dass dieser Hauptteil bereits Ende 1521/Anfang 1522 verfasst und eventuell im April 1522 nur geschärft wurde.
Die Beichte vor der Kommunion solle abgeschafft werden,40 nicht nur, weil sie keine Verheißung sei und damit nicht zum Sakrament gehöre, sondern weil nur dieses dem Gläubigen das göttliche Heil darbiete, die Erlösung versprechende Beichte aber nicht. Ein Mensch und Beichtvater könne keine Erlösung schenken und die Sünden erlassen, sondern nur Gott, somit sei letztlich der Teufel der Beichtvater.41 Rein vor das Abendmahl zu treten, wie es die Beichte verheiße, sei dem sündigen Menschen nicht möglich. Auch Luther hatte dies mehrfach bestritten und hielt das Beichtinstitut für obsolet,42Melanchthon entsakramentalisierte die Beichte und ließ sie zur bloßen Vorbereitung des Abendmahls herabsinken.43 Doch sprachen sich beide nicht mit Dringlichkeit für ihre unmittelbare Abschaffung aus. Karlstadts Verbindung der Beichte mit dem Teuflischen ist singulär.
Der letzte Teil der Schrift ist eine direkte Auseinandersetzung mit den Herzberger Predigten Dungersheims und dessen Verhör des Lochauer Predigers Franz Günther. Karlstadt plädiert gegen Dungersheim für den manuellen (und oralen) Empfang des Sakraments durch die Gläubigen und bestreitet, dass der Gedächtnisakt (commemoratio) als Weihung der Apostel zu Priestern zu verstehen sei und die Jünger erst danach den Kelch empfangen durften.44
Beilage 2 enthält die auf den 30. April 1522 datierte Antwort von Kurfürst Friedrich III. auf die Mitteilung der Universität, dass sie die Anwendung der Pressezensur gegen Karlstadt beschlossen habe. Die Edition Barges basiert auf dem in Weimar aufbewahrten Konzept.45 Ihm war die Ausfertigung in Magdeburg noch unbekannt. Der Kurfürst bestätigt den Eingang der Zensurmeldung, des Druckverbots, des Karlstadt angedrohten Universitätsausschlusses und der mitgeschickten Auszüge aus Karlstadts Schrift. Er ist jeder Vermeidung von Aufruhr zugetan, Zensur und Druckverbot seien aber Sache der Universität. Der Kurfürst verweist darauf, dass Karlstadt Mitglied der Universität sei und bleibe. Diese habe ihn daher auch nach dem Zensurgebot mit Gebühr und in Nächstenliebe zu behandeln, auch um einer Beschwerde seinerseits zu entgehen.
Karlstadts zensierte und konfiszierte Schrift zur Reform der Messe bildete die bis dahin prononcierteste Ausformulierung seiner Ideen zur Gestaltung des Gottesdienstes nach biblischem Vorbild. Einerseits wollte er mit seiner Schrift genaue Anweisungen und eine biblisch-theologische Begründung liefern, mit welchen Handlungen, Worten und Gesängen die Austeilung des Sakraments zu erfolgen habe. Zugleich fixierte der Text seine seit der Predigt zum Christtag 1521 ausgeübte Gottesdienstpraxis schriftlich. Letztlich bildete sie einen von Karlstadt postulierten gemeinsamen Lehrstand der Wittenberger ab, der in der Stadtordnung vom Januar 1522 Ausdruck fand.46 Das Fundament liegt in Karlstadts Lehre von der biblisch zwingend begründeten Zuordnung der beiden sakramentalen Zeichen Kelch und Brot zu den göttlichen Verheißungen der Erlassung von Sünden und der Zusage ewigen Lebens. Jede Abweichung von dieser Vorgabe wird zur Sünde. Mit diesem als apostolisch verstandenen Theologietypus verbinden sich die Abschaffung der Bilder, die als idolatrischer Verstoß gegen das Erste Gebot aufgefasst werden, und der Elevation der Hostie als Fehlinterpretation des biblischen Aufrufs »accipite«. Die Beichte vor dem Empfang des Abendmahls sei abzulehnen, da nach Karlstadts Bußlehre der Mensch als Empfänger des Sakraments sündig bleibe und als Spender der Beichte keinen Sündenablass erteilen könne. Auch wenn viele Argumente und Forderungen einen gemeinsamen Entwicklungsprozess und Ausgangspunkt in der Wittenberger Diskussionsgemeinschaft hatten und sich an Arbeiten Luthers anschlossen, überschreitet Karlstadts Theologie in ihrer Unbedingtheit und spezifischen Zuordnung der beiden Heilszusagen jene Luthers und Melanchthons.
Die Forderungen nach deutschen Einsetzungsworten, dem Abendmahl in beiderlei Gestalt, dem Abstellen des Gesangs und der Erlaubnis für Laien, das Sakrament bei der Kommunion selbst in die Hand zu nehmen, entsprachen der Praxis des Gottesdienstes unter dem Prediger Karlstadt, der sie als Ausübung im Sinne Luthers verstand. Der griff sie jedoch nach Rückkehr von der Wartburg im März 1522 in seinen Invocavitpredigten an. Im April veröffentlichte Luther die Schrift Von beider Gestalt das Sakrament zu nehmen47, mit der er zwar die Anliegen der Reform nicht verwarf, die Kommunion sub utraque als bibelgerecht bezeichnete und die Ordnung des Gottesdienstes freistellte und somit dem Vorwurf der Ketzerei enthob.48 Faktisch jedoch kehrte der Gottesdienst in Wittenberg, abgesehen von der Suspendierung seines Opfercharakters in der römischen Liturgie, wieder zur alten Form mit Messgewand wie lateinischem Wort und Gesang zurück; selbst die Austeilung des Abendmahls in einer Gestalt wurde reinstalliert.49 Die Begründung suchte Luther einerseits in der Schonung der Schwachen, die nicht zur Eile rate, sowie darin, dass die Liebe Christi weit über der Ausgestaltung des Abendmahls stünde.50 Daher kann sich hinter Karlstadts Angriff auf Dungersheim eine Anklage gegen die Wiedereinsetzung der alten Ordnung in Wittenberg durch Luther verbergen. Karlstadt mag in dieser Reaktion einen neuen Papismus gesehen haben; Luther wurde für ihn zu einem Angreifer auf die eigene, gemeinsam entwickelte Reformation. Indem er den Kampf gegen den äußeren, papistischen Feind Dungersheim schlug, scheint er die Absicht gehabt haben, den Universitätskollegen Luther an den gemeinsamen Kampf zu erinnern.
Dennoch steht zu vermuten, dass die nur in Auszügen überlieferte, konfiszierte Schrift nicht das letzte Werk Karlstadts war, das im Jahr 1522 in Wittenberg publiziert wurde, sondern dass die Bitte an Ochsenfart (KGK 229) als ihre reduzierte und abgemilderte Bearbeitung anzusehen ist, die vermutlich im Mai 1522 von Nickel Schirlentz gedruckt wurde.51 Diese These beruht auf dem Befund einer Reihe von Gemeinsamkeiten beider Schriften: Sie bedienen die gleiche Thematik (Verteidigung der Wittenberger Messreformen, Abwehr der Kritik Dungersheims an der Wittenberger Theologie), benutzen eine ähnliche, adversive Ansprache Dungersheims und beziehen sich auf überlieferte Aussagen Dungersheims in dessen Herzberger Predigten. Der Bitte an Ochsenfart könnte somit zusätzlich eine apologetische Funktion zugekommen sein, um die Wittenberger Theologie nach den Invocavitpredigten nach außen hin geschlossener darzustellen, als sie es tatsächlich war.