Nr. 217
Hugold von Einsiedel an Andreas Karlstadt
Eilenburg, 1522, 3. Februar

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Handschriften:

[a:]LATh-HStA Weimar, Reg. O, Nr. 225, fol. 117r–v (gestempelte Blattnummerierung, alte hsl. Nummerierung: »116«

Schreiberhand.

[b:]LATh-HStA Weimar, Reg. O, Nr. 225, Bl. 119r–v(gestempelte Blattnummerierung, alte hsl. Nummerierung: »116«

Abschrift des ersten Briefentwurfs Hugold von Einsiedels von demselben Schreiber wie a, von Einsiedel an zwei Stellen eigenhändig korrigiert. Bei dem Schreiber handelt es sich augenscheinlich um einen Sekretär Einsiedels.1

Editionen:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Nachdem der Wittenberger Bürgermeister und kurfürstliche Rat Christian Beyer den ebenfalls kurfürstlichen Rat Hugold von Einsiedel am 25. Januar 1522 über die neue Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung (Beilage zu KGK 219) informiert hatte,2 leitete dieser das Schreiben am 2. Februar an Kurfürst Friedrich III. weiter, nachdem er Beyer am Tag zuvor in Eilenburg empfangen hatte.3 Doch wurde in diesem Gespräch augenscheinlich nicht die Stadtordnung zum Stein des Anstoßes, sondern die Predigten des Augustiners Gabriel Zwilling und Karlstadts.4 Deren aufrührerische Predigten müssten ein Ende finden, da sie die Gemeinde zu Reformen drängten, die auch gegen die Absicht der Obrigkeit durchzuführen seien.5 Über den Inhalt der Predigten Karlstadts in dieser Zeit ist wenig bekannt. Doch angesichts dessen, dass der alte Wittenberger Stadtrat im Verein mit der Universität die Stadtordnung beschlossen hatte, die eine obrigkeitlich gesteuerte Entfernung der Bilder aus den Kirchen, ein Ende der Bettelei und eine städtische Armenfürsorge vorsah,6 erscheinen die Vorwürfe eher wie eine Strategie des Hofes, gemeinsam mit dem neuen Rat die Kontrolle über die Gemeinde zurückzugewinnen. Beyer sagte zu, dass sich der (am 9. Februar konstituierende, neu gewählte) Wittenberger Rat der Frage der Predigten annähme.

Einsiedel selbst schrieb den vorliegenden Brief an Karlstadt und bat ihn – seiner Rangstellung als Archidiakon am Wittenberger Allerheiligenstift gemäß – freundlich, doch unmissverständlich, seine die Gemeinde aufrührenden Predigten, zu denen er zudem von Amts wegen nicht befugt sei, zu unterlassen. Sie seien dem gemeinen Mann unverständlich und ein Ärgernis. Karlstadt solle nicht die Mehrung seines Ruhmes, sondern das Heil der Gemeindemitglieder und die Frucht des Gotteswortes suchen.7Gleichzeitig wandte sich Einsiedel an Melanchthon, der sich diesbezüglich Gabriel Zwillings annehmen sollte.8 Die Intervention war höchstwahrscheinlich durch die – heute verschollenen – Supplikationen der Stiftsherren und des Stiftskustos Johannes Dölsch9 initiiert, die sich wegen der Auseinandersetzungen über die Messe an den Kurfürsten gewandt hatten.10

Die neue Lage in Wittenberg aus dem Blickwinkel eines Reformgegners dokumentiert der Brief des Johannes Dölsch an Peter Burckard vom 3. Februar 1521.11 Er sieht die Stadt in einer Situation des Aufruhrs. Die Bilder seien aus Kirchen und Klöstern entfernt, Altäre zerbrochen.12 Das Abendmahl werde sub utraque von Laien ausgeteilt, Sondermessen seien abgeschafft, die Messe werde, der Zeremonie entkleidet, auf Deutsch verlesen.13 Es gebe keine Heiligenfürbitten und keine Heiligenfeiertage mehr, nur noch der Sonntag werde geehrt. Die Beichte vor der Austeilung des Sakraments sei abgeschafft, da das Sakrament zur Ablösung der Sünden genüge. Daher seien auch Kerzen, Weihwasser und dergleichen verschwunden.14 Mit der Abschaffung der Tonsur und der Mönchskleidung würden nun alle Gelübde gebrochen; die Mönche gingen frei in den Klöstern ein und aus.15Ebenso seien die Bruderschaften zerstört; Testamente und letzte Willen würden nicht mehr eingehalten.16 Im Sterbefall verfalle die Pfründe eines Priesters.17Dölsch könne dem nicht zustimmen, würde daher angefeindet und wolle Wittenberg verlassen. – Das Abhalten der Messe und die Austeilung des Sakraments nach reformierter Ordnung war Anfang Februar 1522 in Wittenberg bereits Realität. Andere von Dölsch festgehaltene Verhältnisse wie die Aufhebung der Bruderschaften und die Übernahme ihrer Einnahmen sowie von Pfründen in den Gemeinen Kasten der Stadtkasse waren erst in der Stadtordnung vom 24. Januar beschlossen worden; ihr Umbau stand somit erst am Anfang.18 Auch die Abschaffung der Bilder und Statuen aus den Kirchen war erst in der Stadtordnung beschlossen worden; in deren Folge war es am 6. Februar 1522 zu einer ungeordneten Zerstörung von Bildern in der Stadtkirche Wittenberg gekommen, deren Ausmaß nicht genau bestimmt werden kann, sodass die von Dölsch beklagte Zerstörung von Bildern und Altären mit Vorsicht zu registrieren ist.19

Karlstadt antwortete Einsiedel bereits einen Tag später, am 4. Februar, mit einem Verteidigungsschreiben.20Melanchthon berichtete Einsiedel am 5. Februar 1522, er habe Karlstadt und Zwilling vergeblich zur Mäßigung aufgerufen.21 Hinsichtlich Fragen des Seelenheils hob er allerdings weiterhin auf die Verabschiedung der Stadtordnung als Beitrag zur Befriedung der Verhältnisse ab und erhoffte eine Rückkehr zur gottgewollten Ordnung. Somit zeigte sich Melanchthon mit den Messreformen einverstanden. In einem beigelegten Zettel22 erläuterte er Einsiedel die Notwendigkeit der Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt und seine Gegnerschaft zum Opferbegriff, erklärte jedoch ebenso, dass die Zeremonien frei seien, es also keiner weiteren Festlegungen bedürfe. Abbilder seien Idole und gemäß dem Apostel Paulus somit bedeutungslos. Melanchthon verdamme sie zwar, doch könnten sie beibehalten werden; würden sie aber vom Kirchenvolk verehrt, sei es besser, sie zu beseitigen. Daher unterstützt Melanchthon die betreffenden Artikel der neuen Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung.


1Er verfasste im Januar und Februar 1522 eine Reihe weiterer Schreiben für Einsiedel; vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 178 Nr. 81.
2Vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 174 f. Nr. 75. Zu dem gesamten Sachverhalt zuletzt Krentz, Ritualwandel, 197–200. Der am 24. oder 25. Januar neugewählte Rat trat sein Amt am 9. Februar an; vgl. Bubenheimer, Aufruhr, 176–178.
3Zur Weiterleitung an den Kurfürsten vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 177 Nr. 80; zum Aufenthalt der kfstl. Räte in Eilenburg zwischen 1. Mai 1521 und 1. Mai 1522 vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 125 Anm. 2; zum Empfang Beyers in Eilenburg vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 175 Nr. 76 u. 77. Allerdings wird dort ein weiteres Treffen am 8. Februar postuliert. Die Datierung des Berichts lautet: »[…] Sonnabent nach Agetis […].« (Müller, Wittenberger Bewegung, 186 Nr. 89). Auf Grund ihrer Fehlerhaftigkeit ist die Lesung mit einem »sic« versehen. Der Sonnabend nach dem »dies Agnetis« (= 21. Januar) wäre der 25. Januar; der Sonnabend nach dem »dies Agathae« (= 5. Februar) wiederum der von Müller angenommene 8. Februar. Doch es liegt ein Fehler vor. Der 28. Januar war der Tag des zweiten Gedenkens an die Heilige Agnes (»dies Agnetis secundus«). Daher ist der von Müller auf den 8. Februar datierte Bericht nichts anderes als der verschollen geglaubte Bericht von dem Treffen am 1. Februar. Hinweise auf die falsche Datierung bei Müller verdanke ich Timo Janssen (Göttingen). Beide Räte stimmten sich an diesem Tag für die am 13. Februar stattfindenden Eilenburger Verhandlungen mit Vertretern der Universität und des Stiftskapitels ab. Zu diesen Verhandlungen s. die Einleitungen zu KGK 221; KGK 222 und KGK 223.
4Vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 175 f. Nr. 76 u. 77; 186 Nr. 89.
5Der Bericht über das Treffen Einsiedels mit Beyer am 1. Februar bekundet Empörung über die Predigten und fordert, Karlstadt und Zwilling vom Predigtamt fernzuhalten: »Dieweill sich doctor karlstat unnd Magister Gabriel zu predigenn unerfordert eyndryngen Vnnd zu weyllen den gemeyn Man durch ir laerr zu yrer selbst herschung bewegen, Inn dem das sye sagenn, das dye gemein woll macht habe, in Nachlessigkeyt der oberkeyt auß einem mitleyden unnd liebe ichtes furzunemen, Unnd uber das etzlich neuerunge predigenn, dadurch vill, dye im glauben nicht befestigt, geergert, ist fur gut angesehen, das der Rath vor sich selbst mit dem Capitell handell uff dye meynung, Als sind sye […] vorpflicht unnd schuldig, allenthalben aufsehenn zuhabenn, domit ir schefflein nicht ungeweydet pleybenn […] Darumb wollen sye allein von denn, so vonn yne darzu geordent, unnd andere prediger nicht zulassenn.« (Müller, Wittenberger Bewegung, 186 Nr. 89). Im Schreiben Einsiedels an Kfst. Friedrich III. vom 14. Februar 1522 ist drei Mal vom aufrührerischen Charakter der Predigten Karlstadts und Zwillings die Rede; vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 203–205 Nr. 97. Im Falle Karlstadts wird sich der Ärger am Hof in erster Linie auf die Christtagspredigt vom 25.12.1521 gerichtet haben, die die kfstl. Instruktion vom 19.12.1521, keine Änderung am Brauch der Messe vorzunehmen, verletzte (KGK IV, Nr. 210, S. 725 f. u. Nr. 207, S. 685 f.; vgl. auch Barge, Karlstadt 1, 358–362; Kaufmann, Abendmahl, 199–203). Zwilling hielt seine letzten Predigten in der Augustinerklosterkirche, in denen er die Abschaffung der Messe und Aufhebung der Klöster gefordert hatte, im November 1521 (Berichte des Klosterpriors Konrad Helt vom 30. Oktober und 12. November sowie des Stiftsdekans Lorenz Schlamau vom 4. November; vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 55–57 Nr. 23; 58–66 Nr. 25; 67–69 Nr. 28). Am 30. November legte er die Mönchskutte ab, hielt eine Abschiedspredigt und verließ Wittenberg (Brief von Felix Ulscenius an Wolfgang Capito vom selben Tag; vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 71–73 Nr. 31). Deshalb hatte Beyer am 25. Januar 1522 Einsiedel mitgeteilt: »Mit Gabriel ist dye sach gantz gestilt.« (Müller, Wittenberger Bewegung, 174 Nr. 75). Wohin sich Zwilling wandte, ist unklar. Weihnachten 1521 war er in Eilenburg (Müller, Wittenberger Bewegung, 72 Anm. 1), Anfang Februar 1522 versuchte Melanchthon, ihn nach Nürnberg zu vermitteln (s. u. KGK 217 (Anmerkung)).
6Vgl. die Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung; KGK 219 (Textstelle); KGK 219 (Textstelle); KGK 219 (Textstelle).
