1. Überlieferung
Handschriften:
Schreiberhand.
Abschrift des ersten Briefentwurfs Hugold von Einsiedels von demselben Schreiber wie a, von Einsiedel an zwei Stellen eigenhändig korrigiert. Bei dem Schreiber handelt es sich augenscheinlich um einen Sekretär Einsiedels.1
Editionen:
- CR 1, 544 Nr. 190.
- Müller, Wittenberger Bewegung, 177 f. Nr. 81.
Literatur:
- Barge, Karlstadt 1, 406 f. mit Anm. 203 f.
- Bubenheimer, Aufruhr, 178–182 mit Anm. 180.
- Oehmig, Wittenberger Bewegung, 108–111; 120–124.
- Wetzel, Melanchthon und Karlstadt, 175–180.
2. Entstehung und Inhalt
Nachdem der Wittenberger Bürgermeister und kurfürstliche Rat Christian Beyer den ebenfalls kurfürstlichen Rat Hugold von Einsiedel am 25. Januar 1522 über die neue Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung (Beilage zu KGK 219) informiert hatte,2 leitete dieser das Schreiben am 2. Februar an Kurfürst Friedrich III. weiter, nachdem er Beyer am Tag zuvor in Eilenburg empfangen hatte.3 Doch wurde in diesem Gespräch augenscheinlich nicht die Stadtordnung zum Stein des Anstoßes, sondern die Predigten des Augustiners Gabriel Zwilling und Karlstadts.4 Deren aufrührerische Predigten müssten ein Ende finden, da sie die Gemeinde zu Reformen drängten, die auch gegen die Absicht der Obrigkeit durchzuführen seien.5 Über den Inhalt der Predigten Karlstadts in dieser Zeit ist wenig bekannt. Doch angesichts dessen, dass der alte Wittenberger Stadtrat im Verein mit der Universität die Stadtordnung beschlossen hatte, die eine obrigkeitlich gesteuerte Entfernung der Bilder aus den Kirchen, ein Ende der Bettelei und eine städtische Armenfürsorge vorsah,6 erscheinen die Vorwürfe eher wie eine Strategie des Hofes, gemeinsam mit dem neuen Rat die Kontrolle über die Gemeinde zurückzugewinnen. Beyer sagte zu, dass sich der (am 9. Februar konstituierende, neu gewählte) Wittenberger Rat der Frage der Predigten annähme.
Einsiedel selbst schrieb den vorliegenden Brief an Karlstadt und bat ihn – seiner Rangstellung als Archidiakon am Wittenberger Allerheiligenstift gemäß – freundlich, doch unmissverständlich, seine die Gemeinde aufrührenden Predigten, zu denen er zudem von Amts wegen nicht befugt sei, zu unterlassen. Sie seien dem gemeinen Mann unverständlich und ein Ärgernis. Karlstadt solle nicht die Mehrung seines Ruhmes, sondern das Heil der Gemeindemitglieder und die Frucht des Gotteswortes suchen.7Gleichzeitig wandte sich Einsiedel an Melanchthon, der sich diesbezüglich Gabriel Zwillings annehmen sollte.8 Die Intervention war höchstwahrscheinlich durch die – heute verschollenen – Supplikationen der Stiftsherren und des Stiftskustos Johannes Dölsch9 initiiert, die sich wegen der Auseinandersetzungen über die Messe an den Kurfürsten gewandt hatten.10
Die neue Lage in Wittenberg aus dem Blickwinkel eines Reformgegners dokumentiert der Brief des Johannes Dölsch an Peter Burckard vom 3. Februar 1521.11 Er sieht die Stadt in einer Situation des Aufruhrs. Die Bilder seien aus Kirchen und Klöstern entfernt, Altäre zerbrochen.12 Das Abendmahl werde sub utraque von Laien ausgeteilt, Sondermessen seien abgeschafft, die Messe werde, der Zeremonie entkleidet, auf Deutsch verlesen.13 Es gebe keine Heiligenfürbitten und keine Heiligenfeiertage mehr, nur noch der Sonntag werde geehrt. Die Beichte vor der Austeilung des Sakraments sei abgeschafft, da das Sakrament zur Ablösung der Sünden genüge. Daher seien auch Kerzen, Weihwasser und dergleichen verschwunden.14 Mit der Abschaffung der Tonsur und der Mönchskleidung würden nun alle Gelübde gebrochen; die Mönche gingen frei in den Klöstern ein und aus.15Ebenso seien die Bruderschaften zerstört; Testamente und letzte Willen würden nicht mehr eingehalten.16 Im Sterbefall verfalle die Pfründe eines Priesters.17Dölsch könne dem nicht zustimmen, würde daher angefeindet und wolle Wittenberg verlassen. – Das Abhalten der Messe und die Austeilung des Sakraments nach reformierter Ordnung war Anfang Februar 1522 in Wittenberg bereits Realität. Andere von Dölsch festgehaltene Verhältnisse wie die Aufhebung der Bruderschaften und die Übernahme ihrer Einnahmen sowie von Pfründen in den Gemeinen Kasten der Stadtkasse waren erst in der Stadtordnung vom 24. Januar beschlossen worden; ihr Umbau stand somit erst am Anfang.18 Auch die Abschaffung der Bilder und Statuen aus den Kirchen war erst in der Stadtordnung beschlossen worden; in deren Folge war es am 6. Februar 1522 zu einer ungeordneten Zerstörung von Bildern in der Stadtkirche Wittenberg gekommen, deren Ausmaß nicht genau bestimmt werden kann, sodass die von Dölsch beklagte Zerstörung von Bildern und Altären mit Vorsicht zu registrieren ist.19
Karlstadt antwortete Einsiedel bereits einen Tag später, am 4. Februar, mit einem Verteidigungsschreiben.20Melanchthon berichtete Einsiedel am 5. Februar 1522, er habe Karlstadt und Zwilling vergeblich zur Mäßigung aufgerufen.21 Hinsichtlich Fragen des Seelenheils hob er allerdings weiterhin auf die Verabschiedung der Stadtordnung als Beitrag zur Befriedung der Verhältnisse ab und erhoffte eine Rückkehr zur gottgewollten Ordnung. Somit zeigte sich Melanchthon mit den Messreformen einverstanden. In einem beigelegten Zettel22 erläuterte er Einsiedel die Notwendigkeit der Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt und seine Gegnerschaft zum Opferbegriff, erklärte jedoch ebenso, dass die Zeremonien frei seien, es also keiner weiteren Festlegungen bedürfe. Abbilder seien Idole und gemäß dem Apostel Paulus somit bedeutungslos. Melanchthon verdamme sie zwar, doch könnten sie beibehalten werden; würden sie aber vom Kirchenvolk verehrt, sei es besser, sie zu beseitigen. Daher unterstützt Melanchthon die betreffenden Artikel der neuen Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung.