1. Überlieferung
Handschrift:
Die hier edierte Predigt Karlstadts ist die vorletzte einer Sammlung von der Hand Stephan Roths, die insgesamt 55 Predigten enthält; die übrigen 54 sind Predigten des Johannes Sylvius Egranus.1 Die massive Verwendung von Abkürzungen und die oft unvollständig formulierten Sätze deuten darauf hin, dass Roth die Predigten beim Mithören stichwortartig festgehalten hat. Die Entzifferung der Handschrift ist daher teilweise sehr schwierig und bleibt an einigen Stellen unsicher. Die Predigten sind in chronologischer Reihenfolge angeordnet; einige von Egranus hat Roth nachträglich für die Veröffentlichung bearbeitet.2 Die Zuschreibung der am 29. September gehaltenen Predigt an Karlstadt und daraus abgeleitet seine Anwesenheit in Joachimsthal wird von Hasse in seiner Edition des Textes mit folgenden Argumenten begründet: Roth habe erstens nur und ausschließlich diese Predigt »sowohl neben der Überschrift als auch im Register als Predigt Karlstadts gekennzeichnet«, als ob es sich um die einzige Ausnahme in einer Sammlung von Predigten von Egranus handele;3 die in der Predigt angesprochenen Themen seien zweitens von Karlstadt auch in seinen späteren Schriften aufgegriffen worden;4 während es – drittens – möglich sei, dass Karlstadt Ende September in Joachimsthal gewesen sei,5 könne aufgrund der Quellenlage ausgeschlossen werden, dass Roth und Egranus in jenen Tagen nach Wittenberg gereist seien.6
Edition:
- Hasse, Karlstadts Predigt, 110–119.
Literatur:
- Hasse, Karlstadts Predigt, 97–119.
2. Entstehung und Inhalt
Die hier edierte Predigt ist eine der wenigen Quellen, die Auskunft über Karlstadts Aktivitäten und theologisches Denken zwischen Ende Mai und November 1522 geben,7 und lässt vermuten, dass er im Spätsommer jenes Jahres nach Joachimsthal gereist ist. Ziel und Zweck dieser Reise sind nach heutigem Kenntnisstand unbekannt. Allerdings sind die freundschaftlichen Beziehungen Karlstadts zu vielen Joachimsthaler Bürgern anhand von Widmungen der zwischen 1521 und 1522 publizierten Schriften gut belegt.8 Diese persönlichen Kontakte waren Teil eines breiten und dynamischen Netzwerks von Kontakten zwischen Wittenberg und den Herrschaften der Grafen Schlick.9 In jenen Jahren wurde die Reformation in den Territorien der Schlicks offiziell durch die von Sebastian Schlick (gest. 1528) erlassene und 1522 im Druck erschienene Evangelische Kirchenordnung für die Stadt Elbogen (Loket) eingeführt.10
In den 18 Artikeln dieser Kirchenordnung lässt sich deutlich die Rezeption des zwischen 1520 und 1522 – auch in den Schriften Karlstadts – entfalteten theologischen Reformprogramms erkennen: Der Verkündigung des Wortes Gottes sei im Gottesdienst absoluter Vorrang zu verleihen, jede menschliche Meinung und Lehre sei dagegen als Irrtum und Lüge abzulehnen; scharfe Kritik sei gegen jene Traditionen (Prozessionen, Verwendung von gesegnetem Wasser und Salz, Privat- oder Totenmessen) zu richten, die die Verkündigung der Heiligen Schrift behindern und die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Gläubigen verschärfen würden; es bestehe die Möglichkeit, die Eucharistie auch sub utraque zu feiern; die Ohrenbeichte vor dem Abendmahlsempfang sei abzuschaffen; Priester hätten auf alle Macht in der Gemeinde zu verzichten und sich zu Dienern Christi zu machen; Kinder seien in der Volkssprache zu taufen, um die Gläubigen aktiv einzubeziehen; jeder sei frei, Vespern, Metten und Kompleten zu halten oder sie auszulassen.11
Es ist nicht auszuschließen, dass Nachrichten über den Erlass oder die Vorbereitung der Kirchenordnung für die Stadt Elbogen auch Wittenberg schnell erreichten und dazu beitrugen, dass Luther im Juli 1522 seine Schrift Contra Henricum regem Angliae dem Elbogener Grafen Sebastian Schlick widmete12 und Karlstadt sich bereits Ende Januar 1522 in der Vorrede zu seiner Schrift Von Abtuung der Bilder an Graf Wolfgang Schlick (gest. 1556) richtete, um ihn aufzufordern, die in Wittenberg eingeleiteten Reformen der Kirche und der Gesellschaft auch in seinen Herrschaftsgebieten einzuführen.13 Da für den Zeitraum von Mai bis November 1522 keine weiteren Nachrichten über Karlstadt vorliegen14 und es keine Hinweise gibt, die in jenen Monaten seine Anwesenheit in Wittenberg belegen, lässt sich nicht ausschließen, dass er im Sommer 1522 eine Reise in die Herrschaftsgebiete der Familie Schlick unternahm, um dort gegebenenfalls die Sache der Reformation zu unterstützen, zumal angesichts der reformatorischen Signale der Kirchenordnung für die Stadt Elbogen. Bei dieser Gelegenheit könnte sich Karlstadt in Joachimsthal, wo er viele Freunde und Bekannte hatte,15 aufgehalten und gepredigt haben.
Die hier edierte Predigt über Mt 18,1–10 wurde am 29. September, dem Michaelistag bzw. auch Engeltag, gehalten und ist eines der wenigen Zeugnisse für die Übergangsphase in Karlstadts Theologie zwischen den Schriften von 1521/1522, in deren Fokus sein Reformprogramm des christlichen Lebens und der Gesellschaft stand, und den diesen nachfolgenden Schriften von 1523/1524, in denen die mystischen Motive deutlicher hervortreten.16 Obwohl Roth nicht die gesamte Predigt, sondern nur einen stichwortartig verkürzten Text mitschrieb und die Predigt zudem in einem schwer zu entziffernden Abkürzungssystem festgehalten hat, lassen sich die Schwerpunkte der Predigt Karlstadts rekonstruieren.
Nach einer kurzen Erklärung einiger lateinischen Begriffe des Predigttextes Mt 18,1–9, geht Karlstadt auf den Kasus des Tages ein, in dem er Mt 18,10 auslegt, wo die Engel Gottes erwähnt sind. Den ihnen gewidmeten unchristlichen, pharisäischen Kult kritisiert Karlstadt scharf. Anhand zahlreicher Bibelstellen verteidigt er auch in diesem Zusammenhang seine bereits im Vorjahr ausführlich entwickelte These: Nur Gott sei zu ehren, seine Geschöpfe dagegen nicht, weshalb Engel – wie auch die Heiligen – sich weigern würden, angebetet zu werden (Offb 22,8 f.; Tob 12,16–18; Ri 13,16–22).17
Die Predigt kommentiert danach den ersten Teil des gewählten Evangeliumstextes. Mit Bezug auf Mt 18,1–5 betont Karlstadt die Überlegenheit der Geringen – d. h. der Kinder bzw. des Senfkorns, abhängig von der jeweils verwendeten Metapher – gegenüber den Mächtigen und Reichen der Erde. Christen sollen die Haltung von Kleinen annehmen, um Zugang zum Himmelreich zu erlangen. Dieser Grundsatz bestätigt die Aufforderung zur Gelassenheit: Sich klein machen (Mt 18,2) bedeutet, wie das Samenkorn zu sterben, um Frucht zu bringen (Joh 12,24), d. h. Christen sollen allen menschlichen Eigenwillen und alles Verlangen abtöten – indem man diese als von der Sünde verdorben erkennt –, um sich der göttlichen Barmherzigkeit in voller Gelassenheit ganz anzuvertrauen. Auch hier erkennt man Themen, die Karlstadt bereits in den Jahren zuvor zur mystischen Beschreibung der Bekehrung und Rechtfertigung des Sünders formuliert und entwickelt hatte.18 Die Kreuzigung, Verzweiflung und Selbstverleugnung als Voraussetzungen für Vertrauen und Zuversicht in die Barmherzigkeit des Vaters beschreiben auch in der hier edierten Predigt die Dynamik jenes Prozesses, durch den Gott mit seiner himmlischen Gewalt in seinen Kindern, d. h. in seinem Reich, herrscht.19
Der darauffolgende Abschnitt trägt den Titel »De voluntate«. Er legt Mt 18,4 f. aus und bekräftigt die zuvor aufgestellte These, die nicht nur Priester, sondern alle Christen verkünden müssten: Wenn man seinem eigenen Willen folge, könne man nicht ins Himmelreich kommen; mache man sich dagegen klein wie ein Kind und helfe Armen und Notleidenden, so werde man ein wahrer Christ. Im Abschnitt »De scandalo« kommentiert KarlstadtMt 18,6–9 und argumentiert, dass falsche Lehre das schlimmste Ärgernis sei. Christus habe deswegen den Seinen ein Schwert gegeben, durch das falsche Lehrer und Heuchler bestraft werden sollen, unabhängig davon, ob sie Verwandte oder Freunde seien.20 Irrende sollen auch durch körperliche Strafen zur Umkehr bewogen, andernfalls aus der Kirche ausgeschlossen werden.
Im letzten Teil löst sich die Predigt von der Kommentierung von Mt 18 und befasst sich allgemeiner mit dem Thema der »Schule Gottes«, zu der jeder, auch der Laie, freien Zugang habe. Vor dem Hintergrund des radikalen Gegensatzes zwischen menschlicher und göttlicher Natur stelle die Lehre Gottes kein menschliches Werk, sondern ein himmlisches Geschenk dar. Deshalb – so Karlstadt – kommt niemand zu Christus, es sei denn, Gott ziehe ihn (Joh 6,44). Alle Christen seien daher »Schüler Gottes«, wie Kinder vom Vater belehrt. In dieser himmlischen Schule schreibe Gott – der Schulmeister – die göttliche Wahrheit und Lehre Christi durch den Heiligen Geist – den Lehrmeister – in die Herzen der Gläubigen (Jer 31,33) ein. Die Laien, die vertrauensvoll diese göttliche Schule besuchen, seien gelehrter als Theologen und Doktoren.21