7Zu den von Einsiedel eingesetzten Argumenten und Metaphern, die im Kampf gegen Karlstadt später auch von Luther verwendet wurden, vgl. Krentz, Ritualwandel, 198 f.
8LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. O, Nr. 225, fol. 118r–v; abgedruckt bei Müller, Wittenberger Bewegung, 178–180 Nr. 82.
9Dölsch war nicht nur Kustos am Allerheiligenstift, sondern im Wintersemester 1521/22 auch Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg; vgl. Bünger/Wentz, Brandenburg, 132; Liber Decanorum, 26. Laut Oehmig, Wittenberger Bewegung, 107 war Dölsch auch Prior des Franziskanerklosters in Wittenberg, doch läßt sich diese Aussage in den Quellen nicht belegen.
10Vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 176 Nr. 78; Krentz, Ritualwandel, 199. Dölsch hatte bereits ein Gutachten zum Kollektivschreiben der Universität vom 7. bzw. 12. Dezember 1521 verfasst; vgl. KGK IV, Nr. 207, S. 685.
11Eine Abschrift des lateinischen Briefes in: BSB München, Cod. germ. 1585, fol. 277v (aus Tegernsee). Eine deutsche Übersetzung (vermutlich von Johannes Eck) liegt im Druck vor: Widerrueff Jacob brobsts, fol. a3r–a4r. Beides ediert in: Schottenloher, Berichte, 89–91.
12Zur Forderung nach Entfernung der Kirchenbilder und Altäre in der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung vom 24. Januar 1522 vgl. KGK 219 (Textstelle); zu bilderstürmerischen Ereignissen in Wittenberg s. u. KGK 217 (Anmerkung).
13Zu den in der Stadtordnung festgehaltenen Änderungen an der Gottesdienstordnung vgl. KGK 219 (Textstelle). Dagegen waren 1520 im Allerheiligenstift 8994 Messen abgehalten worden; vgl. Bünger/Wentz, Brandenburg, 103.
14Für das Jahr 1517 ist eine Anzahl von insgesamt 40932 gestifteten Kerzen im Allerheiligenstift überliefert; vgl. Bünger/Wentz, Brandenburg, 103 f.
15Am 2. Februar 1522 unterrichtete EinsiedelKurfürst Friedrich III., dass sich laut Bericht von Christian Beyer im Augustinerkloster in Wittenberg nur noch 5 oder 6 Mönche aufhielten; vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 177 Nr. 80.
16Zur Abschaffung der Bruderschaften vgl. die Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung (KGK 219 (Textstelle)). Tatsächlich aber läßt das Inventar der Bruderschaft »Unser Lieben Frauen« an der Stadtpfarrkirche Wittenberg vom 29. April 1522 den Fortbestand ihrer liturgischen Ausstattungen und ihrer Zins-, Schuld- und Kaufbriefe erkennen; vgl. Gornig, Rechnungen, 268 f.
18S. o. KGK 217 (Anmerkung) u. KGK 217 (Anmerkung). Vgl. auch die Einleitung zu KGK 219 zur Beutelordnung.
19Zur Anordnung der Bilderentfernung in der neuen Stadtordnung s. o. KGK 217 (Anmerkung). Entgegen diesem geplanten Vorgang ereignete sich eine erste Zerstörung von Altarbildern des Franziskanerklosters durch Studenten bereits am 4. Dezember 1521; s. Müller, Wittenberger Bewegung, 152 f. Nr. 68; Bünger/Wentz, Brandenburg, 382; Gess, Akten und Briefe 1, 236 f. Nr. 276. Eine konzertierte Aktion der Statuen- und Bilderentfernung mit anschließender Verbrennung gab es am 10. Januar 1522 im Augustinerkloster durch einige der Mönche selbst, vgl. den Bericht des Zwickauer Stadtschreibers Fabian Pfau, ediert in Böhmer, Aus alten Handschriften, 405–408. Bilderstürmerische Geschehnisse in der Pfarrkirche ereigneten sich am 6. Februar 1522, vermutlich jedoch in weit geringerem Umfang als in der bisherigen Forschung angenommen. Zur Quelle vgl. KGK 221 (Textstelle) (s. auch KGK 221 (Anmerkung)); vorher Müller, Wittenberger Bewegung, 195 Nr. 93. Vgl. dazu Bünger/Wentz, Brandenburg, 135; Bubenheimer, Scandalum, 270–277; Schnitzler, Ikonoklasmus, 239; Schnitzler, Wittenberg, 73; Oehmig, Wittenberger Bewegung, 122 f.; den gewalttätigen und zerstörerischen Charakter stark einschränkend Krentz, Ritualwandel, 200–205. Gornig, Rechnungen, 264 und Hennen, Ausstattung, 401–403 können weder in den Inventaren der Bruderschaften noch in anderen Quellen Hinweise auf die Zerstörung oder die Verminderung von liturgischen Gegenständen und Bildern erkennen. Jüngst hat Kaufmann, Junker Jörg, 54–57 Anm. 12–14 Quellen und Literatur umfassend ausgewertet.
21Vgl. CR 1, 546 = 1, 443 f. Nr. 209 = MWA 7/1, 163–165 Nr. 67 (LATh-HStA Weimar, Reg. O, Nr. 225, fol. 104r–v). In vollkommenem Gegensatz hierzu steht Melanchthons Brief an Hector Pömer in Nürnberg vom 1. Februar 1522, der Zwilling hoch lobt und als Prediger empfiehlt – wobei es sich auch um eine Form des »Weglobens« gehandelt haben könnte ( 1, 441, 3–8 Nr. 207 = CR 1, 542 Nr. 188).
22LATh-HStA Weimar, EGA, Reg. O, Nr. 225, fol. 101r–v (alt: 102r–v). Ediert in: Müller, Wittenberger Bewegung, 183 Nr. 85.

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